61.

Nee«, nuschelte Jet, »soweit ich weiß, sind die alle noch im Hotel. Ich hab nur der kleinen Hazel mit ihren Koffern geholfen, der Rest müsste noch da sein.« Der Bootsmann kratzte sich am Hinterkopf, während er Florence nachdenklich betrachtete. »Ich meine, ich kann natürlich nichts für die Zeit sagen, in der Ebbe ist, ne? Vielleicht haben Mrs. Penhallow oder Oscar ihr Gepäck auch über den Damm geschleppt? Warum willste das eigentlich wissen?« Er überlegte, ob das schüchterne, dick bebrillte Mädchen sich überhaupt je mit irgendeiner Frage an ihn gewandt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern.

Florence ebenfalls nicht. Da kauerte sie auf dem immer ein wenig feuchten Sitz von Jets kleinem Motorboot, das sie von Marazion nach Port Magdalen brachte, aufrecht und steif, mit im Schoß gefalteten Händen. Bereits am Vormittag hatte sie ihren Eltern ein Telefonat vorgegaukelt, in dem Mrs. Wilde sie angeblich darum bat, nun doch über die Feiertage kurzfristig im Hotel einzuspringen. Niemand stellte diese erfundene Version infrage. Dafür waren ihre Brüder und Schwestern, ihre Eltern und Großeltern und, soweit sie das beurteilen konnte, auch ein paar der Nachbarn viel zu sehr damit beschäftigt, lautstark über Gott und die Welt zu streiten.

»Wir streiten nicht, wir debattieren nur.« Florence konnte nicht zählen, wie oft sie diesen Satz bereits gehört hatte, doch inzwischen wurde ihr nicht einmal mehr der gewährt. Als könnten die Mitglieder ihrer Familie von Haus aus nur in einer gewissen Lautstärke miteinander kommunizieren und als stellte Florence mit ihrer ruhigen, schüchternen Art eine Art Exotin dar. Sie hatte sich ausgeschlossen gefühlt, lange bevor die anderen es tatsächlich taten. Womöglich war sie oder auch nur ihr Gehör einfach empfindsamer als der Rest der Familie. Jedenfalls machte sich niemand großartig Gedanken darum, dass sie Weihnachten nun doch nicht zu Hause verbringen würde, im Gegenteil. Sie hatte kaum die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen, da ging drinnen das Geschrei von Neuem los, so, als wäre sie gar nicht da gewesen.

Und nun war sie also hier. Und irgendwie hatte sie so ein Gefühl, so ein seltsames, vorausahnendes Gefühl, das sie dazu gebracht hatte, Jet, den Bootsmann, mit dem sie noch nie mehr als drei Worte gewechselt hatte, danach zu fragen, was sie in diesem Augenblick am brennendsten interessierte: ob sie vielleicht nicht die Einzige aus dem Hotel war, die beschlossen hatte, Weihnachten nicht mit der Familie zu feiern. Ob vielleicht noch jemand anders hiergeblieben war, beispielsweise jemand wie …

»Wenn ich’s recht bedenke«, sagte Jet jetzt, »ist es gut möglich, dass dieser junge Typ – wie heißt der? Ashley? Der ist vor ein paar Tagen abgereist.« Wieder kratzte sich der Bootsmann, diesmal an dem kleinen Bauch, der sich unter seinem roten Bob-der-Baumeister-T-Shirt abzeichnete. Dann drehte er sein Gesicht in den Wind und brachte seinen Fahrgast schweigend nach Port Magdalen.

Während Florence sich überlegt hatte, dass es gut möglich war, Oscar in dem Personalcottage am einen Ende des Hafens anzutreffen, hatte sie nicht darüber nachgedacht, was sie ihm eigentlich sagen wollte. Oder warum sie überhaupt das Gefühl hatte, ihn unbedingt sprechen zu müssen. Sie hatte einfach die Tür ihres Zuhauses zugeschlagen und war nach Port Magdalen aufgebrochen, getrieben von einer Unruhe, von der sie beim besten Willen nicht wusste, wo sie herrührte. Es fühlte sich an wie eine Ahnung. Ähnlich der, die einen morgens befiel, wenn man aus dem Fenster sah und sichergehen konnte, dass es regnen würde, doch überhaupt nicht einzuschätzen wusste, wann es so weit war. Irgendetwas würde geschehen, Florence spürte es. Und es war kein schönes Gefühl. Was ihr eine gehörige Portion Angst einjagte, als sie nun die Eingangstür des kleinen Häuschens öffnete, das sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen teilte.

