Nachdem Gretchen sich vergewissert hatte, dass Minnie Barnes’ kostbarer Hauptdarsteller nicht entführt worden war (also, er war entführt worden, aber zumindest drohte ihm keine Gefahr … keine ernsthafte jedenfalls), ließ sie ihr Handy sinken und sah sich für einen Augenblick in der Eingangshalle des Hotels um. Der Sturm auf die Lobby war weitestgehend gebannt. Es war ihnen gelungen, die tobende Meute von weiß der Himmel wie vielen kreischenden Fans nach draußen auf den Vorplatz zu schieben, doch das mittlerweile verlassene Foyer sah aus, als wären mindestens doppelt so viele hier eingefallen und hätten Party gemacht. Gläser und Flaschen lagen verstreut auf dem Boden, Möbel waren verrückt oder umgestoßen worden, eines der Bücherregale war umgekippt. Gretchen rieb sich die Augen. Ihr war auf einmal so, als habe sie genau davor Angst gehabt, als sie den Filmleuten so zögernd ihre Zustimmung gegeben hatte – dass sie das Wild at Heart niedertrampeln würden, ohne mit der Wimper zu zucken.
Vor dem Hotel war der Tumult nach wie vor groß. Irgendwer hatte die Polizei gerufen. Die versuchte nun gemeinsam mit der Security, die Menschenansammlung zu zerstreuen und die aufgeregten Fans zurück auf ihren Weg zu schicken, was sich als weniger einfach gestaltete als gedacht. Einige der Neugierigen hielten sich im Wald versteckt, andere zwischen den Wohnwagen, und wieder andere im Stall, was Nettie ihr berichtet hatte, als sie mit Damien im Schlepptau zu ihr gestoßen war.
»Unglaublich«, knurrte sie, »Paolo war total aufgebracht. Zwei irre Trullas hatten sich in seiner Box versteckt.«
»Die Trullas sind jetzt vermutlich genauso aufgebracht«, sagte Damien an Gretchen gewandt. »Nettie hat sie mit der Heugabel verjagt.«
»Ich hoffe, du hast sie nicht aus Versehen mit der Spitze am Hinterteil erwischt«, sagte Gretchen, doch es klang eher hoffnungsvoll.
Damien lachte. »Vielleicht ist es doch gut, dass Nettie die Waffe hatte, nicht du«, meinte er. »Was ist das hier überhaupt? Woher kommen die ganzen Leute?«
»Ich kann dir sagen, wie so etwas funktioniert«, sagte Nettie trocken. »Du schmierst einen der Security-Leute oder irgendjemand anderen vom Set, und bekommst genau die Info, die du haben möchtest. So ist Damien heute ans Set gekommen, stimmt’s?«
Damien zuckte mit den Schultern. »Unglücklicherweise, ja. Scheinbar werden hier jeden Tag Leute durchgeschleust, ohne dass die Produktion davon etwas mitbekommt.«
Gretchen seufzte. »Ich werde das mit Minnie Barnes besprechen. Geht ihr zwei nur schon rein, die größte Aufregung ist vorbei.«
Sie sah ihrer Tochter nach, die mit Damien in die Hotelhalle trat und sofort damit begann, Gläser und Flaschen einzusammeln und Möbel an ihren Platz zu rücken. Wo steckt eigentlich Theo?, fragte sie sich. Ihr Schwiegervater machte in diesen Tagen hauptsächlich durch Abwesenheit von sich reden. Und als habe sie ihn mit ihren Gedanken herbeigezaubert, trat er genau in diesem Augenblick durch eine kleine Ansammlung Polizisten auf sie zu.
»Da bist du«, begann er. »Die Polizei sagt, es habe in den sozialen Medien einen Aufruf gegeben, dass Noah Perry sich in der Bar unseres Hotels befände. Deshalb seien so viele auf einmal hierhergestürmt. Es sollen an die zweihundertfünfzig gewesen sein.«
»Einen Aufruf?«, fragte Gretchen. »Und dem folgen zweihundertfünfzig Menschen? Sind die Leute denn verrückt geworden?«
»So läuft das heutzutage, schätze ich.«
»Ich werde mit Minnie sprechen. Dann müssen sie eben die Anzahl der Sicherheitsleute erhöhen, wenn die Möglichkeit besteht, dass wir gestürmt werden. Ich werde nicht zulassen, dass sie unser Hotel überrennen.«
»Recht so. Zeig’s der kleinen Minnie Mouse.« Theo kicherte.
