Damien war bisher immer nur im Sommer auf Port Magdalen gewesen. Er hatte mit Nettie im Gras gelegen, war geschwommen und gesegelt, hatte auf ebendieser niedrigen Steinmauer gesessen, die das kleine Kirchlein auf der Spitze der Insel umgab und von der aus man einen fantastischen Blick über die Klippen hinaus aufs Meer genoss.
Jetzt saß er wieder dort. Diesmal allerdings steckten seine Hände in den Taschen einer Wind- und Regenjacke, deren Kragen er bis unters Kinn gezogen hatte, so frisch war es hier oben. Die Winter in Cornwall waren generell mild, das wusste er aus Netties Erzählungen, doch an diesem Nachmittag fegte der Wind dunkle Novemberwolken über die Insel, und die gefühlte Temperatur entsprach in etwa der, die Nettie ausstrahlte. Was auf jeden Fall zu kühl war. Sie hatten gemeinsam Paolos Stall ausgemistet und dann noch bei den Hühnern sauber gemacht. Kaum drei Worte hatte Nettie in dieser ganzen Zeit mit ihm gesprochen, doch jetzt sagte sie: »Ich kann nicht fassen, dass du wirklich hier bist.«
Tja, dachte Damien. Dann sind wir schon zu zweit. Wenn er absolut ehrlich zu sich war, musste er sich wohl eingestehen, dass er selbst nicht genau wusste, weshalb es auf einmal nichts Dringenderes für ihn zu geben schien, als nach Port Magdalen zu kommen. Donnerstagvormittag hatte ihm Charlotte eine SMS geschickt. Am nächsten Morgen war er in ein Auto gestiegen und nach Cornwall gefahren. Er hatte solches Glück gehabt. Dass sich die Gelegenheit überhaupt so spontan ergeben hatte, grenzte an ein Wunder. Oder … War es womöglich doch Schicksal? »Ich …« Er klappte den Mund zu. Dann setzte er noch mal an: »Freunde meiner Väter sind übers Wochenende nach Truro gefahren, zu einer Hochzeit. Ich hab gefragt, ob sie mich mitnehmen können. Und, tja … hier bin ich.«
»Tja«, echote Nettie. Und erneut breitete sich Schweigen aus. Tatsächlich schwieg Nettie so lange, dass sich Damien schon fragte, ob es nicht ein riesengroßer Fehler gewesen war herzukommen. Ob er nicht besser erst einmal geschrieben hätte, einen Brief oder eine Nachricht, um vorzufühlen, was ihn hier in Cornwall erwartete. Er hatte sich derart spontan dazu entschlossen, es war geradezu kopflos zu nennen. Sie war mit diesem Kevin ausgegangen. Und der erzählte laut Charlotte herum, dass die zwei jetzt ein Paar waren. War sich Damien im Sommer noch nicht recht darüber im Klaren gewesen, was er für Nettie empfand und wie es mit ihnen zukünftig weitergehen sollte, konnte er jetzt nach der einen kleinen Textnachricht von dieser nervigen Charlotte zumindest sagen … Damien seufzte. Was auch immer. Mit Kevin jedenfalls sollte Nettie nicht zusammen sein. Nicht, nachdem Damien die vergangenen Monate so unter ihrer Trennung gelitten hatte.
Dass die Zeit für ihn schwierig gewesen war, war eine absolute Untertreibung. Die Stille, die zwischen ihm und dem Mädchen herrschte, mit dem er in seinem Leben am längsten befreundet war, hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen bereitet. Magenschmerzen hauptsächlich, weshalb es auch kein Wunder war, dass seine Kleidung an ihm schlackerte. Was auch seinen Vätern aufgefallen war, die sich allmählich um Damiens Gesundheit sorgten. Auch aus diesem Grund hatten sich die beiden einverstanden erklärt, dass Damien bereits Freitagmorgen mit den Bekannten der Angoves nach Truro fuhr – Schule hin, Schule her. Sie hatten keine Ahnung, was zwischen Damien und Nettie vorgefallen war, jedoch genug Verstand, um zu erkennen, dass die beiden klären mussten, was auch immer da zwischen ihnen lag.
