24.

Als Landschaftsgärtnerin lag es vermutlich in Saras Natur, den Winter nicht so sehr zu lieben wie das Frühjahr oder den Sommer, und war er auch noch so mild wie hier in Cornwall. Die Sonnenstunden waren einfach zu wenig, und auch wenn Sara persönlich nicht unbedingt direkte Sonne liebte, so brauchte sie doch das Licht. Heute, an diesem ohnehin leicht dumpfen Tag (der zugegebenermaßen einer äußerst rotweingeschwängerten Nacht gefolgt war), schien es gar nicht richtig hell zu werden. Sara sah auf das Display ihres Handys, während sie sich aus dem Beet erhob, in dem sie gekniet hatte. Es war bereits elf Uhr, doch der Himmel sah noch genauso trüb aus wie kurz nach Sonnenaufgang. Sie wischte die Erde von dem Display, das ihre schmutzigen Finger darauf hinterlassen hatten, und steckte es zurück in die Tasche ihrer Hose, auf der sie auch gleich ihre Hände sauber wischte.

Kaffee.

Kaffee war womöglich das Einzige, das ihr in ihrem heutigen Stadium noch helfen konnte.

Was genau dies für ein Stadium war, darüber dachte Sara nach, während sie die steilen Wege durch die Gärten nach oben stieg, immer dem imaginären Duft nach, der von der Terrasse des Wild-at-Heart-Hotels zu ihr herüberwehte. Sie hatte gestern Abend zu lange auf den Bildschirm ihres Laptops gestarrt, zu lange über die Misere ihres Liebeslebens nachgegrübelt, denn irgendwie hatte der Altersunterschied, den sie zwischen sich und dem fantastisch aussehenden und in der Blüte seines Lebens stehenden Noah Perry festgestellt hatte, auch dazu geführt, dass sie sich der Vergänglichkeit ihres eigenen Lebens bewusst geworden war. Und seiner Schnelllebigkeit. Seit fünf Jahren war sie nun schon allein, sprich: Sie hatte die Zeit zwischen siebenunddreißig und zweiundvierzig damit zugebracht, über einen Typen hinwegzukommen, der es nicht einmal wert war, dass sie seinen Namen dachte, und dabei einige ihrer besten Jahre einfach zum Fenster hinausgeworden.

Fünf Jahre. Das waren beinahe sieben.

Fast ebenso viele Gläser waren es wohl, die am Ende dafür gesorgt hatten, dass sie auf der Couch eingeschlafen war, bei Licht und der schrecklichen Kuschelrock-Musik, die Elliot Smith gefolgt war (oh ja, man konnte wirklich tief sinken).

Erbärmlich war das. Unfassbar erbärmlich. Kein Kaffee der Welt konnte daran etwas ändern, aber vielleicht machte er sie wenigstens ein bisschen klar.

Sara hätte sich gefreut, Gretchen zu treffen, um sich von ihren eigenen Grübeleien abzulenken, doch als sie unter das Zeltdach trat, das nun die Terrasse des Hotelrestaurants überspannte, erblickte sie nur eine Handvoll ihr völlig fremder Leute (von der Filmcrew, wie anzunehmen war) sowie Hazel hinter der Theke. Wie üblich wirkte die junge Köchin genauso entrückt, wie Sara sich fühlte.

»Kaffee?«, fragte Hazel in ihrer sanften, stillen Stimme. »Und einen Scone dazu? Mit Käse?«

»Und ob«, erwiderte Sara und grinste. Bevor die Filmleute hier quasi eingezogen waren, hatte sie nur selten mit Hazel persönlich zu tun gehabt, doch nun freute sie sich darüber, dass sie sich ihre Vorlieben offenbar zu merken schien.

»Das Mittagessen ist auch bald fertig«, sagte Hazel.

»Oh? Was gibt es denn?«

»Quinoa-Salat und gegrilltes Huhn.« Sie zuckte mit den Schultern. »Miss Barnes hat darauf bestanden, dass wir die Küche etwas umstellen, damit am Ende noch alle in ihre Kostüme passen, wie sie sagte.«

Sara unterdrückte ein Lachen, doch so ganz gelang es ihr nicht. Hazel lächelte ebenfalls, doch sie sagte nichts weiter. Ihre Chefin, Dorothy Penhallow, war nicht gerade für eine leichte Küche bekannt, ganz im Gegenteil. Und auch nicht dafür, sich von anderen dreinreden zu lassen, weshalb es sie wunderte, dass sie tatsächlich nachgab.

