Als brächte der unerwartete Schnee die Hormone sämtlicher Anwesenden durcheinander, sollte es eine ähnliche Szene später noch einmal geben, allerdings nicht hier und mit anderen Protagonisten.
Doch dazu an geeigneter Stelle mehr.
Im Augenblick befand sich die Mehrheit der Hotelgäste in der gemütlichen Lobby des Wild at Heart, wohin es sie nach dem Frühstück gezogen hatte. Die zweite Tasse Tee schmeckte vor einem knisternden Feuer doch umso besser, und das Schneegestöber ließ sich auch von hier perfekt vor den Fenstern betrachten.
Zu Theos größter Verblüffung hatte Bruno den Weg hinauf ins Hotel geschafft. Er habe den Schneefall zunächst unterschätzt, erklärte er, denn wann hatte es auf Port Magdalen zuletzt so viel davon gegeben, doch schnell gemerkt, dass dies kein gewöhnlicher Wintereinbruch war. Bis er die Fishstreet hinauf- und den Waldweg wieder heruntergeschlittert war, war seine italienische Designerrobe völlig durchnässt, das schüttere Haar vom Winde verweht und die ohnehin pergamentartig schimmernde Haut seiner Wangen zu Eis gefroren.
Theo bestellte seinem Freund einen heißen Kakao in der Küche (und sich gleich mit), den die beiden mit einem kleinen Schuss Rum versetzten (miniklein, wirklich). Dann suchten sie sich ein warmes, stilles Eckchen neben einem der Kamine und begannen damit, die Bücher zu sortieren, die Theo aus dem Schäferwagen hergeschleppt hatte. Diesmal hatten sie wirklich ausreichend Zeit, ihrem Rätsel ein Stück näherzukommen. Sie waren praktisch eingeschneit. Der komplette Tag lag noch vor ihnen. Bruno griff nach einem Bildband, Cornwalls verborgene Höhlen, während Theo sich einem in Leder gebundenen Notizbuch widmete, das vermutlich seinen Großeltern gehört hatte. Es war nicht leicht zu entziffern, aber nach ein paar Seiten erkannte er Kochrezepte darin. Also schob er das Buch zur Seite und griff stattdessen nach einem weiteren Fotoband, diesmal zum Thema Die Bucht von Penzance.
»Wieso haben wir uns die Mühe gemacht, das alles vom Dachboden zu schleppen?«, murrte Bruno, während er mit krauser Nase an seinen Fingern schnüffelte.
»Was, riechen die Bücher etwa?«, fragte Theo. Er hob seinen Zeigefinger und schnüffelte daran. »Staub. Jahrgang … 1932. Exzellent gereift.«
Bruno schüttelte den Kopf. Er legte den Höhlenband beiseite und griff sich das nächste Buch.
»Auf dem Dachboden wären wir längst erfroren«, sagte Theo. »Und hier sind wir auch viel näher an der Küche«, fuhr er fort, bevor er mit Bruno und seiner Tasse anstieß und einen kräftigen Schluck des guten alten Kakaos zu sich nahm.
Etwa drei heiße Schokoladen später hatte sich nicht nur Ian Grumbole zu ihnen gesellt, sondern auch Minnie und Noah Perry höchstpersönlich. Auf Brunos Frage, wo denn die schöne Hauptdarstellerin abgeblieben sei, hieß es, sie habe sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, weil der gravierende Wetterumschwung ihr Kopfschmerzen bereitete. Bruno wirkte von dieser Information ehrlich getroffen, wenngleich ihm die Anwesenheit von Minerva Barnes auf für Theo unverständliche Weise tröstlich erschien. Die Aufnahmeleiterin hatte sich zumindest insoweit mit der Situation abgefunden, als sie ebenfalls an einem Kakao nippte (mit kleinen Marshmallows und Zimtstange, ohne Rum), während sie mit einer Hand durch einen weiteren Bildband blätterte, in dem ein Marazion vor Urzeiten abgebildet zu sein schien. Eine Aufnahme von Port Magdalens Herzfelsen betrachtete sie besonders eingehend, bevor sie den Regisseur darauf aufmerksam machte. »Womöglich sollte man auch mal daran denken, hier eine reale Geschichte zu filmen«, schlug sie vor. »Ich meine, diese Insel! Dieser Felsen! Da muss man sich ja verlieben. Meinst du nicht auch, Noah?«
Es gehörte nicht sonderlich viel Feingefühl dazu, diese Bemerkung als spitz zu erachten (selbst Bruno hatte bei dem Kommentar aufgehorcht), doch Noah Perry ließ sich nicht beirren, ganz im Gegenteil: Er beachtete Minnie nicht weiter, zog stattdessen sein Handy aus der Hosentasche und begann, darauf herumzutippen.
Während Theo davon zu erzählen begann, wie unglaublich romantisch diese Insel sei, wie viele Liebende sich hier schon gefunden hatten und welch aufregende Geschichte ihr zugrunde lag (ja, er berichtete auch von den Piraten, davon, dass sie womöglich hier, direkt unter ihnen, in geheimen Gängen ihr Unwesen getrieben hatten), bekam Noah von alldem nichts mit, denn er war mit seinen Gedanken längst woanders.
Die weiße Pracht da draußen hat mir unerwartet einen freien Tag beschert. Was machst du gerade?
Ich warte schon den ganzen Morgen darauf, dass es aufhört zu schneien, aber nun muss ich los, nach meinen Gewächshäusern sehen. Ich bin nicht sicher, wie viel Schnee die aushalten. Und so etwas hatten wir hier noch nicht.
Ja, das habe ich gehört.
Für einen kurzen Augenblick sah Noah auf und in die Runde, bevor er sich wieder seiner Unterhaltung mit Sara widmete. Sowohl Minnie als auch Ian hingen an Theo Wildes Lippen, was besonders für den Regisseur untypisch war. Noah hörte etwas von einer Schatzkiste und geheimen Ausgrabungen und beschloss, dass es den Anwesenden überhaupt nicht auffallen würde, wenn er nicht anwesend war, so gebannt waren die.
Ich helfe dir bei … was auch immer du bei deinen Gewächshäusern zu tun hast.
Er beobachtete, wie die drei Punkte, die verrieten, dass Sara ihm antwortete, aufblinkten, dann wieder verschwanden. Dann erschienen sie erneut.
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, wenn man uns zusammen sieht.
Wer soll uns zusammen sehen? Da draußen tobt ein Schneesturm.
Ein Grund mehr für dich, im Haus zu bleiben.
Wann wirst du hier sein?
Er starrte auf sein Handy, doch Sara antwortete nicht. Nicht fünf Minuten später, nicht zehn. Eine Viertelstunde nach ihrer letzten Nachricht stand er auf und entschuldigte sich. »Offensichtlich vertrage ich das Wetter auch nicht so gut«, murmelte er, doch Minnie warf ihm einen Blick zu, den er lieber nicht aufgeschnappt hätte. Also drehte er sich schnell um und lief auf sein Zimmer, um seine Jacke zu holen.
Er hörte Gelächter, als er die Tür passierte, auf der Büro stand.
Den Aufschrei aber, den Theo etwa zehn Minuten später von sich gab, den hörte er nicht mehr.