Ich bin jeden Tag aufs Neue erstaunt, in welch weise Frau ich mich da verliebt habe«, sagte Nicholas. Er lehnte im Türrahmen zur Küche, als Gretchen zurückkehrte. Mit seinen zerzausten Haaren und dem trägen Lächeln sah er aus, als wäre es absolut nicht seine Uhrzeit (was sie definitiv auch nicht war). Zu allem Überfluss trug er Gretchens Bademantel, was ihr ein verzücktes Grinsen entlockte.
»Und ich«, sagte sie, während sie betont langsam auf ihn zuschlenderte, »bin jeden Tag aufs Neue erstaunt, in welch sexy Kerl ich mich da verguckt habe. So kerlig, dass seiner Männlichkeit sogar mein gelber Blümchen-Bademantel nichts anhaben kann.«
»Dein Schwiegervater hat sich im Badezimmer eingesperrt. Ich hatte gerade nichts anderes anzuziehen.«
»Mmh.« Gretchen schlang beide Arme um Nicholas’ Nacken und küsste sich über sein Schlüsselbein, den Hals hinauf zu seinem Kinn. »Ich sage doch«, murmelte sie gegen seine Lippen, »er steht dir.«
Nick lachte. Er faltete die Arme ebenfalls um Gretchen, hob sie hoch und trug sie in die Küche, wo er sie auf der Anrichte absetzte. Gretchen kreuzte ihre Beine hinter seinem Rücken. Und während sie sich umarmten und einander einatmeten und sich küssten, da dachte er, dass sie wahrlich recht hatte mit ihrer These. Und dass die Beziehung zwischen ihnen zwar lange Zeit freundschaftlich gewesen war – in seinen Augen zu lange –, doch dass sie jetzt, nach nicht einmal drei Monaten, eine Tiefe erreicht hatte, wie er sie noch mit keiner anderen Frau erlebt hatte.
Und diese Frau, in die er sich verliebt hatte, erkannte Nick kaum wieder, doch dieses Gretchen liebte er noch mehr. Nachdem sie sich entschlossen hatte, ihnen beiden eine Chance zu geben, schien für sie eine Umkehr ausgeschlossen. Nicht einen weiteren Tag hatte sie ihn daran zweifeln lassen, dass sie keine Zweifel hatte. Als hätte das unfreiwillige Bad im Hafenbecken, das seinerzeit den Grundstein für ihre Beziehung gelegt hatte (so verrückt das klingen mag), jegliche Unentschiedenheit von ihr fortgespült.
Und alles, was sie jetzt noch sah, lag klar und sichtbar vor ihr, wie der Grund des Meeres vor Port Magdalen.
»Nick?«
»Mmmh?«
»Bist du wieder eingeschlafen?«
»Mmmh.« Nicholas hob das Kinn von Gretchens Schulter, trat einen Schritt zurück und lächelte sie an. »Nein«, sagte er. »Ich habe gerade nur an etwas sehr Schönes gedacht.«
»Ja?« Gretchen lächelte ebenfalls. Und dann, als wäre ihr gerade eingefallen, was es noch zu klären galt, bevor sie weitermachten, wo sie aufgehört hatten, fragte sie: »Was meintest du damit, als du sagtest, mein Schwiegervater habe sich im Badezimmer eingesperrt?«
»Oh. Ja, das …« Nicholas trat einen weiteren Schritt zurück und griff in den Schrank nach einer Tasse. »Er ist im Bad und telefoniert. Ich hab geklopft, da wurde es ganz still, danach hat er nur mehr geflüstert. Keine Ahnung, mit wem er spricht. Ich hab versucht, die Tür zu öffnen, aber es war abgeschlossen.«
»Seltsam«, sagte Gretchen, dann zuckte sie mit den Schultern. »Als hätte man zwei Teenager im Haus.«
»Es heißt doch, man entwickelt sich zurück, wenn man älter wird.«
»Heißt es das?«
»Natürlich nicht, wenn man, sagen wir, noch nicht einmal ein Drittel seines Lebens erreicht hat.«
»Aha.«
»Dreißig ist das neue zwanzig, und vierzig …«
Gretchen, deren Augen im Verlauf des Gesprächs schmaler und schmaler geworden waren, stieß Nick mit einer Hand vor die Brust. »Hatten wir nicht ausgemacht, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen?«
Statt einer Antwort strahlte Nick sie an.
»Nicholas«, sagte Gretchen warnend. Es war nicht das erste Mal, dass Nick sie daran erinnerte, dass zumindest er ihren herannahenden runden Geburtstag nicht vergessen würde. Sie schob ihn ein weiteres Stück von sich weg, sprang von der Anrichte und lief zum Herd hinüber. »Kaffee?« Sie griff bereits nach der Espressokanne. Im Gegensatz zu den meisten anderen Engländern, die Gretchen kannte (ihre Familie eingeschlossen), trank Nick ebenso gern Kaffee wie sie.
