28.

Wenn man sechzehn war, konnte man noch nicht übermäßig viele Chancen im Leben verpasst haben, doch gerade fühlte sich Damien so, als wären zahllose davon an ihm vorbeigezogen. Die Chance beispielsweise, bereits im Sommer alles mit Nettie zu klären, als er Ferien gehabt hatte, wochenlang, und nicht darauf angewiesen war, all das, was zwischen ihnen beiden schieflief, an einem einzigen Wochenende aufarbeiten zu müssen. Es war Samstagabend, morgen Mittag würde er mit dem Zug zurück nach Truro fahren, wo die Freunde seiner Eltern darauf warteten, ihn mit nach Hause zu nehmen. Vor den Weihnachtsferien würde sich keine Möglichkeit mehr bieten, Nettie zu sehen. Und das … ging gar nicht, beschloss er.

Während er sich tiefer in das kleine Sofa neben dem Kamin sinken ließ, eine Hand im struppigen Fell des alten Sir James vergraben, zog er mit der anderen sein Telefon aus der Hosentasche. Er überlegte. Während er das tat, fiel sein Blick auf den Zweisitzer, der seinem gegenüberstand – diese beiden Schauspieler hatten sich dort hineinfallen lassen, nachdem ein ganzer Pulk von Leuten aus dem Restaurant in die Lobby geströmt war. Heather … Heather Irgendwas und Noah Perry. Damien musterte die beiden verstohlen. Für Schauspieler, dachte er, sahen die zwei ganz schön abgekämpft aus. Insbesondere die Frau wirkte müde und blass, und ihre Augen waren wässrig, so als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Was auch Noah Perry aufgefallen sein musste, denn er griff jetzt nach Heathers Hand und drückte sie. Heather atmete einmal tief ein. Dann ließ sie ihren Kopf an Noahs Schulter sinken, der daraufhin einen Arm um sie legte, und gemeinsam sanken sie noch ein Stück tiefer in die Kissen des Sofas.

»Hier.«

Erschrocken fuhr Damien zusammen.

Nettie drückte ihm ein Glas Cola in die Hand. »Irgendwie wollen gerade alle auf einmal was. Kommst du eine Zeit lang allein zurecht?«

»Klar.« Damien nickte.

Nettie öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas hinzufügen, nickte dann aber ebenfalls und sauste in Richtung Bar davon.

Damien sah ihr nach. Dann schielte er einmal mehr zu dem Paar ihm gegenüber, das sich nun leise und beinahe Wange an Wange miteinander unterhielt. Er selbst war nicht sehr geübt in diesen Dingen, stellte er fest. Und er hatte keine Ahnung, wie er das von heute Abend bis morgen Mittag ändern sollte. Anders, als Nettie womöglich annahm, hatte er kaum mehr Erfahrung als sie. Ja, er hatte schon vorher ein Mädchen geküsst – eines, ein Mal, und das war kein sonderlich tolles Erlebnis gewesen. Dieser Kuss, er war … Er hatte nichts gefühlt dabei, überhaupt nichts, kein bisschen die Aufregung, die jedes Mal durch ihn hindurch fuhr, wenn er seine Lippen auf die von Nettie legte. Sobald sein Mund mit ihrem verschmolz, war es, als würde in seinem Inneren ein Countdown gedrückt, der die Zeit herunterzählte, bis es ihm gelang, Nettie noch näher zu kommen, sie noch enger an sich zu ziehen, in sie hineinzukriechen vor lauter … Verlangen.