Das galt erst recht, wenn Nettie nun offenbar mit Jungs wie Kevin ausging, um … ja, was? Mochte sie den Kerl am Ende wirklich? War das ihr Typ? Blond und dumm? Hatte sie überhaupt je in Betracht gezogen, dass Damien für sie mehr sein könnte als nur ein Freund? Er musste zweimal tief ein- und ausatmen, um sich davon abzuhalten, all das einfach auszuplaudern. Er hatte nach wie vor keine Ahnung, wie er Nettie erklären sollte, warum er hier war und dass er der Richtige für sie war, nicht irgendein Kevin.
Also holte er einmal mehr Luft und sagte: »Ich hätte vorher anrufen sollen. Ich hab dich überrumpelt, das tut mir echt leid.«
»Nein.« Nettie sah aufs Meer hinaus, auf die dunkelgrauen Wellen, die sich aufgebracht unter dem Wind kräuselten. Die Sonne würde bald untergehen – schon um halb fünf um diese Jahreszeit –, und bereits jetzt konnte Damien Netties Gesichtszüge nicht mehr mühelos erkennen. »Ist schon gut.«
»Ich kann wieder fahren, wenn du …«
»Nein.« Nettie sah ihn an. »Es ist in Ordnung. Wirklich. Ich muss mich nur erst daran gewöhnen, dass du jetzt hier bist.«
»Es ist in Ordnung? Du musst dich erst daran gewöhnen?« Damien machte ein finsteres Gesicht. »Das klingt ja wahnsinnig überschwänglich. Als würdest du dich richtig freuen.«
Überrascht hob Nettie die Brauen. »Was erwartest du denn? Du hast dich fast vier Monate nicht bei mir gemeldet!«
»Du hast dich doch auch nicht gemeldet.«
»Ja, was hätte ich denn auch sagen sollen?«
»Keine Ahnung? Ist das nicht genau das Problem?«
Nettie starrte Damien an. Ihr Gesicht drückte mittlerweile pures Unverständnis aus, doch ihre Gedanken schweiften in eine andere Richtung. Sie dachte an die Briefe, die sie geschrieben hatte. An den letzten von heute Vormittag, an das Bild mit den Rissen im Eis, die Zeit und kalte Luft benötigten, um wieder ganz zu werden, und daran, dass trotzdem immer Narben bleiben würden, egal, wie gut der Heilungsprozess auch verlief.
»Aaaah, tut mir leid.« Mit beiden Händen raufte sich Damien die Haare. »Ich hab keine Ahnung … Ich weiß einfach nicht …« Er stöhnte.
Und dann schwiegen sie wieder. Und Nettie fragte sich, nicht zum ersten Mal, wann all das zwischen ihnen so kompliziert geworden war.
Als es ihr wieder einfiel, stand sie auf und lief in Richtung Hotel zurück.
»Du kannst nicht in meinem Zimmer schlafen«, erklärte Nettie, während sie den Weg von der alten Kapelle hinunter zum Hotel einschlugen, und Damiens Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Natürlich nicht.«
»Vielleicht ist bei Grandpa noch Platz. In diesem alten Schäferwagen, in dem er jetzt wohnt.«
»Dein Großvater wohnt in einem Schäferwagen?«
»Er steht direkt vor dem Haus, da, wo die Scheune war. Ist er dir nicht aufgefallen? Grandpa hat ihn Hank getauft.«
»Hank?«
Nettie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe jede Menge von diesen Filmwohnwagen gesehen«, sagte Damien. »Ist es wahr, dass sie hier eine Fantasy-Serie drehen, und dass Noah Perry die Hauptrolle spielt?«
Nettie gab einen abfälligen Laut von sich. »Bist du etwa auch ein Fan von diesem Perry? Du klingst beinahe so aufgeregt wie Charlotte.« Sie hatte den Namen kaum ausgesprochen, da biss sie sich schon auf die Lippen. Auf keinen Fall wollte sie Damien Charlotte ins Gedächtnis rufen, was machte sie denn da?
»Ich möchte niemals klingen wie deine Freundin Charlotte«, sagte Damien, und von der Seite warf Nettie ihm einen Blick zu. »Nicht einmal, wenn ich aufgeregt bin.«
Nettie schwieg. Doch sie fragte sich, ob Damien wusste, dass sie damals eifersüchtig gewesen war, als sie den Nachmittag im Schwimmbad verbracht hatten und er schamlos mit Charlotte geflirtet hatte. Ob er ihr jetzt sagen wollte, dass das alles harmlos gewesen sei? Dass er Charlotte nicht einmal sonderlich mochte?
