Nach Ankunft der beiden Hauptdarsteller auf Port Magdalen blieb kaum ein Flecken der kleinen Insel vom Trubel und Treiben der Produktion unberührt. Die Stille, die der Winter üblicherweise mit sich brachte – nur eine ferne Erinnerung an vergangene Jahre. Lori’s Tearoom beispielsweise mutierte schnell zum beliebten Treffpunkt all jener, die an der Absperrung oberhalb des Herzfelsens abgeblitzt waren, wo eine Reihe von Sicherheitsleuten dafür sorgte, dass die Dreharbeiten nicht von Schaulustigen gestört wurden. Von Schaulustigen und einer ganzen Reihe Mädchen und Frauen, die allein des Hauptdarstellers wegen nach Port Magdalen gekommen waren und mit Herzchen in den Augen über das Eiland tapsten.
Lori, Betreiberin des Tearooms und Schwester von Gretchens Freund Nicholas, vertrieb sich den Tag damit, diesen verblendeten Geschöpfen Geschichten über Noah Perry zu erzählen – wie er dies tat und das und jenes. In Wahrheit hatte Lori (zu ihrem eigenen Verdruss) Noah selbst noch nicht zu Gesicht bekommen und jedes einzelne ihrer Märchen frei erfunden. Was ihr große Freude bereitete. Beinahe genauso viel wie die Aussicht darauf, dem begehrten Schauspieler früher oder später im Wild at Heart zu begegnen.
Auch Graham’s Pub wurde von den Schaulustigen, den verliebten Fans und der Presse rege frequentiert. Tatsächlich hatte der Wirt nur selten rund um die Uhr so viele Gäste wie in diesen Novembertagen. Er war gezwungen, eine zusätzliche Hilfskraft einzustellen, um dem Andrang gerecht zu werden. Wenn es nach dem alten Graham ging, konnte auf seiner kleinen Heimatinsel ruhig öfter mal ein Film gedreht werden.
Oder war es doch eine Serie?
Wenn die Flut oder aber die letzten Boote die Neugierigen von der Insel gespült hatten, dann diskutierten die Einheimischen rege darüber, wie und in welcher Form ihr geliebtes Port Magdalen und der dazugehörige Herzfelsen in Szene gesetzt wurden.
Mit der einzige Teil, der nicht ständig von Fremden frequentiert wurde, waren die Gärten, die sich nahe des Wild-at-Heart-Hotels und oberhalb der Klippen befanden. Sara Gibbs, Landschaftsgärtnerin und gute Freundin von Gretchen Wilde, war für deren Erhalt zuständig. Sie kümmerte sich schon seit einigen Jahren um die Gärten, die dem National Trust unterstanden (einer Organisation für Denkmalpflege und Naturschutz), und der Grund, weshalb nicht hordenweise Voyeure durch dessen Beete trampelten, lag allein darin, dass ein verschlossenes Tor sie daran hinderte. Im November blieben die Gärten für die Öffentlichkeit unzugänglich, und auch Sara verbrachte weniger Zeit mit der Pflege als in den Sommermonaten. Wer in diesen Tagen also zwischen Sträuchern und Bäumen und Bänken und Steinformationen entdeckt wurde, hatte sich unerlaubt Zutritt verschafft – so wie dieser Eindringling, der mit dem Rücken zu Sara ganz offensichtlich gerade etwas Verbotenes unternahm.
»Ich hoffe, Sie haben nicht ernsthaft vor, in meine Blumen zu urinieren.«
Erschrocken fuhr der Mann herum. Seine braunen Augen waren geweitet und wirkten durch das dick aufgetragene Make-up noch größer, als sie ohnehin schon waren. Die vielgerühmten sinnlichen Lippen waren einen Spaltbreit geöffnet, und die dunklen Locken standen in alle Richtungen ab.
