49.

Es war gerade einmal sechs Uhr, als Nettie erneut von einem seltsamen Geräusch geweckt wurde. Kein Klopfen diesmal, sondern ein Kratzen und Schaben, das sie noch im Schlummerzustand die Augen zusammenpressen ließ. Was um alles in der Welt war das?

Sie öffnete die Augen und war dabei, sich aufzusetzen, als ihr wieder einfiel, dass sie nicht allein im Zimmer war. Sie war nicht einmal allein in ihrem Bett. Nettie wurde rot, während sie sich so vorsichtig wie möglich aus Damiens Umarmung schälte. Sie hatten beide sehr anständig hier nebeneinandergeschlafen, in ihren Schlafshirts, doch Damiens Nähe war nicht zu verleugnen gewesen, ebenso wenig die Hitze, die er verströmte. Nettie hatte erst überhaupt nicht einschlafen können, so neu war die ganze Situation, weshalb es ihr ein absolutes Rätsel war, dass sie sie nun, in der Frische des Morgens, so gut wie vergessen hatte.

Leise schlich sie zum Fenster, merklich leiser als das Geräusch, das zu ihr hereindrang. Doch als sie den Vorhang zurückschob, um nach draußen zu sehen, blieb ihr aus einem völlig anderen Grund der Mund offen stehen. Die Welt war weiß da draußen, dick mit Schnee bedeckt, dessen Flocken vor Netties Fenster hierhin und dorthin stoben. Sie blickte auf die Wohnwagen der Filmleute, die schon mit einer hohen Schicht bedeckt waren, und dann zu den Baumwipfeln, die sich unter der ungewohnten Last und dem an ihren Zweigen rüttelnden Wind wogen.

Nettie murmelte ungläubig etwas und öffnete das Fenster, als wollte sie sichergehen, dass nicht ihre Scheiben schmutzig waren (oder etwas in dieser Art). Sobald sie es einen Spalt geöffnet hatte, rieselten auch schon Schneekristalle auf ihre Hand, kalt und feucht und absolut real. Sie trat ganz nah ans Fenster heran und konnte nun erkennen, dass Ashley für das kreischende Geräusch zuständig war, das die Schaufel hinterließ, während er mit ihr den Weg zum Hoteleingang freiräumte. Nettie war so fasziniert, dass sie nicht bemerkte, wie der Wind an Geschwindigkeit zunahm, um ihr eine Schneeböe ins Zimmer zu wehen. Kalte Tropfen perlten auf ihren nackten Armen und ließen sie quietschend zurückweichen.

»Ach, du meine …« Was auch immer Damien hatte sagen wollen, der Rest des Satzes blieb ein Geheimnis. Auch seine Lippen öffneten sich einen Spalt, während er das Fenster noch ein Stückchen höher schob, um dann den Kopf nach draußen in den eiskalten Morgen zu recken.

»Wie lange haben wir geschlafen?«, fragte er Nettie über die Schulter, bevor er zu lachen begann und damit, Schnee vom äußeren Fensterbrett mit den Händen zusammenzuschieben. Er formte einen Ball und warf ihn seiner Freundin entgegen.

»Was …«, begann die, bevor sie den Schneeball auffing, ihn dabei aber derart zusammendrückte, dass er in seine Einzelteile zerfiel, die sich wiederum über ihr dünnes Schlaf-T-Shirt verteilten. »Ah, uuuh, ist das kalt«, rief sie, bevor sie jeden Krümel Schnee, den sie erwischte, in Damiens Richtung warf. Auch sie lachte, lief zurück zum Fenster und steckte ebenfalls den Kopf heraus.

»Ich komme mir vor wie in der Eisprinzessin«, erklärte sie.

»Wirklich, Nettie? Disney?« Damien grinste sie an.

»Und wieso nicht Disney? Denkst du, bloß weil ich jetzt einen Freund habe, darf ich keine Zeichentrickfilme mehr mögen?«

Für drei viel zu lange anmutende Sekunden starrten die beiden einander an, während Netties Wangen wärmer und wärmer wurden. Sie hatte es tatsächlich gesagt – sie hatte Damien als ihren Freund bezeichnet. Ihren richtigen Freund. Und er sah ganz und gar nicht so aus, als hätte er etwas dagegen einzuwenden. Stattdessen beugte er sich zu ihr und drückte einen Kuss auf die eben errötende Wange. Bevor er eine Ladung Schnee griff und sie über ihrem Haarschopf ausschüttete.

»Hey!«, empörte sich Nettie lachend. Sie rächte sich mit vollen, eiskalten Schneehänden, bevor kein Flöckchen mehr auf der Fensterbank vor Netties Zimmer zu finden war.

Die beiden bemerkten nicht, dass sie beobachtet wurden – von Oscar, der durch den Hintereingang nach draußen gekommen war, um Ashley einen heißen Becher Tee zu bringen. Oscar betrachtete sie beiden Teenager im Vorbeigehen und befand, dass sie sich benahmen wie Hundewelpen in ihrem ersten Schnee. Schwer verliebte Hundewelpen. Für eine Sekunde spürte der junge Koch, wie Eifersucht durch ihn hindurchfuhr, mitten in sein Herz, doch dann überwog die Freude. Darüber, dass Nettie etwas geschafft hatte, was ihm vermutlich mit Florence nie gelingen würde, nicht mehr in diesem Leben, wie es aussah. Damit hatte sich Oscar inzwischen abgefunden.

Er tauschte einige Worte mit Ashley, drückte ihm den dampfenden Becher in die Hand und machte sich auf den Weg zurück in die Küche.

Womöglich sollte er den Job wechseln, dachte er plötzlich. Vielleicht war es so einfach. Er sollte sich eine andere Stelle an einem anderen Ort suchen, um nicht irgendwann einmal Florence bei albernen Schneespielen mit irgendwem beobachten zu müssen. Oscar stemmte sich gegen die Kälte, die sich jetzt auch in seinem Inneren breitmachte. Am Ende war es wahrscheinlich doch die bessere Idee, dass er Weihnachten nicht hier verbrachte, sondern in seiner Heimat, weit, weit weg von hier.