Atme ein, atme aus. Sauge den Sauerstoff in dich hinein, bis er dich erfüllt, vom Ansatz deines Haars bin in die Spitzen deiner Zehen. Lass die Kraft der Ruhe den Geist durchströmen und die Energie des Tages deinen Körper durchfluten. Mit dem ersten Tropfen goldenen Sonnenlichts, der in dein Innerstes fließt, sollen deine Sinne geweckt und deine Kräfte mobilisiert werden.«
»Scheiße, ist das kalt«, sagte Nettie bibbernd.
»Und dunkel«, fügte Gretchen hinzu. »Kann mir noch mal jemand erklären, warum wir um diese unchristliche Zeit bereits herumturnen müssen?«
»Die Pause hat euch nicht gutgetan«, schalt Theo streng, bevor er Luft holte und die Pose des Baums einnahm. »Höchste Zeit, dass ihr euch wieder an den Hotelalltag gewöhnt. Das ist der letzte Morgen, an dem wir nicht voll belegt sind, vergesst das nicht. Was ist das für ein Geräusch?«
»Das sind meine Z-Zähne«, stotterte Nettie. »Ich g-geh r-rein.«
Theo seufzte. »Verweichlicht«, sagte er. »Vom Winter oder der Liebe, wer weiß das schon.« Er ließ das angewinkelte Bein sinken und legte seiner Enkelin stattdessen einen Arm um die Schulter. Mit der anderen Hand rieb er ihren Rücken rauf und runter, um sie zu wärmen. Dann sah er zu Gretchen und winkte sie ebenfalls zu sich. »Na, kommt«, sagte er. »Machen wir uns einen schönen, heißen Tee.«
Es war Mitte Januar. In der vergangenen Woche waren die Temperaturen erneut gefallen, und als wären die milden Feiertage nur ein niedlicher Scherz des Wintergotts gewesen, froren sie nun wieder. Was im Grunde niemanden sonderlich störte, außer es sollte schon vor Morgengrauen auf den Klippen herumgeturnt werden. Weshalb selbst Theo erleichtert ausatmete, als sich in der Dunkelheit die ersten Lichter des Wild-at-Heart-Hotels ausmachen ließen.
Gretchen gab einen zufriedenen Laut von sich. Sie stimmte Theo zu, dass sie sich schnellstmöglich wieder an den geregelten Hotelalltag gewöhnen sollten, doch in diesen dunklen Monaten fiel es ihr noch viel schwerer als ohnehin schon, morgens aus dem Bett zu kommen.
Und doch: Sie erwarteten Gäste. Und automatisch lächelte Gretchen. Vor ein paar Monaten hätte sie sich noch nicht vorstellen können, ihren Alltag im Hotel einmal zu vermissen, doch der ganze Zirkus um die Filmerei hatte sie eines Besseren belehrt. Sie liebte ihren Job. Und sie freute sich darauf, dass jetzt alles wieder in seinen geregelten Bahnen verlief.
Nun, nicht alles. Sie hatten nach wie vor eine Baustelle vor sich, richtig? Und als sie und Theo damit begannen, ihren Belegungsplan wieder mit Einträgen zu füllen, machten sie jeden einzelnen potenziellen Gast darauf aufmerksam, dass sie noch nicht genau abschätzen konnten, wann es vor ihrem Hotel zu Bauarbeiten kommen würde. Einige sagten aufgrund solch einer Unwägbarkeit ab. Andere erklärten, sie würden das Risiko einer kurzfristigen Benachrichtigung in Kauf nehmen, worüber Gretchen besonders glücklich war. Denn nach wie vor hatten sie keine feste Terminvereinbarung mit Herb getroffen. Die genaue Planung stand ihnen erst noch bevor. Gretchen seufzte. In den vergangenen zwei Monaten war so viel geschehen, und doch waren sie irgendwie am gleichen Punkt wie damals.
Sie hatten den Eingang fast erreicht. Einige Meter von ihnen entfernt leuchtete Hank in der Morgendämmerung. Der alte umgebaute Schäferwagen leuchtete ganz allein auf der weitläufigen Fläche, die einmal von ihrer Scheune dominiert worden war. Nach seinem Ausgrabungsdesaster hatte Theo das Vorzelt wieder abgebaut, die Weihnachtslichter jedoch behalten – sie umrahmten das klapprige Gestell des alten Hank, das Fenster und die Tür, auf deren Vortreppe rechts und links zwei ebenfalls beleuchtete Tannenbäumchen standen.
»Er sieht so hübsch aus«, sagte Nettie, die immer noch vor Kälte zitterte. »Brrrr. Ich werde ihn vermissen, wenn er nicht mehr dasteht.«
»Himmel, rein mit dir, bevor du uns hier draußen noch erfrierst.« Gretchen schlang beide Arme um ihre Tochter und schob sie in Richtung Hoteleingang.
Theo warf einen Blick auf seinen Wohnwagen. Er war hübsch, da hatte Nettie wahrlich recht. Der alte Hank sah aus wie ein herausgeputzter, nur wenig betagter, von Wärme erfüllter Lichtquell in sternloser Nacht. Es war ein Wunder, dass nicht jeder einen haben wollte, dachte er, dass nicht einfach alle Gäste lieber in einem alten Schäferwagen …
»Gretchen?« Theo sah sich nach seiner Schwiegertochter um, die mit Nettie bereits im Foyer verschwunden war. Er lief ihr nach.
»Gretchen, was hältst du eigentlich davon, mal in einem anderen Bereich der Hotellerie Fuß zu fassen? In, wie heißt das, wenn die Leute eigentlich zelten wollen, aber dann doch zu verfroren sind, um auf ihre Heizung zu verzichten?«
»Glamping, Grandpa«, rief Nettie über ihre Schulter.
»Was heckst du jetzt wieder aus, Theo?«, warf Gretchen hinterher, doch ihr Schwiegervater hatte bereits nachdenklich den Kopf schief gelegt und den Zeigefinger an die Lippen gehoben.
»Glamping«, wiederholte er, und er betonte das Wort genau so, wie es klingen sollte – strahlend und glorreich beinahe. »Was für eine fantastische Idee. Wir restaurieren ein paar Wagen, das kann ich sehr leicht selber machen – oh, Herb müsste mir nur eine kleine Werkstatt hinstellen, das ist alles, was es braucht. Und dann bauen wir, sagen wir drei, vier von diesen alten Schäferwagen auf und – oh, oh! Wir könnten …«
»Theo, lass uns doch erst mal frühstücken. Hast du das Gästebuch dabei? Wir müssen die Anreisen durchgehen.«
»… und wie wäre es, wenn wir das Ganze noch unter ein gewisses Motto stellen? Piraten! Piraten-Glamping in Port Magdalen, Cornwall, über den Klippen des Herzfelsens, den seinerzeit ein Riese …«
»Theo, das Buch!«
»Eine fantastische Idee ist das, es wird das Wild at Heart über die Landesgrenzen hinaus …«
»Das Buch, Theo!«
Doch Gretchen lachte. Und Nettie, den Kopf an die Schulter ihrer Mutter gelehnt, kicherte ebenfalls. Und Theo, er fantasierte weiter davon, wie er aus der verlassenen Freifläche vor dem Wild at Heart einen der abenteuerlichsten Glampingplätze Südenglands zimmern würde.
Ein neues Jahr war angebrochen. Eine neue Saison gestartet. Ein frischer Tag hatte sich aus einer vergangenen Nacht geschält.
Und eine neue Geschichte um das Wild-at-Heart-Hotel, Port Magdalen, Cornwall, hatte gerade erst begonnen.