58.

Seit Menschengedenken war es im Wild-at-Heart-Hotel um die Weihnachtszeit nicht so ruhig gewesen wie an diesem Samstag, dem 22. Dezember. Das fiel Theo auf, der den gesamten Morgen über unruhig von einem Raum in den nächsten gelaufen war, um nach dem Rechten zu sehen (was völlig unnötig war, denn wer sollte in den vergangenen Tagen schon etwas durcheinandergebracht haben, das Haus war ja so gut wie leer), und auch Gretchen, die der äußerlichen Entspannung mit innerer Unruhe begegnete. Die vergangenen Wochen waren einfach zu aufregend gewesen. Nicht nur wegen der lauten Minnie Barnes und ihrer Filmcrew, auch wegen Sara, Noah und all dem Drama, das sich um beide entfaltet hatte.

Von ihrem Platz hinter dem Rezeptionstresen aus warf Gretchen ihrer Freundin einen Blick zu. Sara war gerade dabei, die zwei Christbäume im Foyer zu schmücken, so wie sie es in jedem Jahr tat. Und normalerweise konnte man sich auf ihren tadellosen Geschmack verlassen, diesmal allerdings … Diesmal kam es Gretchen vor, als werfe die Gärtnerin die Weihnachtsornamente eher wahllos auf die Äste der Tannenbäume, statt sie sorgfältig zu dekorieren, und dazu machte sie ein Gesicht, als stünde jeden Augenblick ihre Hinrichtung bevor. Bei dem Anblick wurde Gretchens Herz ganz schwer. Sie hatte so viel Glück mit Nicholas, der ihr nicht nur durch die schwierigsten Stunden im Hotel half, sondern darüber hinaus auch ihr bester Freund geworden war (von der Tatsache, dass er zudem ihr Liebhaber war, einmal ganz abgesehen). Sie hatte Glück gehabt. Und sie war dankbar, dass sie den Schritt gewagt hatte, sich auf dieses Glück einzulassen. Es hatte sie einiges an Stärke und Mut gekostet, doch sie hatte ihn niemals bereuen müssen.

Ganz im Gegensatz zu Sara. Ihre Freundin hatte sich auf Noah eingelassen, hatte in der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, Gefühle für ihn entwickelt – so viele davon, dass die Leere, die nach seinem Weggang zurückblieb, sie kopfüber zu verschlingen drohte. Was Gretchen schon seit einigen Tagen beobachten konnte. Seit die Filmcrew mitsamt ihrer Kabel und Lichtballons und Wagen und dem gesamten restlichen Chaos abgereist und von dannen gezogen war. Seither war es besonders ruhig in und um das kleine Hotel geworden. So ruhig, dass Gretchen die Stille als eine nie da gewesene empfand.

Sie atmete einmal tief ein und lief dann hinüber zu dem Baum, den Sara gerade mit finsterer Miene musterte. Sie hatte geschwiegen bisher. Doch wenn sie ihre Freundin nicht allmählich aus dem tiefen Loch zog, in dem sie sich ohne Zweifel befand, wer sollte es dann tun?

»Hey«, rief sie so fröhlich, dass es gerade noch nicht aufgesetzt klang. »Das sieht gut aus. Das sieht aus …« Von der Nähe betrachtet wirkte der Baum noch viel trauriger als von der Ferne. »Ähm, du denkst, schwarze Kugeln sind das richtige für … nun ja, eine festliche Stimmung?«

»Sie sind elegant«, gab Sara tonlos zurück.

»Mmmh«, summte Gretchen. Sie machte sich daran, einige der grün und rot karierten Stoffschleifen, die ihre Freundin um die Äste gebunden hatte, gerade zu rücken sowie einige der Kugeln auseinander- beziehungsweise näher zusammenzuhängen.

»Gefällt dir der Baum nicht?«, fragte Sara schließlich.