»Gern, aber damit wirst du mich nicht ablenken«, gab Nick zurück und streckte ihr die leere Tasse hin.
Gretchen knurrte.
»Hör zu, wenn du keine große Party möchtest …«
»Natürlich möchte ich keine große Party! Wir haben hier volles Haus, dieses Filmteam hält mich genug auf Trab, dann ist schon bald Weihnachten, und …« Und dann ist Januar, dachte Gretchen, und Christophers Tod jährt sich zum fünften Mal. Seither war eigentlich kein Jahr vergangen, an dem Gretchen nicht an ihrem Geburtstag auch an den Tod ihres Mannes gedacht hatte.
»Weihnachten ist jedes Jahr im Dezember«, sagte Nick, nicht ahnend, welch düstere Gedanken Gretchen inzwischen umtrieben. »Das kann für jemanden, der am dritten Januar Geburtstag hat, doch eigentlich kein Grund sein, nicht zu feiern.«
»Ist es aber.« Gretchen nickte. »Weil der Dezember und Weihnachten und Silvester nun mal eine große Sache sind im Wild at Heart, weil wir da normalerweise ausgebucht sind und …«
»Wie ist es eigentlich diesmal?«, fragte er.
Gretchen seufzte. Nicholas sah ihr dabei zu, wie sie ihm den Rücken zudrehte und Milch in einen Topf gab, bevor sie sich dem Milchaufschäumer zuwandte.
»Gretchen?«
Mehr Seufzen, dann: »Na gut. Diesmal wird das Haus zu Weihnachten vermutlich leer sein.«
»Da siehst du es.« Nicholas nickte zufrieden. Für ihn hatte Gretchen gerade nur bestätigt, was er von Nettie ohnehin schon erfahren hatte: dass sie in diesem Jahr keine Buchungen für die Advents- und Weihnachtszeit hatten entgegennehmen können, weil der Filmdreh bis Mitte Dezember dauern sollte – und die zwei folgenden Wochen als eine Art Puffer herhalten mussten. »Und ist es nicht schön, dass ihr Weihnachten einmal nicht arbeiten müsst?«, hatte Nicholas gefragt, und Nettie hatte geantwortet: »Wir kennen es überhaupt nicht anders. Deshalb wird es sicher … gespenstisch werden, so ganz allein im Haus.«
Gespenstisch hatte sie gesagt, nicht ruhig, woraus Nicholas geschlossen hatte, dass diese Verschnaufpause wohl als eher unangenehm empfunden wurde. Was Nettie unterstrich, in dem sie ihm erklärte: »Zumindest Mums Geburtstag sollte einen Riesensause werden. Immerhin ist es ihr vierzigster.«
Da konnte er einfach nur zustimmen. Und war seither mit Überlegungen darüber beschäftigt, wie er Gretchens Ehrentag so unvergesslich wie möglich gestalten konnte.
»Deine Unlust, den Geburtstag zu feiern«, begann er also erneut, »hat nicht etwa damit zu tun, dass es dein vierzigster ist?«
»Nicholas.«
»Hm?«
»Ein Mann in deinem Alter sollte eigentlich wissen, wann man besser nicht länger auf einem Thema herumhackt.«
Nick lachte. Dann stellte er sich hinter sie und schlang beide Arme um ihre Taille. »In Ordnung«, sagte er.
»Gut.« Gretchen wandte sich in seinen Armen um. »Im Ernst – ich möchte keine große Feier. Wir alle hatten in diesem Jahr schon ausreichend Stress, Aufregung, Trubel. Der Geburtstag …« Einige Sekunden lang suchte sie nach Worten, schließlich sagte sie: »Er ist nicht wichtig. Vielleicht gehen wir essen, wir alle zusammen. Mehr muss es nicht sein. Vielleicht fahren wir wieder nach St. Ives oder … nach Moushole. Wir können uns die wunderhübschen Weihnachtslichter im Hafen anschauen. Normalerweise hängen sie bis in die ersten Januartage.« Einige weitere Sekunden lang musterte sie Nicholas, bevor sie ihm einen Kuss auf die Lippen drückte und sich wieder dem Herd zuwandte. Sie gab aufgeschäumte Milch in die Tasse, dann füllte sie die weiße Wolke mit starkem, schwarzem Espresso auf, am Ende ließ sie einen Zuckerwürfel hineingleiten.
»Hier«, sagte sie, als sie sich erneut zu Nicholas umdrehte. »So, wie du ihn magst.«
»Danke.« Er nahm den Becher, dann küsste er Gretchen. »Ich will, dass du glücklich bist«, sagte er.
»Ich bin glücklich!«
»Dann lass uns den wichtigsten Tag meines Lebens feiern.«
Gretchen blinzelte verwirrt. »Den wichtigsten Tag deines Lebens?«
»Mmh.« Nick nippte an seinem Cappuccino, zwinkerte Gretchen zu und verließ die Küche hoch erhobenen Hauptes in dem blassgelben Blümchenbademantel seiner Freundin.