Mrs. Penhallow bewohnte zwei Zimmer im Erdgeschoss, mit direktem Zugang zum Garten. Hazel hatte eine Kammer neben der Küche bezogen, während sich die Zimmer von Florence, Ashley und Oscar im ersten Stock befanden. Sie alle teilten sich zwei Badezimmer, was nicht selten zu stressigen Momenten führte, besonders morgens. Erst seit Ashley im Sommer eingezogen war und mit seiner besonnenen, analytischen Art einen Belegungsplan für sie alle erstellt hatte, hatte sich die Lage im Cottage entspannt.

Und überhaupt. Ashley. Er war wirklich eine Bereicherung des Teams, dachte Florence, während sie die Tür leise hinter sich schloss und die steile Stiege in den ersten Stock in Angriff nahm. Er verstand sich gut mit allen, sogar mit Mrs. Penhallow, was an ein Wunder grenzte, und er hatte sich sofort mit Oscar angefreundet. Und zu ihr … Zu ihr war er schon sehr oft sehr nett gewesen, doch sie konnte sich nicht helfen: Mit Oscar fühlte sie sich … besser. Anders. Sicherer.

»Haben Sie etwas vergessen, Mrs. P.?«, rief besagter Oscar jetzt aus seinem Zimmer. »Ich hoffe es, denn wenn Sie sich nur meinetwegen auf den Weg in den vermaledeiten ersten Stock gemacht haben, wird die Enttäuschung so bitter sein wie Aperol. Mandeln, für Sie. Ich weiß ja, Sie trinken nicht. Wie dem auch sei.« Die Stimme war jetzt schon ganz nah. »Ich werde nicht hierbleiben und im Wild at Heart …«

Und dann stand er auf einmal vor ihr.

»Was machst du denn hier?« Überraschung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Überraschung, und noch etwas anderes, das Florence sich nicht zu deuten traute. »Ich dachte, du wärst Mrs. Penhallow. Sie hat beschlossen, im Hotel mitzuhelfen, nachdem anscheinend doch ein paar Gäste angereist sind.«

»Wirklich?« Florence machte ein ebenso erstauntes Gesicht. »Kommt Mrs. Wilde denn klar?«

»Sie hat dich also nicht angerufen?«

»Nein.«

»Aber … Was machst du dann hier?«

Nun, das war nicht so einfach zu beantworten, fand Florence, weshalb sie erst mal den Griff ihrer Tasche fester umschloss, eine Schulter anhob und sich an Oscar vorbeischob, bevor er bemerkte, dass sie rot geworden war. »Ich bin …«, begann sie, doch dann hielt sie abrupt inne, als sie an der geöffneten Tür zu Oscars Zimmer vorbeikam.

Es war ein gemütliches Zimmer. Statt eines Betts hatte Oscar die Matratze direkt auf den Boden gelegt, daneben stapelten sich Bücher und Zeitschriften. In einer Ecke lehnten zwei Gitarren und eine Ukulele, auf denen der Koch dann und wann herumzupfte – meistens so lange, bis sich Mrs. Penhallow darüber beschwerte. Es gab einen kleinen Sekretär, auf dem sich ebenfalls Papiere stapelten, und eine Stehlampe, deren Schirm aus einem großen, bunten Fisch bestand. Chronisch unordentlich, aber urgemütlich, so kannte Florence das Zimmer ihres Freundes. Nur dass es jetzt, als sie stocksteif im Türrahmen Halt gemacht und bereits eine Weile gestarrt hatte, komplett anders aussah.

»Was …« Florence schluckte. Sie ließ den Blick zum Kleiderschrank wandern, dessen Türen offen standen, weshalb gut zu erkennen war, dass Oscar alles, einfach alles herausgeräumt hatte, von jedem einzelnen Bügel und aus jedem einzelnen Fach. Als würde er nicht nur ein paar Tage verreisen, sondern gleich auswandern wollen. Worauf auch die Kisten hindeuteten, die sich in der Ecke stapelten, in der zuvor die Gitarren gelehnt hatten. Die Instrumente waren weg. Genauso wie Oscars Bücher, sein Bettzeug, alles, was sich zuvor auf dem Schreibtisch getürmt hatte.

»Was machst du denn?«, flüsterte Florence.

