9.

Lieber Damien,

für den unwahrscheinlichen Fall, dass Dich mein Leben auch nur noch das kleinste Bisschen interessiert:

Wenn wir einmal davon absehen, was im vergangenen Sommer passiert ist (dass Du mich geküsst hast, die Scheune niedergebrannt ist, meine Mutter beinahe einen Nervenzusammenbruch erlitten hat), lässt sich mein Leben derzeit im Grunde als ganz gut bezeichnen. Ich meine, einige Zeit war es gespenstisch im Hotel, so ohne Gäste, und mir ging es auch nicht sonderlich, weil … weil … Du wirst Dir denken können, warum.

(Himmel noch mal. Dies sind nur fiktive Briefe. DIES SIND NUR FIKTIVE BRIEFE. Niemand wird sie je zu lesen bekommen. Erst recht nicht Damien. Warum also nicht einfach sagen, was Sache ist?)

Mir ging es nicht sonderlich, weil ich in diesem Sommer meinen besten Freund verloren habe. So. Jetzt ist es raus. (Und, nur ganz nebenbei: Du hast mir meinen ersten Kuss gestohlen. Ist Dir das eigentlich klar? Dass ich zuvor noch nie einen Jungen geküsst habe? Was, wenn ich diesen Kuss gern aufgespart hätte? Für einen Augenblick, der, sagen wir, ein bisschen spezieller gewesen wäre als zwischen Tür und Angel meines Zimmers? Was, wenn ich diesen Kuss gern aufgespart hätte für jemanden Bestimmten? Jemanden, der nicht mein bester Freund ist? Jemanden, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hätte, irgendwann? Später. Irgendwann eben.)

Okay.

Wo war ich?

Mein Leben hat sich also irgendwie wieder eingerenkt, auch wenn ich das vor zwei Monaten für schier unmöglich gehalten hätte. Die Schule ist okay, mit Charlotte ist es … okay, es gibt endlich wieder etwas im Hotel zu tun. Und auch wenn ich wegen dieser Filmsache nicht halb so euphorisch bin wie andere (womit wir wieder bei Charlotte wären), lenkt sie mich doch ein bisschen ab von all dem, was mich die vergangenen Monate beschäftigt hat. Denn sind wir mal ehrlich: Warum etwas zu einer riesigen Sache aufbauschen, das im Grunde nur einen Bruchteil meines Daseins ausmacht?

Ich stelle mir das in etwa so vor: Wir stehen in der Mitte eines zugefrorenen Sees. Die Eisdecke ist dünn, und wir sind unvorsichtig, und als wir nur einen falschen Schritt unternehmen, kommt es zum Bruch, und Risse breiten sich unter uns aus wie ein Gewirr aus Ästen. Noch ein falscher Schritt, und das ganze Konstrukt bricht auseinander. Wenn man aber stillhält und wartet, bis Wasser die Lücken füllt, bis die Kälte alles wieder zusammengefügt hat, dann wird es irgendwann so sein, als hätte es den kleinen Unfall gar nicht gegeben. Als hätte sich nie ein Loch in das Eis gefressen.

Man muss nur lange genug warten.

Und die Oberfläche ist wie neu.

Okay, also – das ist der letzte Brief, ja? Ich meine, es ist ohnehin müßig, du wirst nie einen davon zu lesen bekommen. Ich möchte nur, dass du weißt … Ach, wem versuche ich, etwas vorzumachen? Auch wenn das Eis wieder hält, wird es immer noch spürbar sein, dass da einmal etwas war, wenn man mit den Fingerspitzen darüberfährt.

Eine Zeit lang saß Nettie einfach nur da und wunderte sich über ihre eigenen Worte. Was war das hier? Ein Abschied? Wollte sie mit dem, was sie da eben geschrieben hatte, einen Schlussstrich ziehen zwischen sich und Damien? Unter ihre Freundschaft? Wollte sie aufhören, darauf zu warten, dass er sich meldete, und keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, es selbst zu tun? Eine ganze Weile dachte sie darüber nach. Dann schrieb sie:

Vielleicht können wir irgendwann wieder Freunde sein, das wäre schön. Dann könnte ich dir davon erzählen, dass das Treffen mit Kevin vor zwei Tagen … dass es … Wir sind nach Penzance gefahren und …

Nettie schluckte. Sie dachte daran, dass sie ausgerechnet in das Café gegangen waren, das sie zuletzt mit Damien besucht hatte, nach ihrem gemeinsamen Bücherkauf im Sommer. Sie hatte nicht aufhören können, auf den Stuhl zu starren, auf dem er damals gesessen hatte, während Kevin ihr davon erzählte, wie lange er schon darauf wartete, mit ihr – Nettie – auszugehen. Sie hatte sich kaum auf ihn konzentrieren können. Es war ein Wunder eigentlich, dass Kevin anscheinend nichts von Netties geistiger Abwesenheit bemerkt hatte.

Er brachte sie nach Hause – also gut, bis zu Jets Boot im Hafen von Marazion, von wo aus sie allein den Heimweg ins Hotel antreten wollte – und dann, dann …

… dann hat er mich geküsst.

