Theo hätte nicht sagen können, was genau mit Nettie los war, allerdings wirkte sie nach dem Wochenende mit Damien noch launischer als die Monate zuvor. Die beiden hatten sich lautstark gestritten – so laut, dass er es bis hinaus in seinen Wohnwagen gehört hatte. Unmittelbar danach hatte Damien seine Sachen gepackt, er hatte nicht mal bis Sonntagmorgen gewartet. Sonntagnachmittag dagegen war ein junger Mann hier aufgetaucht, den Theo nie zuvor gesehen hatte. Oder womöglich hatte er ihn schon einmal gesehen, bei einer von Netties Schulaufführungen, vielleicht bei einem Geburtstag, doch war ihm der Junge kein Begriff, bevor er am Sonntag hier erschienen war und mit seiner Enkelin in deren Zimmer verschwand. Kevin hieß er, immerhin so viel hatte Theo mitbekommen. Und dass Gretchen genauso wenig über ihn wusste wie er.
Was seine Schwiegertochter betraf, war die erfreulicherweise um einiges besser gelaunt als ihre Tochter. Nicholas verbrachte sehr viel seiner freien Zeit im Hotel und half, wo es nötig war. Und die Gelassenheit, die der Mann ausstrahlte, schien auf irgendeine Weise auch auf Gretchen abzufärben. Nichts konnte ihr dieser Tage etwas anhaben. Keine Schauspielerin mit Sonderwünschen, kein Regisseur, der mehr bellte als fragte, und auch keine Minnie Barnes, die eine Pressekonferenz in einen Staatsakt verwandelte, mit Gretchen als ihre Exekutive sozusagen, die ausführende Kraft, die Minnies Visionen in die Tat umzusetzen hatte.
»Wir brauchen in jedem Fall noch mehr Stühle da drüben«, erklärte Minerva gerade, während sie zwischen den Reihen hindurchmarschierte wie ein Flamingo auf der Balz. »Es haben sich mehr als fünfzig einschlägige Journalisten angekündigt, wir müssen die Sitze näher zusammenstellen.«
»Aye, Aye, Käpt’n«, murmelte Theo und begann, die Stühle platzsparender anzuordnen, während Gretchen einem der jungen Männer, die die ausgeliehenen Möbel geliefert hatten, erklärte, er möge noch mehr herankarren. »Test, Test«, raunte jemand in ein Mikrofon, dann pfiff eine Rückkopplung durch den Raum, die sich gewaschen hatte. Gretchen zischte. Theo hielt sich mit der Hand ein Ohr zu und schob mit der anderen Stühle zurecht. Nettie, die ohnehin den ganzen Tag schon ein missmutiges Gesicht zur Schau getragen hatte, blickte noch viel missmutiger drein. Theo nahm sich vor, mit seiner Enkelin ein ernstes Wort zu sprechen, sobald dieser Zirkus hier vorbei war.
»Wo sollen die Getränke hin?«
»Gibt es jemanden, der die Anmeldungen im Kopf hat?«
»Wer ist für die Namensschilder zuständig? Hat die schon jemand angefertigt?«
Theo blendete die Stimmen aus, während er durch das zweckentfremdete Restaurant lief und seiner Schwiegertochter half, wo er nur konnte.
Am Ende, sprich, an jenem Mittwochnachmittag standen sie schließlich zu dritt nahe der Tür, um der Pressekonferenz zu lauschen und gegebenenfalls einzugreifen, falls Minnie the Monster oder einer ihrer Schergen noch etwas benötigen sollte. Gretchen trug ihre Hoteluniform wie eine Rüstung. Nach wie vor konnte nichts und niemand ihrem stoischen Gemüt etwas anhaben. Als habe sie seit ihrem unfreiwilligen Bad im Hafenbecken letzten Sommer einfach beschlossen, sich von niemandem mehr aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie hatte sich sogar bezüglich der sogenannten Gastgeschenke (als wäre man auf einer Hochzeit!) durchgesetzt, da sie sich geweigert hatte, sie einzupacken, weshalb die Produktionsfirma sie nun selbst zur Verfügung gestellt hatte. Schmale schwarze Samtbeutel waren das, in denen sich ein Datenstick befand, von dem sich Theo hatte sagen lassen, dass er ein exklusives Stück Filmmusik enthielt sowie einige Fotos vom Set. Daneben gab es ein bebildertes Hochglanzheftchen, in dem die Serie vorgestellt wurde, sowie ein paar Schokoladenschildkröten, die den alten Mann ins Grübeln brachten. Er hatte nicht gewusst, dass Schildkröten in dieser Verfilmung eine Rolle spielten, aber jetzt, wo er sie aus der Nähe betrachtete und im Geiste mit dem Kostüm von diesem Hauptdarsteller verglich … Bruno hatte also mit seinem Planet der Affen gar nicht so falschgelegen.