»Irgendwann, Theo, beißt dich dein britischer Humor in den Hintern.«
»Was für ein schöner Satz, Gretchen. Daran erkennt man, dass du schon fast eine von uns bist.«
Gretchen verdrehte die Augen. Theo erklärte, er werde Nettie beim Aufräumen helfen, während sie selbst sich einmal mehr nach Mrs. Barnes umsah. Als sie die Aufnahmeleiterin nirgendwo entdecken konnte, beschloss sie, nach Heather zu sehen. Sie war in ihre Suite geflohen, nachdem sich der erste Trubel aufgelöst hatte, und vielleicht war Minnie the Monster ja dort, um das aufgebrachte Gemüt ihres zweiten Superstars zu pflegen.
Wie sich herausstellte, war Heather Mompeller allerdings nur halb so aufgebracht, wie Gretchen angenommen hatte. Zwar musste sie abermals öfter als einmal klopfen und darüber hinaus nach der jungen Frau rufen, doch als sie endlich die Tür zu ihrer Suite öffnete, wirkte Heather weniger aufgeregt als unglücklich. Sie hielt ihr Smartphone umklammert. Und sie machte den Eindruck, als sei Gesellschaft das Letzte, das sie in diesem Augenblick gebrauchen konnte, weshalb Gretchen ihr nur rasch versicherte, dass die Gefahr in der Lobby nun gebannt war (was Heather Mompeller augenscheinlich nicht sehr interessierte) und dass Tumulte dieser Art künftig hoffentlich nicht mehr vorkämen (was sie ebenfalls nur mit einem müden Kopfnicken quittierte). Just in dem Moment, in dem Gretchen die Tür vor der Nase zugedrückt wurde, klingelte auch schon wieder ihr Handy, eine tobende Minnie Barnes am anderen Ende der Leitung, die nach Gretchens Erläuterung darauf bestand zu erfahren, wo genau sich die undichten Stellen in ihrem Team und der Sicherheitsfirma befanden, um diese schnellstmöglich zu entfernen.
Sie hatte dieses Gespräch gerade beendet, als das Telefon erneut zu läuten begann. Nicholas.
»Hey.« Mit Sicherheit klang Gretchen exakt so erschöpft, wie sie sich fühlte.
»Hey, wo steckst du?«
»Erster Stock, dritte Tür links.«
Nicholas lachte. »Und? Wie geht es der Diva?«
»Kann ich nicht so genau sagen. Sie hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.«
»Aaah«, sagte Nick. »So gut also. Und ihrem Freund?«
»Den hat Sara entführt.«
»Wie bitte?«
Gretchen seufze. »Ich erklär’s dir später, okay?« Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete einmal tief ein. Irgendetwas hielt sie davon ab, dieses sichere, ruhige Obergeschoss gleich wieder zu verlassen, zumal Nicholas’ sanfte, dunkle Stimme sie zusätzlich einlullte. »Erzählt mir was Schönes«, bat sie.
»Schön, im Sinne von … Alles wird gut?« Nicholas lachte leise. »Die Polizei macht große Fortschritte damit, den Massenauflauf da draußen zu zerstreuen. Das gröbste Chaos in der Lobby ist beseitigt. Minnie Barnes’ Geschrei ist durch die geschlossene Eingangstür kaum mehr zu hören.«
»Kaum mehr?«
»Nun. Man versteht schon noch jedes Wort«, räumte Nick ein, »aber sehr viel leiser. Es klingt nur noch halb wie ein Amoklauf, wobei ich dennoch bezweifle, dass ihr Security-Team das überlebt. Sie hat mit Pest und Cholera gedroht, wenn sie diejenigen ausfindig macht, die das Ganze hier verursacht haben. Ich möchte wetten, dass sie das komplette Sicherheitsteam austauschen lässt und die Kabelträger noch dazu.«
»Vielleicht möchte sie auch die Location wechseln. Ich hätte nichts dagegen.«
Noch einmal lachte Nicholas, und Gretchen wurde ganz wohl bei der Wärme, die seine Stimme ausstrahlte.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Erster Stock, erste Tür rechts.«
Gretchen sah im selben Augenblick auf, in dem Nick um die Ecke trat, Handy am Ohr. Gleichzeitig ließen sie ihre Telefone sinken, gingen aufeinander zu und schlossen einander in die Arme.