»Doch, er ist … interessant, finde ich.«

Sara ließ die Hand sinken, mit der sie gerade eine recht mürrisch aussehende Krähe an den Ästen befestigen wollte, und warf den zerrupften Ziervogel zurück in den Korb mit dem restlichen Schmuck. »Er gefällt dir nicht«, stellte sie fest. »Sag’s doch einfach. Ich mache das hier schließlich nicht zum Spaß. Es sind eure Weihnachtsbäume, und ihr bezahlt mich dafür, dass ich mich darum kümmere. Und wer zahlt, sagt an. Also, wenn dir der Baumschmuck nicht passt …«

»Sara.« Gretchen ließ ebenfalls von dem Baum ab und wandte sich stattdessen ganz ihrer Freundin zu. »Was redest du denn da? Erstens lohnt das Taschengeld, das du für deine Hilfe im Wild at Heart berechnest, kaum der Erwähnung. Zweitens vertraue ich deinem Geschmack sehr wohl.« Trotz ihrer Worte zögerte Gretchen einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Im Augenblick ist er womöglich nur etwas eingefärbt. Mmmh, schwarz, wie es aussieht.« Sie seufzte. »Ach, Sara. Geht es dir auch wirklich gut?«

»Diese Nachfrage kommt eigentlich erst, nachdem du mich überhaupt gefragt hast, wie es mir geht. Hast du aber nicht.«

»Weil ich die Antwort von deinem Gesicht ablesen kann.«

»Na, denn«, sagte Sara.

Gretchen seufzte. »Hast du etwas von ihm gehört?«

»Nicht mehr, seit – warte. Elf Tagen und achtzehneinhalb Stunden etwa.«

Daraufhin schwieg Gretchen. So wie sie die Lage, aus der Nähe betrachtet, einschätzte, war es allein an Sara, das Thema zu vertiefen oder es zu lassen oder einfach nur weiterhin den Baum mit fragwürdigem Schmuck zu quälen.

»Es war die richtige Entscheidung«, sagte Sara denn auch tatsächlich.

Es war das erste Mal seit Noahs Abreise, dass sie Gretchen gegenüber etwas in dieser Art äußerte. Bisher hatte sie lediglich ein todunglückliches Gesicht gemacht, und Gretchen war zu ängstlich gewesen, um sie zu fragen, wie es in ihr drinnen aussah. Jetzt sagte sie: »Bestimmt war es das. Meiner Erfahrung nach sind die Entscheidungen, die wir instinktiv und aus dem Bauch heraus treffen, oftmals die richtigen für uns. Das liegt in der Natur der Sache. Schließt sich eine Tür, öffnete sich eine andere. Du weißt schon.« Sie holte tief Luft. Sie würde ihrer Freundin nicht mitteilen, was sie wirklich empfand: dass sie sich gewünscht hätte, Sara hätte nicht gleich aufgegeben, dass sie gehofft hatte, Noah Perry würde sich ein bisschen mehr ins Zeug legen, um für sie beide einzustehen. Das hatte er ihres Wissens nach nicht getan. Er hatte Sara nicht einmal mehr erwähnt. Der Presse gegenüber wurde lediglich herausgegeben, dass er und Heather Mompeller nun kein Paar mehr seien. Zu den Gründen äußerte sich niemand.

»Ja«, erwiderte Sara, während sie erneut nach dem furchtbaren Vogel griff, um ihn an einem der oberen Zweige zu befestigen. »Frei nach dem Motto: Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«

»Das habe ich nicht gesagt, und so habe ich es auch nicht gemeint.«

»Es stimmt aber doch, oder?«

Erneut schwieg Gretchen. Sie wusste nur zu gut, dass alles, was sie in solchen Augenblicken sagte, Schmerz zufügen konnte, ob beabsichtigt oder nicht. Also griff sie einfach nach der Schachtel mit den bunten Kugeln und fuhr damit fort, den Baum zu schmücken.

Sara seufzte. »Es tut mir leid. Ich bin zurzeit … ich weiß nicht.«

»Es muss dir nicht leidtun. Du hast nichts Schlimmes oder Falsches gesagt.«

»Okay.« Sie nickte. Dann ließ sie den Baum Baum sein, setzte sich auf die Trittleiter, die sie bereitgestellt hatte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es hätte ohnehin nicht funktioniert. Ich meine, wenn die ganze Sache jetzt nicht in der Presse gelandet wäre, dann später, und wer weiß, dann hätte es vermutlich noch viel mehr wehgetan. So … So wird es einige Wochen dauern, aber ich werde darüber hinwegkommen. Ich meine, wir hatten nicht einmal Sex.«

»Hattet ihr nicht?« Gretchen lächelte Sara an.

»Nein«, erwiderte diese gedehnt, »selbst wenn es auf den Fotos schwer danach aussah. Gott, diese Bilder.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur gut, dass meine Eltern den ganzen Monat über in der Karibik sind, sie wären ausgeflippt, wenn sie das gesehen hätten.«

»Das haben sie also nicht? Auch nicht online?«

»Sie haben sich zumindest nicht bei mir gemeldet.«

»Puh«, machte Gretchen.