Apropos Bruno. Wurde langsam Zeit, dass der alte Tunichtgut mal wieder seinen Weg ins Hotel fand. Theo hatte ihn zwei Tage nicht gesehen – er kam nicht mehr hinterher mit der Hotelwäsche, seit er die Handtücher und was sonst noch aus den Trailern zusätzlich reinigen sollte, und Theo allein kam mit den Grabungen nur schleppend voran. Zwar hatte er neben dem Schlüssel noch zwei Porzellanscherben gefunden – weißes Porzellan mit rostroten Linien, die im Ganzen sicherlich einmal ein Muster ergeben hatten und die, wenn es nach Theo ging, Zeugen längst vergangener Tage waren. Was ihr Vorhaben seiner Meinung nach noch dringlicher machte, endlich auf dem Dachboden nach Anhaltspunkten zu suchen, was vor der Scheune auf deren Platz gestanden hatte. Bislang hatte er einfach keine Ruhe gefunden, sich eingehender damit zu befassen.
Theo seufzte.
Einige Damen vor ihm, in der letzten Reihe der Pressevertreter, warfen ihm Blicke zu, die er nicht recht zu deuten vermochte.
Vorn auf dem provisorisch eingerichteten Podium war Minerva Barnes gerade damit beschäftigt, den Inhalt der Serie zu präsentieren. (»Es gab viele Gerüchte darum, was wir hier in Szene setzen, nun wird es Zeit, damit aufzuräumen.«) So stamme die Geschichte von einem durch das Internet bekannt gewordenen, sehr talentierten Comic-Zeichner (von dem Theo selbstverständlich noch nie gehört hatte) und sei als modernes Märchen zu verstehen, eine Mischung aus Robinson Crusoe, Das Tor zu einer anderen Welt und Die Schöne und das Biest.
»Mr. Grumbole«, rief ein Journalist aus dem Publikum, »ist es richtig, dass Sie mit nur zwei Hauptdarstellern eine ganze Serie stemmen wollen?«
»Das ist nicht richtig«, brummte der Regisseur, »wir arbeiten hier auf der Insel hauptsächlich mit Noah und Heather, alle Innenaufnahmen werden aber in London gedreht, und dort sind dann die restlichen Darsteller am Set. Wobei es natürlich schon so ist, dass Noah und Heather den Löwenanteil an der Handlung haben.«
»Wie lange werden Sie noch auf Port Magdalen drehen?«
»Zwei Wochen, wenn alles gut geht.«
»Und wird es doch noch Set-Termine für Journalisten geben?«
»Das ist noch nicht abschließend geklärt«, warf Minnie ein, »wir arbeiten an einem Terminplan.«
»Mr. Perry, ist es wahr, dass Sie für Ihre Teilnahme an diesem Projekt die vierte Staffel Out of Answers absagen mussten?«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Noah, »ich werde im Januar nach Los Angeles fliegen und zur aktuellen Produktion dazustoßen, um meine Szenen abzudrehen.«
»Ist es denn wahr, dass Ihre Freundin Julie Martins aus Ihrem gemeinsamen Haus in Beverly Hills ausgezogen und nach England zurückgekehrt ist?«
Selbst der bis dato reichlich gelangweilte Theo spürte die neuerliche Energie, die bei dieser Frage durch den Raum flirrte. Ein Raunen zog sich durch die Stuhlreihen, und während sich Noah Perrys Haltung ein klein wenig verspannte, blitzten Minervas Augen hinterhältig auf. »Von Fragen, die das Privatleben unserer Schauspieler angeht, bitte ich abzusehen«, rief sie, was Nettie neben Theo ein Schnauben entlockte. Sie schüttelte den Kopf. Auf dem Podium warf Ian Grumbole seiner Aufnahmeleiterin einen Blick zu, der vermutlich ausdruckslos sein sollte, aber irgendwie alles sagte.