Damien räusperte sich. Da saß er, sechzehn Jahre alt, gewitzt und einigermaßen intelligent unter normalen Umständen, wie er selbst befand, und dachte Wörter, die er ganz sicher vorher nie gedacht hatte. Was vermutlich daran lag, dass er im vergangenen Sommer mit Nettie zu viele Schundromane gelesen hatte. Womit er wieder beim Thema war. Damien entsperrte das Smartphone in seiner Hand und rief die Fotos auf, durch die er hindurchscrollte, bis er das eine gefunden hatte, das er suchte. Es war die Aufnahme, die er von Nettie gemacht hatte, in dem Bus nach Penzance, nach dem Kuss und vor dem Streit im Schwimmbad. Sie sah darauf so ernst aus, dass er Schwierigkeiten damit hatte, das Bild mit der Nettie in Verbindung zu bringen, die er schon so lange kannte. Und trotzdem liebte er das Foto. Weil es eine weitere Facette des Mädchens zeigte, das für ihn schlicht und einfach das Mädchen war.

Nettie roch so umwerfend wie niemand sonst, sie fühlte sich unfassbar gut an, ihre Stimme – Damien könnte wunderbar damit leben, würde er in seinem ganzen kommenden Dasein keine andere Stimme mehr zu hören bekommen als ihre. Fest stand, dass Damien lange Zeit dachte, er habe gar kein Interesse an einer festen Freundin – nicht, solange er noch nicht älter als sechzehn war und sich für tausend andere Dinge mehr interessierte. Dabei war er die ganze Zeit schon verliebt gewesen. In Nettie. In seine zauberhafte, fantastische Kinderfreundin Nettie Wilde.

»Hi.«

Mit einem Seufzer ließ sie sich neben ihn fallen. Sir James, von der Bewegung der Sofapolster unter ihm aufgeweckt, stand auf, streckte sich und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen.

Na, das läuft ja großartig, dachte Damien. Er sah Nettie nicht an, als er ein Stück näher an sie heranrückte und den Arm um ihre Schultern legte, so, wie Noah das eben bei Heather Mompeller getan hatte. Er nahm die Hand, die gerade ins Bauchfell des Katers greifen wollte, und verflocht seine Finger damit. Als er Nettie jetzt ansah, stand ihr Mund einen Spaltbreit offen, doch sie musterte ihn nur.

»Hi«, sagte er.

Wegen der schummrigen Beleuchtung konnte sich Nettie nicht sicher sein, doch sie hätte schwören können, dass Damiens Wangen gerötet waren. Auch seine Hände waren heiß. Sehr heiß, aber nicht schwitzig, wie sie ebenfalls feststellte und sogleich in dem ordentlich organisierten Teil ihres Gehirns abspeicherte. Der gar nicht mehr so üppig ausfiel, wie sie zugeben musste. Hier zu sitzen, in Damiens Arm, sein Gesicht so nah, dass sie die Flammen des Kamins ausmachen konnte, die sich in seinen Augen spiegelten … Es stieg ihr zu Kopf, und ein Großteil ihrer Zurechnungsfähigkeit eilte von dannen.

Sie blinzelte dagegen an.

Dann beugte sie sich ein Stück vor und drückte ihre Lippen auf Damiens.

Gott, es war verrückt, hier neben ihm zu sitzen, mitten in der Lobby des Hotels, das ihrer Familie gehörte, umgeben von Menschen, die sie kannten oder zumindest wussten, wer sie war, und mit Damien, ihrem besten Freund, ihrem besten Freund und … Freund-Freund, wie sie annahm, Zärtlichkeiten auszutauschen. Was ihm keinerlei Probleme zu bereiten schien, stellte Nettie fest. Es war ihm nicht peinlich, hier so mit ihr zu sitzen; er sah sich nicht verschämt nach allen Seiten um, und er machte keinerlei Anstalten, sie von sich zu schieben.

Auch diese Information speicherte Nettie ab. Und dann fühlte sie in sich hinein und maß ihr eigenes Wohlbefinden auf einer Skala von eins bis zehn.

Sieben, dachte sie, während sie ihre freie Hand auf Damiens Brust legte. Sie spürte seinen Herzschlag. Er ging schnell, wie ein steter, kontinuierlicher Techno-Beat.

Und ihr Herz, schlug es im Gleichklang?

Eine solide Sieben, dachte sie.