»Oh ja, du sagst es«, gab Sara zurück.

»Nun – von der Produktion hat sich am Ende niemand mehr über den Artikel beschwert, oder? Soweit ich weiß, ist schon lange keine Ausstrahlung mehr so heiß erwartet worden, wie die dieser Serie.«

»Was für eine Ironie das ist, oder? Das hätten sie wirklich nicht besser planen können.« Saras Tonfall klang so bitter, dass Gretchen sich zu ihr umdrehte, die Kiste mit dem Schmuck abstellte, sich neben ihre Freundin auf eine Sessellehne setzte und deren Hand nahm.

»Nicht«, sagte Sara. »So weit bin ich noch nicht.«

Gretchen ließ die Hand wieder los. »Okay. Komm zu mir, wenn du Trost brauchst, gut? Ich bin für dich da, das weißt du.«

»Ich weiß.«

»Und ich bin mir sicher, wenn du es dir anders überlegen wolltest …«

»Nein.« Womit Sara aufstand und sich erneut ihrer Arbeit zuwandte. »Niemand wird es sich anders überlegen. Es ist entschieden. Und es ist das Allerbeste so.«

»Okay«, wiederholte Gretchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass nicht nur sie sich freuen würde, wenn Sara sich doch noch umentscheiden würde, sondern auch Noah. Er hatte mehr als niedergeschlagen gewirkt, nachdem Sara ihn fortgeschickt hatte, und Gretchen war zuversichtlich, dass er zu einer Rückkehr nicht erst überredet werden musste. Sie fand ihn nett. Ehrlich nett. Sara hätte jemanden wie ihn verdient, das stand für sie fest. Vielleicht wenn Gras über der Sache gewachsen war, dachte sie. Wenn die Liebe zwischen ihnen beiden nur groß genug war … Und dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Nicht jede Geschichte endete wie im Märchen, sagte sie sich. Nicht einmal im Wild-at-Heart-Hotel.

»Ich habe gehört, die Filmproduktion wird dir die Lodge renovieren«, sagte Sara jetzt.

»Ja.« Gretchen nickte. Als Antwort auf die Frage und als Zustimmung zu dem Themawechsel. »Das wäre nicht nötig gewesen, aber sie haben darauf bestanden.«

»Ich finde das völlig in Ordnung, sie haben deine ganze Küche rausgerissen.«

Von der Seite sah Gretchen Sara an. Sie hatte schon völlig vergessen, dass ihre Freundin über den Zustand der Hütte Bescheid wusste, da die kompromittierenden Fotos von ihr und Noah ja durch eines der Fenster dort aufgenommen worden waren. »Die Küche selbst war auch nicht mehr im besten Zustand«, sagte sie nur und beschloss dann, tatsächlich das Thema zu wechseln und eine völlig andere Richtung einzuschlagen.

»Übermorgen ist Heiligabend. Hast du dir schon überlegt, wo du Weihnachten verbringen möchtest? Deine Eltern bleiben in der Karibik, richtig?«

»Richtig. Und ja, habe ich. Ich kenne da so ein Hotel, dessen wahnwitzige Besitzerin ihrem kompletten Personal freigegeben hat. Ich wette, sie kann jede Hilfe brauchen, damit ihr der Truthahn nicht anbrennt.«

»Oh ja, das kann sie.« Gretchen lachte. In ihren gemeinsamen Jahren hatten sie und Christopher ihre gewohnten Weihnachtstraditionen vermischt, um eine gewisse Diplomatie bemüht. So hatte Gretchen die norwegische Tradition durchgesetzt, den Baum nicht schon am ersten Dezember, sondern erst kurz vor den Feiertagen zu schmücken; außerdem durfte bereits an Heiligabend ein Teil der Geschenke geöffnet werden. Die Strümpfe am Kamin und der große Truthahn am ersten Weihnachtsfeiertag waren dagegen typisch britische Traditionen, auf denen Christopher bestanden hatte. Schon seinetwegen würde sie sie weiterführen, auch wenn sie tatsächlich ein eher unglückliches Händchen bei der Zubereitung solch großer Vögel besaß.

»Ich freue mich«, sagte sie und drückte Sara.

»Ja.« Sara nickte. »Es ist schön, nicht allein zu sein.«

Bevor sie das Mitleid in Gretchens Augen wahrnehmen konnte, hatte sich Sara wieder dem Baum zugewandt.