»Miss Martins und ich haben uns schon vor einiger Zeit getrennt«, begann Noah ruhig, »das ist allgemein bekannt. Auch dass sie inzwischen nicht mehr in Los Angeles wohnt.«
»Armer Kerl«, raunte Theo seiner Enkelin zu. »Dass er hier über sein Liebesleben Auskunft geben muss.«
»Das muss er ja nicht«, gab Nettie ziemlich mitleidslos zurück. »Sieh sie dir doch an, diese Minnie – wie sie förmlich glüht vor Vorfreude darauf, endlich die Bombe platzen zu lassen.«
»Was für eine Bombe?«
»Na, dass ihre beiden Hauptdarsteller ein Paar sind, diese Bombe.«
»Ach, die sind ein Paar?«
»Psssst.« Einmal mehr warfen die Presse-Damen aus der letzten Stuhlreihe Theo einen mahnenden Blick zu.
»Grandpa, Mum hat uns das doch erzählt, erinnerst du dich nicht?«, flüsterte Nettie. »Dass die beiden heimlich zusammen sind und sie das erst auf der Pressekonferenz öffentlich machen?«
Verwirrt runzelte Theo die Stirn. Dann sah er nach vorn zu Heather Mompeller und von ihr zu Noah Perry, bevor er schließlich den Kopf schüttelte. »Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern«, sagte er, wohl wissend, dass er in den vergangenen Tagen nicht viel mehr als einen rostigen Schlüssel und ein paar Porzellanscherben im Kopf gehabt hatte. Doch ungeachtet dessen – dass die zwei da vorn ein Liebespaar waren, hätte er nie im Leben angenommen. Immer, wenn er die beiden zusammen sah, waren sie entweder in ein nachdenkliches oder ein erhitztes Gespräch vertieft. Mit Sara Gibbs hatte der Kerl harmonischer gewirkt als mit dieser Schauspielerin – und wie er jetzt auf Sara gekommen war, wusste Theo selbst nicht so recht; womöglich war es der Tatsache geschuldet, dass auch sie an der Pressekonferenz teilnahm. Sie stand neben Gretchen und knabberte auf dem Nagel ihres Daumens herum, bis seine Schwiegertochter ihrer Hand einen Klaps versetzte.
»Dann stimmt es nicht, dass Sie und Miss Martins …«
»Keine weiteren Fragen zu diesem Thema, bitte!«, raunzte Minnie.
»Entspricht es denn den Tatsachen, dass Heather Mompeller Grund für die Trennung gewesen ist?«
»Also, wirklich«, rief Minerva, »was ist nur in Sie gefahren?«
Diesmal schnaubte Nettie so laut, dass selbst die Journalisten ein paar Reihen weiter vorn sich nach den Wildes umsahen. Gretchen stieß ihrer Tochter den Ellbogen in die Rippen. »Pssst.«
»Also ehrlich, Mum«, flüsterte Nettie, »du glaubst ihr doch wohl nicht etwa? Tut überrascht, dabei will sie doch nichts mehr, als dass das Thema auf den Tisch kommt, damit sie es vermarkten kann.«
Entschieden presste Gretchen einen Finger auf die Lippen und funkelte ihre Tochter an. Sara dagegen beobachtete die beiden mit gerunzelter Stirn. So wie es aussah, hatte sie ebenso wenig von dieser offenkundigen Verschwörung mitbekommen wie Theo.