Wäre doch nur alles so einfach, wunderbar und aufbauend wie eine Umarmung von Nicholas, dachte Gretchen, als sie einige Minuten später mit ihm gemeinsam ihre Wohnung betrat. Minerva Barnes hatte nicht lockergelassen, bevor Gretchen eingewilligt hatte, Damien und Nettie nach der Sicherheitslücke zu fragen, durch die sie heute ans Set gelangt waren. Es war inzwischen beinahe halb elf, und sie konnte sich Besseres vorstellen, als ihre Tochter und deren … Freund? Kumpel? Wusste man es so genau? … an ihrem letzten gemeinsamen Abend zu stören.
»Diese Frau«, grummelte sie, kurz bevor sie Netties Zimmertür erreicht hatten. »Macht ihrem Namen alle Ehre.«
»Minerva? Wofür steht der Name denn?«
»Klingt wie eine Oberbefehlshaberin, oder etwa nicht? Minerva meldet sich zum Dienst. Stillgestanden, hier kommt Minerva!«
»Du bist niedlich, wenn du wütend bist.« Von hinten legte Nicholas beide Arme um Gretchen und zog sie an sich. Langsam küsste er ihren Nacken entlang, während seine Hände über ihren flachen Bauch strichen.
»Niedlich«, echote Gretchen, doch sie schnurrte dabei, während sie wie automatisch ihre Augen schloss und sich nach hinten, gegen Nicks breite Brust, fallen ließ.
»Mmh«, machte Nicholas.
»Aaaaah«, stöhnte eine helle Stimme.
Gretchen riss die Augen wieder auf, im selben Moment ließ Nick seine Hände sinken.
»Aaaah, uuuuh«, stöhnte es.
»Was ist das?«, fragte er flüsternd. Gretchen hörte das Lachen in seiner Stimme, doch ob der Richtung, aus der sie das Stöhnen vernahm, war ihr selbst weniger zum Lachen zumute.
»Oh Gott, uuuh …«
»Das …« Ruckartig löste sich Gretchen aus Nicks Umarmung. »Das kommt aus Netties Zimmer.« Sie flüsterte zwar ebenfalls, doch irgendwie klang es fast wie geschrien. »Was machen die da drin? Es hört sich an, als hätten sie … als würden sie …«
»Ist sie mit Damien da drin?«
»Mit wem sonst? Ich meine, ich hoffe es, ich …«
»Oh, oh, oh Gott!«
»Nicholas!« Gretchen starrte ihren Liebsten an, während sie mit einem Ohr an der Tür zum Zimmer ihrer Tochter klebte, obwohl die Sexgeräusche ohnehin lauter und lauter wurden. »Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Ja, ja, ja!«, tönte es durch die Zimmertür.
Gretchen starrte Nicholas an, er starrte auf den Türknauf. Für einige Sekunden und zu mittlerweile beider Entsetzen dauerte das Stöhnen an, dann war plötzlich Ruhe.
Jemand murmelte etwas.
Was jetzt?, fragte Gretchen lautlos, doch Nick schüttelte nur den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wie man damit umging, wenn man die eigene Tochter beim Sex erwischte. Beim reichlich verfrühten, definitiv für dieses Alter zu ausschweifenden Sex.
Gretchen nahm Nicholas bei der Hand, zog ihn zurück zu der Tür, die in die Lobby führte, und schlüpfte hinaus.
»Gott, ich hoffe, das war nicht das, wonach es sich angehört hat«, sagte sie.
»Nun, wo du es jetzt so sagst – Gott scheint auf jeden Fall etwas mit dieser Sache zu tun gehabt zu haben.«
»Nick!« Gretchen schlug ihm auf die Schulter. »Das ist nicht witzig!«
»Ich weiß. Es ist nur irgendwie …« Er verkniff sich ein Lächeln, das sah Gretchen genau, und sagte ganz ruhig: »Du solltest jetzt kein Drama daraus machen.«
»Das kann nur einer sagen, der selbst keine Kinder hat«, erwiderte Gretchen gereizt.
»Sie ist sechzehn.«
»Ganz genau – sechzehn!«
»Mit sechzehn, da …«, begann Nicholas, doch als er dabei zusah, wie Gretchens Augen schmaler wurden, setzte er den Satz intelligenterweise nicht fort. »Wenn du Nettie jetzt in eine richtig peinliche Situation bringst«, sagte er stattdessen, »traumatisierst du sie am Ende.«
Gretchen schwieg, während sie mit den Fingern auf dem Türknauf herumtippte. Schließlich nickte sie. »Lass uns noch mal reingehen, aber diesmal machen wir richtig viel Lärm. Und zwar so lange, dass die zwei eine Chance haben, sich wenigstens notdürftig zu bedecken.«
Nick gab einen Laut von sich, der schwer danach klang, als wollte er lachen, am Ende aber hustete er nur und nickte. Er griff schon nach dem Knauf, um Gretchen die Tür zu öffnen, als sie seine Hand festhielt und stattdessen mit der Faust gegen das Holz hämmerte. »Ha!«, rief sie dabei so laut, dass Nicholas zusammenzuckte. »Das ist ja wirklich zu witzig, das muss ich sofort Nettie erzählen. HAHA!«
Brüllend wie ein Bär riss Gretchen die Tür auf, um dann wie ein Kamel in den Gang zu trampeln.