»Ist das Hühnchen denn schon hier?«, fragte Sara, und diesmal grinste Hazel ebenfalls, über das ganze Gesicht.

»Nein«, antwortete sie. Und dann, während sie Sara über die Theke hinweg Kaffee und Käsescone reichte: »Vielleicht fragen Sie besser später noch mal nach, was es gibt.«

Sara lächelte immer noch, während sie sich an einen der Tische am Rand der Terrasse niederließ. Sie nahm ihr Smartphone zur Hand, während sie an ihrem Kaffee nippte, doch dann legte sie es auf den Tisch, mit dem Display nach unten. Auch so etwas, das sie in den vergangenen Jahren reichlich Zeit gekostet hatte, dachte sie. Dieses dumme Handy und der dumme Computer. »Und diese Selbstgespräche«, murmelte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie laut vor sich hin brabbelte, »die müssen auch unbedingt aufhören.«

Sara war dabei, ein großes Stück aus ihrem Scone herauszubeißen, als sie den Blick hob und für einen Moment zu atmen vergaß. Vor ihr, nur etwa zehn Schritte entfernt, stand Noah Perry auf der Terrasse, ebenfalls einen Becher in der Hand, und starrte zu ihr herüber.

Selbstverständlich verschluckte sie sich. Der krümelige Teig des Scones blieb irgendwo in ihrer Luftröhre hängen, während Sara weiter auf den Schauspieler starrte und zu husten begann.

In weniger als zwei Sekunden war er bei ihr, stellte seine Tasse auf ihrem Tisch ab und klopfte ihr auf den Rücken. »Ich hab Sie erschreckt«, sagte er, während Sara hustete und hustete, »tut mir leid. Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«

Sara nutzte den Moment, um an ihrem Kaffee zu nippen, was das Kratzen in ihrem Hals ein klein wenig milderte, sodass sie bei Noahs Rückkehr an ihren Tisch zumindest schon zu krächzen in der Lage war.

»Danke«, erklärte sie heiser, als er ihr das Wasser reichte. Sara nahm ein paar Schlucke, während sie zu dem Mann aufblickte, der neben ihrem Tisch stehen geblieben war.

»Äh, ich wäre schon vorher zu Ihnen gekommen, aber es sah so aus, als hätten sie sich gerade gut unterhalten, deshalb …«

Sara prustete in das Glas, und Noah lachte. Sie spürte, wie sie rot anlief, während sie auf der anderen Seite nicht wusste, was ihr peinlicher sein sollte: dass er sie dabei beobachtet hatte, wie sie Selbstgespräche führte, oder dass er sie darauf ansprach.

»Charmant«, erklärte sie schließlich.

»Entschuldigung, das musste irgendwie sein.« Er grinste. Aber er stand immer noch. Also bedeutete Sara ihm mit einer Handbewegung, sich zu setzen, und obwohl sich Noah Perry umblickte, als wollte er sichergehen, dass niemand ihn dabei beobachtete, wie er genau das tat, tat er genau das.

»Ist das Ihr Frühstück oder Mittagessen?«, fragte er.

»Nichts von beidem. Dotties Käsescones gehen immer.«

»Dottie?«

»Die Küchenchefin.« Sara brach ein weiteres Stück von ihrem Gebäck ab und hielt es Noah hin, doch bevor er danach greifen konnte, flüsterte sie schnell: »Sagen Sie ihr nicht, dass ich sie so genannt habe, okay? Sie heißt Dorothy Penhallow. Versteht wenig Spaß. Und, da fällt mir ein: Sagen Sie ihr auch nicht, dass ich hier gegessen habe, okay?«

Noah nahm das Stückchen Scone und schob es sich in den Mund. Während er kaute, sah er Sara in die Augen, und als er einen anerkennenden Brummton von sich gab, flackerte etwas in ihrem Blick. Ganz leicht nur. Doch lange genug, dass das Kauen pausierte.