»Tut überrascht von den Gerüchten«, murmelte Nettie. »Dabei hat sie sie sicher selbst lanciert.«
Ja, irgendetwas hat ihr die Stimmung verhagelt, dachte Theo mit einem Blick auf seine Enkelin. Und zwar ganz gewaltig.
»Dann ist an den Gerüchten nichts dran, dass Sie, Heather Mompeller, und Sie, Noah Perry, verliebt sind? Vor wie hinter der Kamera?«
»Also«, rief Minnie in gespielter Empörung, »ich habe keine Ahnung, woher Sie das haben, aber das müssen Sie die zwei schon selber fragen!« Womit sie das Mikrofon, das zwischen ihren beiden Hauptdarstellern aufgebaut worden war, ein Stückchen näher an deren Münder heranrückte.
»Uhm«, machte Heather. Sie sah aus wie Fred, wenn jemand anders als Nettie ihn in sein Gehege sperrte – eine Mischung aus Angst und Abwehr im Blick.
Noah betrachtete sie eine Sekunde, dann ergriff er das Mikrofon. »Wenn man so eng zusammenarbeitet, wie wir beide es an diesem Projekt getan haben, dann verschwimmen manchmal die Grenzen zwischen Vorstellung und Realität«, begann er.
Ratlose Stille unter der Zuhörerschaft und eine verwirrt dreinblickende Minerva Barnes, die allmählich die Geduld zu verlieren schien. »Also gut, wenn Sie es genau wissen wollen, und obwohl es rein gar nichts mit dem Inhalt dieser PK zu tun hat –, wir freuen uns sehr, mit einem Schauspielerpaar zu arbeiten, wo nicht nur vor der Kamera die Chemie stimmt, sondern auch dahinter ordentlich Funken sprühen.« Womit sie die Hände gegeneinanderschlug und zu applaudieren begann, während das verblüffte Publikum es ihr gleichtat.
»Ach, du liebe Güte«, knurrte Nettie. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum in Richtung Foyer. Auch Sara sah aus, als wollte sie fluchtartig den Saal verlassen, nicht aber, bevor sie einen letzten Blick auf Noah Perry geworfen hatte, der – oder bildete sich Theo das nur ein? – zur selben Zeit in ihre Richtung sah. Für eine Sekunde schien es so, als verzöge sich sein Gesicht zu einer Grimasse, doch dann glitt erneut eine Maske aus Ruhe und Professionalität über seine Züge. Heather Mompeller dagegen hatte ihre Emotionen nicht so gut im Griff. Sie sprang auf und landete nach einer Bewegung, die verdammt nach Fluchtversuch aussah, in den Armen ihres nun offiziellen Geliebten, wo sie ihr Gesicht gegen seine Schulter drückte und – sofern Theo das richtig beurteilte – zu weinen begann. Die ersten Fotoapparate klickten. Dann mehr. Schließlich wurden Rufe laut. »Heather, hierher!«, »Lass uns an deiner Freude teilhaben, Heather!«, »Noah, dreh dich zu uns, hierher, hierher!«
Jetzt war es Gretchen, die schnaubte. Sie tauschte einen Blick mit Theo. Wie unsensibel musste man sein, um Heathers Ausbruch für Freudentränen zu halten, fragte der sich, doch letztlich zuckte er nur mit den Schultern.
»Gehen wir nach draußen und Dottie zur Hand«, murmelte seine Schwiegertochter, während sie sich beide einen Weg zur Terrassentür bahnten.
»Ah, dieses Glück ist ja kaum auszuhalten!«, rief Minnie, während sie Noah mit der schluchzenden Heather im Arm ein Stück hinter sich schob und erneut nach dem Mikrofon griff. »Lassen wir die zwei Turteltauben für einen Augenblick allein, bevor wir mit dem Fotoshooting weitermachen. Auf der Terrasse ist ein Imbiss für Sie aufgebaut. Einfach durch die Türen nach draußen, den beiden vom Hotel hinterher, danke schön, wir sehen uns später, haben Sie recht herzlichen Dank!«
»Den beiden vom Hotel …«, grummelte Gretchen.
»Was für ein Theater«, murmelte Theo.