Sara erkannte ihn sofort. Trotz des seltsamen Kostüms, das er trug – eine Art schuppenbedeckter Umhang, der ihn beinahe wie eine Echse aussehen ließ. Zu ihrer eigenen Erleichterung hatte sich dieses Echsenwesen offenbar nicht in ihre Winterblumen erleichtert, denn als ihr Blick zu seiner Körpermitte wanderte, hielt er einen Fotoapparat in der Hand, und nicht etwa … etwas anderes.
»Ich bin … äh, über die Absperrung geklettert«, gestand er. »Aber ich habe nicht in Ihre Blumen uriniert.« Auch er sah nun auf seine Hände, die die Kamera hielten, und als hätte er Saras Blick von eben bemerkt, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Das schlicht wunderschön war. Auf Sara wirkte es so, als wüsste der Mann exakt, was er damit anrichten konnte – so gut wie alles vermutlich –, weshalb sie beschloss, so lange nicht darauf zu reagieren, bis es verschwand.
»Ich wollte lediglich ein Foto machen«, sagte Noah Perry. »Von den Blumen. Was sind das für welche?«
»Es sind Christrosen. Und dieser Garten ist in den Monaten zwischen Oktober und April für die Öffentlichkeit geschlossen. Und es ist nicht Sinn der Sache, über die Absperrungen zu klettern.«
»Ich weiß. Tut mir leid.«
»Gut.«
Es vergingen einige Sekunden. Vielleicht auch mehr. Und womöglich zu ihrer beider Erstaunen machte keiner der zwei Anstalten, woandershin zu gehen. Als Noah schließlich fragte: »Was passiert als Nächstes? Werde ich verhaftet?«, musste Sara lachen. »Das wäre was – den Hauptdarsteller verhaften lassen«, sagte sie, und Noahs Brauen hoben sich.
»Selbst wenn Sie Ihr seltsames Outfit nicht verraten hätte, hätte ich gewusst, wer Sie sind«, fuhr die Gärtnerin fort. »Die Insel ist klein. Und die Hotelchefin eine gute Freundin von mir.«
»Verstehe.« Noah lächelte ebenfalls, doch diesmal erreichte es seine Augen nicht. Und auf einmal fragte sich Sara, ob es ihm lieber gewesen wäre, sie hätte nicht gewusst, wer er war und was er tat. Ob es für jemanden wie ihn, der es von England nach Hollywood geschafft hatte und dort gefeiert wurde wie der weltgrößte Superstar, nicht erfrischend sein müsste, einmal nicht erkannt zu werden. Also fügte sie schnell hinzu: »Aber ich habe die Serie nie gesehen. Also die, die Sie so bekannt gemacht hat. Die mit den … den … nun, ich weiß nicht mal, worum es da geht. Fantasy, nehme ich an? Das ist nicht so mein Genre. Im Grunde habe ich also keine Ahnung, wer Sie sind. Weshalb ich trotzdem nicht möchte, dass Sie sich in meine Blumen erleichtern.«
Noch einmal hoben sich Noah Perrys Brauen, diesmal fast bis zum Haaransatz. »Ich glaube, das habe ich verstanden. Eigentlich schon beim ersten Mal.«
»Nun … gut.«
Er lächelte immer noch, und nun lachte er, und Sara stimmte ebenfalls mit ein.
»Sara Gibbs«, sagte sie schließlich.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sara Gibbs. Noah Perry.« Er streckte ihr eine Hand entgegen.
Sara ergriff sie. Und – wie heißt es so schön? Etwas geschah bei dieser ersten Berührung, etwas, das beide spürten, das sich wie ein Funke anfühlte, der von den Fingerspitzen der einen Hand in die der anderen fuhr.
»Uhm«, machte Sara. Sie räusperte sich. »Sie interessieren sich also für Pflanzen?«
»Ähm, ja. Meine Mutter hat einen Blumenladen.« Immer noch hielt er Saras Hand, und als sei ihm das gerade erst aufgefallen, ließ er sie sehr plötzlich los und fuhr sich stattdessen damit durch die zerzausten Haare.