»Ich … äh.« Oscar räusperte sich. Dann fuhr er sich mit einer Hand durch die schwarzen Haare und begann erneut. »Ich kann nicht alles mit in den Flieger nehmen, darum packe ich das ganze Zeug jetzt zusammen und lasse es dann abholen.«

»Aber …« Wie in Trance löste Florence ihren Blick von dem, was einmal Oscars wohnliches Zimmer gewesen war, und sah ihn an. »Wohin schickst du die Sachen denn?« In ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme schrill und ungläubig und verzweifelt. In Oscars Ohren klang sie sanft wie üblich, und sein Herz zog sich zusammen.

»Ich hätte es dir noch gesagt«, erklärte er. »Ich wollte anrufen heute Abend. Spätestens morgen. Gleich, nachdem ich mit Mrs. Wilde gesprochen habe. Das steht auch noch aus.« Er schluckte. Legte eine Pause ein in der Hoffnung, Florence möge ihn auch so verstehen, doch sie runzelte schweigend die Stirn.

Oscar seufzte. »Ich fliege nach Irland. Morgen Nachmittag. Und nicht nur über Weihnachten. Ich habe mit meinem Onkel gesprochen, und für ihn ist es in Ordnung, wenn ich im Pub mitarbeite, erst mal hinter dem Tresen, und wenn in der Küche was frei wird …« Er zuckte die Achseln.

»Ich wusste nicht, dass du zurückwillst«. Florences Stimme war kaum mehr zu hören.

Das wusste ich auch nicht, dachte er. Laut sagte er: »Irland, Land der grünen Wiesen und des Klees. Der Schafe und … keine Ahnung. Das wird super.«

Florence sah nicht so aus, als wollte sie ihm glauben. Und weil Oscar ohnehin keine Lust hatte, seiner Freundin weiter etwas vorzumachen, fragte er seinerseits: »Also was tust du hier?« Er nickte in Richtung der Reisetasche, die sie nach wie vor in der Hand hielt. »Wolltest du Weihnachten nicht mit deiner Familie verbringen?«

Wie schon zuvor dauerte es einige Sekunden, bis seine Freundin antwortete – als seien alle Worte, die sie hatte, plötzlich davongeflogen, und sie musste sie erst einfangen, um etwas erwidern zu können. »Es war schrecklich zu Hause«, sagte sie schließlich, »wie immer. Ich hätte eigentlich gar nicht hinfahren sollen.«

»Nein?«

Sie hob eine Schulter. »Darum bin ich zurückgekommen. Vielleicht kann Mrs. Wilde meine Hilfe ja doch brauchen.«

»Ja, das ist ziemlich gut möglich«, sagte Oscar und schüttelte sich mehr und mehr aus seinen trüben Abschiedsgedanken. »Unser Küchendrache ist wie gesagt auch schon oben. Sie wollte mich überreden mitzukommen, aber …« Er deutete auf die Kisten. »Ach, was sage ich, überreden … Du kennst sie. Es klang wie ein Befehl, in Stahlwolle gepackt. Oscar!«, imitierte er Dotties Stimme, »bevor du hier Patina ansetzt …«

»Was wolltest du mich fragen«, unterbrach Florence ihn, »als wir uns letztens oben am Hotel getroffen haben? Vorm Eingang, wo die Mistelzweige hängen?«

Oscars Augen weiteten sich. Er hätte nicht gedacht, dass Florence sich daran erinnerte, dass er sie überhaupt etwas hatte fragen wollen … Und wenn ihr das bewusst gewesen war, dann womöglich auch, was diese Frage beinhaltet hätte. Den Kuss nämlich. Den ersten und einzigen Kuss, den sie geteilt hatten, als sie noch Teenager waren.

Das konnte er ihr unmöglich sagen.

»Ob ich mich an etwas erinnere? Etwas von früher?« Sie blickte Oscar auffordernd an, und der, ganz gegen seine Art, sah auf einmal äußerst verlegen drein.

»Keine Ahnung«, murmelte er. »Sicher war das nichts Wichtiges.« Er zuckte mit den Schultern.

Florence wartete einige Sekunden, ob Oscar noch etwas sagen wollte, dann nickte sie. Er bemerkte es nicht, weil er auf den Boden starrte, doch in ihren Augen hatten sich Tränen gesammelt, weshalb sie sich rasch wegdrehte.