»Was willst du Nettie erzählen?«, rief Nick über ihre Schulter.
»Na, dass …«, rief Gretchen, bevor sie Nicholas einen verärgerten Blick zuwarf und »Keine Ahnung« raunte. Stattdessen trampelte sie noch ein wenig mehr, zwar langsam, aber bedrohlich laut in Richtung Netties Zimmertür.
»Minerva, die Schreckliche möchte wissen, wer von der Security sich hat schmieren lassen«, brüllte sie jetzt.
»Ah«, schrie Nick. »Und Nettie weiß darüber etwas?«
»Ja«, rief Gretchen, und allmählich hatten ihre Stimmen etwas Theatralisches angenommen, so, als stünden sie auf einer Bühne und wollten mit ihrem Dialog auch noch die obersten Ränge erreichen. »Das denke ich schon. Sie und Damien …«
»Mum?«
Gretchen zuckte zusammen, als hinter ihr die Tür aufflog und Nettie im Rahmen stand. »Was ist denn hier los?«, fragte sie. »Wieso schreit ihr rum, und was soll dieses gestelzte Gerede?«
»Ähm«, gab Gretchen zurück, doch für den Moment fehlten ihr die Worte. Nettie sah ganz und gar entspannt aus, bekleidet von Kopf bis Fuß, die Wangen nicht gerötet, die Augen nicht glasig, die Haare nicht zerzauster als sonst auch. Hinter ihr steckte Damien den Kopf zur Tür heraus. Er kaute und hielt eine Packung Chips in der Hand. »Probt ihr ein Theaterstück oder sowas?«, fragte er.
»Nein.« Nicholas, der sich schneller wieder gefangen hatte als Gretchen, legte seiner Freundin einen Arm um die Schultern. »Minerva Barnes möchte wissen, wem ihr Geld dafür gegeben habt, um ans Set zu kommen.«
»Ah.« Damien nickte. Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, da platzte Gretchen dazwischen:
»Wir haben euch doch nicht bei irgendetwas gestört, oder? Es klang … es klang …« Hilfesuchend sah sie zu Nick.
»Laut«, sagte der.
Damien nickte. »Das ist die alte VHS-Kassette. Der Ton ist schrecklich, wir mussten aufdrehen bis zum Anschlag.«
»VHS-Kassette«, wiederholte Gretchen.
»Ein Videofilm, Mum«, erklärte Nettie und verdrehte die Augen. »Deine Generation müsste den Ausdruck doch eigentlich noch kennen.«
»Meine …«, begann Gretchen, doch als habe sie eben beschlossen, dass sie beinahe wie ein Papagei klang, klappte sie ihren Mund wieder zu.
»Was habt ihr angeschaut?«, fragte Nicholas harmlos.
»Harry und Sally.«
»Harry und …«, begann Gretchen erneut, dann schüttelte sie sich. »Okay«, rief sie stattdessen. »Dann wollen wir nicht weiter stören!« Womit sie Nettie geradezu zurück in ihr Zimmer schob, bevor sie die Tür zuzog und ihr Gesicht in Nicks T-Shirt vergrub, alles aus einer Bewegung heraus. Sie begann zu kichern.
»Was?«, fragte Nicholas, doch als Gretchen an seiner Brust zu vibrieren begann, musste er mitlachen. »Was ist so witzig?«
»Pssst.« Gretchen zog ihn von der Tür weg mit sich in die Küche. Dort schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte einen Kuss auf seine Lippen. »Harry und Sally«, sagte sie. »Die Orgasmus-Szene. Legendär.«
»Die Orgasmus-Szene?« Nick zog die Brauen nach oben.
»Du hast den Film nie gesehen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Hättest du ihn gesehen, würdest du sich an diese Szene erinnern.« Gretchen seufzte. Dann ließ sie ihre Wange erneut gegen Nicholas’ Brust sinken und sagte: »Ich spiel sie dir bei Gelegenheit vor«, bevor sie erneut zu lachen begann.