»Nettie?«
»Hm?«
»Ich finde schon, dass wir darüber sprechen sollten. Über alles, meine ich.«
»Mmh.«
»Es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Es sei denn, dir ist egal, was hier mit uns passiert. Und … es sei denn … es gibt da vielleicht inzwischen jemand anderen. Der dir wichtiger ist.«
Nettie blinzelte. Dann blieb sie abrupt stehen. »Was?«
»Hm?« Zu seinem Pech war es noch nicht dunkel genug, sodass Nettie die Röte nicht entging, die Damien in die Wangen stieg, ebenso wenig wie die betont unschuldige Miene, die er aufgesetzt hatte.
»Was hast du da eben gesagt?«, wiederholte sie.
»Ich finde, wir können nicht ewig so umeinander herumschleichen, wie wir es jetzt gerade tun. Wir sollten darüber sprechen, was passiert ist, und …«
»Ich meine – das mit dem anderen. Der mir womöglich wichtiger ist als du. Wie war das gemeint?«
Tja, dachte Damien bei sich. Bingo. Das hast du ja wirklich geschickt eingefädelt. »Ich meinte …«, erklärte er, während er sich aufs Neue die Haare raufte, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein. »Ich meine, wir sind kein Paar oder so, jedenfalls waren wir das bisher nicht, aber … wir haben uns geküsst und …«
Automatisch verzog Nettie das Gesicht, und Damien war auf einmal wütend.
»Na gut, dann haben wir uns eben geküsst, was ist denn schon dabei?«, rief er. »Verdammt, Nettie, wie alt bist du, zwölf? Du kannst mir nicht einmal ins Gesicht sehen, wenn ich es ausspreche, aber zu irgendeinem Idioten laufen und den küssen, das kannst du schon?«
Abrupt klappte Damien den Mund wieder zu. Bingo Bongo. Wenn er so weitermachte, konnte er sich gleich selbst eine Grube schaufeln, um darin zu verschwinden, so viel stand fest.
Und Nettie, Nettie wusste gar nicht, was sie zuerst denken sollte. Da beschuldigte Damien sie der Unreife, weil es ihr peinlich war, dass … Ja, was genau war ihr eigentlich peinlich? Dass Damien, ihr bester Freund, sie auf einmal geküsst hatte? Oder dass es ihr zu gut gefallen hatte? So gut, dass sie an nichts anderes denken konnte? So gut, dass sie sich fragte, ob sie in ihren besten Freund verliebt war und es nicht besser wäre, sich mit einem anderen abzulenken, um darüber hinwegzukommen? Und wieso wusste Damien überhaupt davon? Woher wusste er, dass sie Kevin geküsst hatte?
»Charlotte«, murmelte sie. Sie sah Damien an. »Ist das dein Ernst? Charlotte?«
»Nettie …«
Ohne ein weiteres Wort marschierte sie in Richtung Hoteleingang davon.
»Nettie!«, rief Damien noch einmal und lief hinter ihr her. »Jetzt komm schon. Mach kein Riesendi…« Er unterbrach sich, als Nettie stehen blieb, sich zu ihm umdrehte und die Hände in die Hüften stemmte.
»Mach kein Riesending draus? Du meldest dich Urzeiten nicht, und dann, als du erfährst, dass ich womöglich einen anderen geküsst habe, kommst du hier angebraust und willst … Ja, was eigentlich, Damien? Was willst du mir damit sagen? Dass ich zu unreif bin, um länger deine Freundin zu sein?«
»Du weißt ganz genau, dass ich das damit nicht sagen wollte«, erwiderte Damien verärgert.
Und ja, das wusste Nettie. Sie ahnte, tief in ihrem Innern, dass ihr Freund Damien genauso verwirrt war wie sie und sich genauso schwer damit tat, die Dinge anzusprechen.
Weshalb sie nun mit der Hand über ihre Stirn rieb, eine Geste der Kapitulation.
»Lass uns eine Nacht darüber schlafen, und morgen in Ruhe weiterreden«, sagte sie. Sie kam sich furchtbar erwachsen dabei vor, doch Damien reagierte nicht. Und sie sah ihn nicht an, als sie ihren Weg in die Richtung fortsetzte, in der der Schäferwagen ihres Großvaters stand. Doch am knirschenden Kies hinter sich konnte sie erkennen, dass Damien ihr folgte.