»Ich gehe mich umziehen«, sagte sie. »Wenn du Hilfe brauchst …« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen wandte sie sich um, ohne Oscar noch einmal anzusehen, trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Dort blieb sie stehen. Holte einmal tief Luft und lehnte mit diesem Atemzug den Kopf gegen das Holz. Sie war keine sonderlich mutige Person. Sie hatte noch nie in ihrem Leben jemandem gesagt, dass sie ihn mochte, geschweige denn liebte, nicht einmal einem ihrer Geschwister, nicht einmal einem Haustier. Sie hatte noch nie einen Jungen geküsst – keinen, bis auf Oscar, in der siebten Klasse, als er sie nach einer Party nach Hause gebracht hatte.

Oscar hatte auf die Mistelzweige gestarrt und sie gefragt, ob sie sich erinnerte. An damals. Und unmittelbar war ihr das Bild in den Kopf geschossen, das sie seinerzeit abgegeben haben mussten, er und sie, im Dunkeln dieser Einfahrt nacheinander tastend, seine Hand schließlich in ihrem Nacken und sein Mund an ihrem Ohr, von wo aus er langsam und ganz sanft zu ihren Lippen gewandert war. Es war ihr erster und einziger Kuss gewesen, und trotzdem hielt Florence ihn für den schönsten, den die Welt je gesehen hatte, den schönsten von allen.

Und sie wollte nicht, dass Oscar zurück nach Irland ging. Er war nicht nur der Junge von damals, er war ihr bester Freund, seit sie denken konnte, und der Einzige, der sie so nahm, wie sie war. Leise. Schüchtern. Und feige. Doch wenn sie jetzt, in diesem einen Augenblick, nicht mutig war, dann wäre sie für immer und ewig verloren, das spürte sie.

Noch einmal atmete Florence tief ein, dann griff sie nach dem Knauf, und … Sie wollte die Tür gerade öffnen, als sie von der anderen Seite aufgerissen wurde.

Zwei Augenpaare starrten einander an.

Beide braun, eines nur etwas dunkler als das andere.

Aus irgendeinem Grund standen beide Münder einen Spaltbreit offen, und sowohl Florence als auch Oscar atmeten schwer.

Sie starrten einander an.

Und dann begannen beide gleichzeitig zu reden.

»Geh nicht nach Irland.«

»Ich will überhaupt nicht zurück nach Irland.«

»Du bist mein bester Freund.«

»Ich dachte nur, bevor ich zusehe, wie du irgendwann einen anderen …«

»Und ich erinnere mich. An den Kuss. Ich erinnere …«

»Was hast du gesagt?«

Auf einmal war es so still, dass sie die Möwen vor dem Fenster kreischen hörten und den alten Fortunato, der irgendwem irgendetwas hinterherrief.

»Was hast du gesagt?«, wiederholte Oscar, und er rückte ein Stück näher an Florence heran, als stünden sie nicht sowieso schon ganz dicht voreinander.

»Ich erinnere mich«, flüsterte Florence. »An den Kuss.« Florence erinnerte sich auch daran, dass sie jetzt mutig sein musste oder es sich sparen konnte für den Rest ihres Lebens. Also streckte sie ihre Hand nach Oscars aus und drückte seine Finger. »Und ich möchte nicht, dass du nach Irland gehst, weil du mein Freund bist. Und der Einzige, der … der …«

Und weil Oscar klar war, wie viel Überwindung diese wenigen Sätze seine Florence gekostet haben mussten, legte er den Zeigefinger seiner freien Hand auf ihre Lippen.

Sie seufzte erleichtert.

»Keine Ahnung, wo diese Mistelzweige sind, wenn man sie am meisten braucht«, murmelte er.

Florence biss sich auf die Lippen. Dann machte auch sie einen Schritt auf Oscar zu und hob ihr Kinn an.

Mehr Zugeständnis konnte kein Mann der Welt erwarten, dachte er. Er beugte sich zu Florence herunter, doch noch bevor seine Lippen die ihren berührten, fragte sie: »Du wirst nicht nach Irland gehen?«

»Irland? Soll das ein Land sein? Leben da Irre?«

Florence lächelte, aber nur fast. Sie hob die Hand und legte sie auf seine Brust. »Du bleibst hier?«

Mit beiden Armen umschloss Oscar ihre Taille und zog sie noch näher zu sich, so nah, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. »An was erinnerst du dich genau?«, flüsterte er, und Florence, die unter Oscars Atem auf ihren Lippen erzitterte, sagte kein Wort mehr, sondern zeigte es ihm.