59.

Nettie war so hibbelig, sie machte sogar ihren Großvater nervös. Der war, während Sara oben im Hotel die Bäume schmückte und Gretchen vermutlich letzte Vorbereitungen für die Ankunft der Gäste traf, mit seiner Enkelin zum Hafen gefahren, um Damien Angove und seine Väter Clive und Logan abzuholen.

»Da!«, rief Nettie. »Siehst du? Sie winken. Das sind sie in Jets Boot!«

»Sieht ganz danach aus, Liebes«, stimmte Theo zu. Innerlich machte er drei Kreuze, dass es endlich so weit war und Nettie damit aufhörte, nägelkauend auf dem Pier auf- und abzulaufen. Sie machte ihn wahrhaftig nervös. Mehr noch als die Tatsache, dass das Wild at Heart gerade einem Sanatorium glich, so still war es dort, und dass er sich nutzlos fühlte ohne seine Werkstatt (und seit dem Plumpsklo-Dilemma, das besser nicht mehr erwähnt werden sollte). Er musste mit Herb sprechen, und zwar bald. Er wollte seine Werkbank zurück, noch ehe der letzte Schnee geschmolzen war.

Was er gerade nur so dahingedacht hatte, denn entgegen Herbs ursprünglicher Prophezeiung war nichts von den riesigen Schneemassen liegen geblieben, die Cornwall vor zwei Wochen erstaunlicherweise ereilt hatten, überhaupt nichts. Pünktlich zum Fest erfreute sich die englische Südküste wieder einmal ihres obligatorischen blauen Himmels und milden zehn Grad. Eine weiße Weihnacht, also – die wäre laut Theo auch ein bisschen zu viel des Guten gewesen.

»Das werden die schönsten Weihnachten aller Zeiten«, rief Nettie gerade, und Theo ließ seine grüblerischen Gedanken ziehen und legte einen Arm um sie.

»Hi.«

»Hi.«

Nettie zog eine Grimasse, und Damien lachte. Dann kam er einen Schritt auf sie zu, beugte sich zu ihr herunter und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen, bevor er sie in seine Arme schloss. Sie hatten Theo mit Clive, Logan und dem Gepäck vorausgeschickt und waren im Hafen zurückgeblieben, um allein zu sein.

»Ist komisch irgendwie, oder?«, fragte Damien. »Auf der anderen Seite war es in jedem Sommer, in dem wir uns wiedergesehen haben, auch irgendwie komisch am Anfang. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, wir müssten ganz von vorn anfangen mit unserer Freundschaft.«

»Stimmt.« Nettie nickte zustimmend. »So ging es mir auch jedes Mal.«

Sie standen sich gegenüber, hielten sich an den Händen und sahen einander an.

»Seid ihr jetzt zusammen?«, rief Jet, der immer noch in seinem Boot saß und den die beiden vollkommen vergessen hatten. »Ist ja ’n Ding.«

Nettie rollte mit den Augen. »Was war noch gleich so schön an dieser winzigen Insel, auf der jeder jeden kennt und alles über den anderen weiß?«, fragte sie.

»Du«, erwiderte Damien. »Und von mir aus können das auch alle wissen.« Dann nahm er sie bei der Hand und zog sie hinter sich her in Richtung Fishstreet.

»Bis wir da oben sind, weiß es tatsächlich jeder«, murmelte Nettie, während sie Port Magdalens einzige Einkaufsstraße hinaufstiegen, Graham vor seinem Pub und Kelly vor ihrer Galerie zuwinkten sowie Toni, dem Postboten und Mrs. Bailey, der Besitzerin des kleinen Souvenirshops.

»Schämst du dich für mich?«

Nettie gab einen abfälligen Ton von sich. Einige Schritte liefen sie schweigend weiter, dann löste Nettie ihre Hand aus der von Damien und schob stattdessen ihren Arm um seine Taille.

Sofort erklangen Pfiffe hinter ihnen.

»Mann«, knurrte Nettie, und Damien brach in Gelächter aus.

»Eventuell lachst du nicht mehr«, sagte Nettie, »wenn du erfährst, dass nicht nur jeder hier auf Port Magdalen, sondern auch meine Mutter ihren Senf zu uns beiden dazugegeben hat.«

»Deine Mutter?« Mit zusammengezogenen Brauen sah Damien auf seine Freundin herunter. »Was hat sie gesagt?«

»Sie hat …« Nettie räusperte sich. »Kennst du die Geschichte von den Blumen und den Bienen?«

Diesmal prustete Damien los, so heftig, dass er sich von Nettie löste. »Sie hat was

Seufzend setzte Nettie ihren Weg fort, von der Fishstreet auf den schmalen Waldweg, der sie zum Hotel bringen würde. »Sie wollte mich nicht direkt aufklären, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Doch, das wollte sie vermutlich schon. Ich glaube, sie war ein bisschen hilflos, weil ihr eingefallen ist, dass du und ich schon weiter sein könnten als andere Paare, weil wir uns so lange kennen. Erst war sie ganz cool und entspannt … und dann auf einmal doch nicht mehr.« Aus den Augenwinkeln warf sie Damien einen Blick zu. »Sie will, dass du bei deinen Vätern in der Suite schläfst.«

»Okay.« Damien zuckte mit den Schultern, als könnte ihm die Anweisung egaler nicht sein.

Nettie verdrehte die Augen. »Mit anderen Worten, sie möchte nicht, dass wir in einem Zimmer schlafen.«

»Das habe ich daraus gefolgert, Watson, ja.«

»Mmmh.« Sie griff nach Damiens Hand und drückte sie, während sie weiterliefen, das Hotel bereits sichtbar zwischen den Bäumen.

Nettie verschwieg Damien, dass sie ihrer Mutter vorgeworfen hatte, spießig zu sein. Fürs Erste. Und dass sie ihr auf die Ermahnung, Damien solle bei seinen Vätern schlafen und nicht in Netties Zimmer, geantwortet hatte: »Du warst auch mal sechzehn, oder? Wo ein echter Wille ist, da ist auch ein Weg.«

Gretchens Gesicht würde Nettie nie vergessen. Allein das war es wert, ihr diesen Satz eiskalt zu servieren, auch wenn sie noch überhaupt nicht daran dachte, seine Aussage auch in die Tat umzusetzen. Oder, vielleicht … Sie warf einen Seitenblick auf Damien.

Ach, das ging nun wirklich niemanden etwas an außer sie beide.