Nettie warf den Stift von sich, als habe er auf einmal Feuer gefangen. Sie wollte nicht weiter über den Abend mit Kevin nachdenken. Sie wollte nicht daran denken, wie vollkommen anders sich dieser Kuss angefühlt hatte und wie wenig Lust sie verspürte, ihn oder ein Treffen zu wiederholen oder überhaupt in die Schule zu gehen. Es war deutlich zu spüren, dass Kevin anders empfand als sie. Die vergangenen zwei Tage hatte sie damit verbracht, ihm auszuweichen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen.

Dünnes Eis.

Sie befand sich da auf sehr, sehr dünnem Eis, das spürte sie genau.

Was Nettie zu diesem Zeitpunkt noch nicht spürte, war, dass sie ihn quasi herbeigeschrieben hatte. Also Damien. So etwas war schließlich unmöglich. Weshalb sie ernsthaft an ihrer Sehkraft zweifelte, als sie an diesem Freitagnachmittag desselben Tages Paolos Stall sauber machte und in der Gestalt, die plötzlich in der Tür lehnte, ihren Freund zu erkennen glaubte – weil das eben nicht möglich war. Es musste jemand anders sein.

Kevin.

Von der Größe her könnte es hinkommen. Wobei – nicht ganz, denn eigentlich war Kevin nicht sonderlich groß und die Schultern waren ebenfalls nicht breit, nicht so. Das Gefühl, das Nettie beschlich, breitete sich von ihrem Nacken her aus, die Kiefer entlang, es kribbelte in ihren Wangen, bevor es hinter ihren Lidern zu brennen begann. Risse. Was sie da fühlte, hinterließ imaginäre Risse auf ihrer Haut. Und sie fürchtete, bei dem nächsten falschen Satz, den wer auch immer zu ihr sagen würde, in Tränen ausbrechen zu müssen.

»Hi, Nettie.«

Er war es. Nettie verschluckte sich fast. Sie starrte die Silhouette an, wortlos, bis ihr ehemals bester Freund sich aus dem Schatten des Stalleingangs schälte und ganz langsam auf sie zukam, so, als hätte er Angst, sie zu erschrecken. Als würde sie wie ein scheues Tier davonspringen, wenn er sich zu schnell bewegte.

Damien sah exakt so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nettie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hätte sie sich am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Natürlich sah Damien genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte – sie hatte ihn schließlich erst vor drei Monaten gesehen. Vor drei Monaten, sechszehn Tagen und circa zwei Stunden, um genau zu sein, hatte sie Damien zum letzten Mal gesehen. Seither war kaum eine Minute vergangen, in der sie nicht an ihn gedachte hatte, und nun stand er auf einmal vor ihr, in seiner vollen Größe (mit für seine sechzehn Jahre beachtlichen eins sechsundachtzig), den dichten dunklen Haaren, den braungrünen Augen. Er hatte auf seine Fensterglas-Brille verzichtet, nicht aber auf die Frisur mit der Tolle, und beinahe hätte Nettie laut losgelacht, warum auch immer, würde da nicht ein Kloß in ihrem Hals stecken. »Was machst du denn hier?«, presste sie daran vorbei hervor.

Damien, die Finger in den Taschen seines roten Anoraks vergraben, blinzelte. »Ich, äh …« Er zog seine Hände hervor. Und immer noch tat sich Nettie schwer damit zu begreifen, dass er tatsächlich vor ihr stand. Seit dem Sommer hatte sie nichts anderes gewollt, als Damien wiederzusehen. Dann hatte sie versucht, ihre Sehnsucht zu vergessen. Hatte tatsächlich einen anderen geküsst, wie um dieses Vorhaben zu unterstreichen.

»Ich meine, es ist …«, begann sie.

»Ich dachte, wir könnten …«, setzte Damien gleichzeitig an.

»Wo du schon mal …«

»Falls du aber nicht, dann eben …«

Während die beiden Teenager genauso durcheinandersprachen, wie sie sich vermutlich fühlten, stieß Paolo hinter Nettie ein Geräusch aus, das verdächtig nach einem Kichern klang. Mit der Nase versetzte er seinem Frauchen einen Stups.

»Okay«, rief Nettie aus. Sie drückte Damien eine Heugabel in die Hand. »Hier, du kannst beim Ausmisten helfen. Ich kümmere mich um das Gehege von Fred.«

Nettie floh geradezu aus dem Stall, gefolgt von Damiens Blicken. Er konnte genauso wenig fassen wie sie, dass er tatsächlich hier war. Nach der ewigen Funkstille zwischen ihm und seiner besten Freundin fühlte es sich an wie eine Traumsequenz, sie so plötzlich vor sich zu sehen. Während er damit begann, Paolos Box auszumisten, überlegte er fieberhaft, wie er Nettie erklären konnte, weshalb er gekommen war – durfte er ihr sagen, was er wirklich fühlte, oder trieb er sie damit noch weiter von sich weg, als er es bereits im Sommer getan hatte?