Mit den Augen folgte Sara der Bewegung. Sie hatte keine Ahnung, was auf einmal mit ihr los war, außer dass sie sich seltsam fühlte.
»Meine Mutter hat also diesen Blumenladen«, fuhr Noah fort. »Wenn ich unterwegs bin und etwas Hübsches sehe, schicke ich ihr wenn möglich ein Foto davon. Etwas … nicht etwas. Eine hübsche Blume, das meinte ich. Pflanzen.« Nun war er derjenige, der sich räusperte, und Sara dachte, dass sie zumindest nicht allein zu sein schien in ihrem Zustand vorübergehender geistiger Umnachtung.
»Verstehe«, sagte sie. »Ich bin Gärtnerin. Zuständig für diesen Garten hier. Und noch ein paar andere zwischen Marazion und Land’s End.«
»Wow, das ist mal ein cooler Job.«
»Ja, auf jeden Fall. Verglichen mit der Schauspielerei, meine ich.«
Noah lachte.
Sara grinste ihn an.
»Und leben Sie hier auf der Insel?«
»Ah, nein.« Sara winkte ab. »Es ist schier unmöglich, auf Port Magdalen eine Wohnung zu bekommen, wenn man nicht schon immer hier gelebt hat. Niemand zieht von hier weg. Ich lebe drüben, in Marazion.«
»Verstehe. Ich …« Er zuckte mit den Schultern. »Wild-at-Heart-Hotel. Aber das wissen Sie vermutlich schon. Wo Sie doch die Besitzerin kennen und alles.«
»Jep«, sagte Sara. »Und alles.«
Für zwei, drei Sekunden schwiegen beide, dann öffneten sie gleichzeitig den Mund, doch bevor einer von ihnen einen Ton herausbringen konnte, durchschnitt eine helle Frauenstimme die Ruhe.
»Noah? Liebling? Da bist du ja. Wir suchen dich schon überall, es geht weiter!«
Heather Mompeller stampfte den Weg hinunter, in ähnlich schweren Stiefeln, wie Noah Perry sie trug. Sie war mit einer Art Nachthemd bekleidet, das reichlich durchsichtig war, und einem Bademantel, den sie offen über die Schultern geworfen hatte. Auch sie erkannte Sara sofort. Sie hatte die Schauspielerin im Sommer bereits gesehen, als sie einige Tage hier auf der Insel verbracht hatte, damals noch mit einem anderen Mann. Mit einem in jeder Beziehung anderen Mann, dachte Sara, als sich Heather nun bei Noah unterhakte, zumindest, wenn man die Sache von außen betrachtete. Ivan Trust war so ziemlich in allem das genaue Gegenteil von Noah Perry. Wo Letzterer mit seinen dunklen Locken und den noch dunkleren Augen genauso wild wie unglaublich vertrauenerweckend aussah, wirkte Trust mit seiner geschniegelten blonden Kurzhaarfrisur und dem spöttischen Zug um den Mund mehr wie ein Zyniker aus der Stummfilmzeit. Als sie Noah das erste Mal gesehen hatte, war Sara überrascht gewesen, dass Heather sich nach Ivan Trust für den komplett gegensätzlich wirkenden Noah entschieden hatte. Aber vielleicht war es auch genau das, dachte sie nun. Manchmal wollte man womöglich genau das Gegenteil von dem, was man vorher hatte. Sie selbst konnte das nur allzu gut nachvollziehen.
»Dann werde ich mal wieder«, meinte Noah, während sich Heather Mompeller bei ihm unterhakte und die Gärtnerin mit neugierigen Blicken maß.
»Klar«, erwiderte Sara. »Und nicht vergessen, der Garten ist …«
»… für die Öffentlichkeit gesperrt, ich weiß.« Er lächelte sie an.
Sara lächelte zurück.
Heather runzelte die Stirn und zog Noah dann mit sich, den Weg hinauf in Richtung des verschlossenen Tors, über das auch sie geklettert war.
Sara sah den beiden nach, doch Noah Perry drehte sich nicht noch einmal zu ihr um.