Schnell griff Sara nach ihrem Kaffeebecher. »Ich gehöre offiziell nicht zum Hotel«, erklärte sie. »Also, irgendwie doch, weil ich die Blumen liefere, und Gretchen, die Besitzerin, ist meine beste Freundin, aber … Ich bin hier nicht angestellt. Also offiziell vermutlich auch nicht befugt, hier zu essen.«

»Heißt das, Sie sind eine illegale Mitesserin?«

»So etwas in der Art.« Sie grinste wieder. Und weil sie den Gedanken an diesen wonnigen Ton, den er da gerade von sich gegeben hatte, weit, weit von sich schob, konnte sie ihn nun auch wieder ansehen. »Verraten Sie mich nicht.«

»Wenn Sie niemandem verraten, dass ich in Ihre Blumen urinieren wollte.«

Sara lachte laut auf, und Noah lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln in seinem Stuhl zurück. Für einen kurzen Augenblick sah Sara sich selbst hiersitzen, mit diesem fantastisch aussehenden und supersympathischen Schauspieler, und sie fragte sich … Flirtete er etwa mit ihr? Das konnte nicht sein, oder etwa doch? Immerhin …

Als ihr seine Freundin wieder einfiel, setzte sich Sara ein wenig aufrechter hin, der ausgelassene Gesichtsausdruck ein bisschen angestrengter als zuvor.

»Und Sie?«, fragte sie, deutlich ernster jetzt. »Haben Sie Mittagspause?«

»Nein, es wird umgebaut. Es wird entweder gewartet oder umgebaut.« Er zuckte mit den Schultern. »So ist es an den meisten Tagen.«

»Klingt nach einem irrsinnig anstrengenden Job.« Sara verdrehte die Augen. »Armer, kleiner Schauspieler.«

Noah lachte. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte: armer, kleiner Schauspieler.«

»Okay, ja, das hatte ich verstanden.«

»Wieso fragen Sie dann nach?«

Immer noch lächelnd schüttelte Noah den Kopf. Sara konnte es nicht wissen, doch sie war seit Langem die erste Person, die ihn nicht behandelte wie den Thronfolger persönlich – mit Vorsicht, beinahe unterschwelliger Ehrfurcht, bloß weil er an ein paar Partys in Hollywood teilgenommen hatte und für ein paar Preise nominiert worden war. Sie war die Erste, die sich nicht so benahm, als wollte sie etwas von ihm. Ein Date in der Öffentlichkeit beispielsweise oder eine Rolle in einem seiner Filme.

Nein, Sara Gibbs saß ihm gegenüber, freute sich strahlend über ihren eigenen Witz und biss in ihren Scone, so ungezwungen, wie er selbst nur selten in Gegenwart von anderen aß. Er wartete geradezu darauf, dass sie den Mund öffnete und Teigkrümel über den Tisch prustete. Schon jetzt hatten sich ein paar auf ihrer Wange festgeheftet. Und noch als er dachte: Noah, tu das nicht, hatte er sich vorgebeugt und sie mit seinem Daumen weggewischt.

Für eine Sekunde blieben beide ganz still. Das Kauen hörte auf. Sogar die Gespräche der anderen um sie herum verstummten, jedenfalls kam es Noah so vor. Dann aber setzte die Geräuschkulisse erneut ein und Sara räusperte sich.

»Nun …«, begann sie.

»Nun«, wiederholte eine kalte, strenge Stimme, woraufhin beide erschrocken zusammenzuckten.

»Dein Regisseur hat bereits einen Suchtrupp abgestellt, um dich zu finden«, erklärte Minerva Barnes spitz, während sie Noah einen mahnenden Blick zuwarf und Sara ignorierte. »Und ich hoffe, du hast nichts gegessen, was Heather beim nächsten Kuss kompromittieren könnte.«

Diesmal verstummten tatsächlich sämtliche Gespräche um sie herum. Sara hatte quasi aufgehört zu atmen. Sie warf Noah, der sich sichtlich verspannt hatte, einen Blick zu. Es dauerte einige ziemlich unangenehme Sekunden, bis er der Aufnahmeleiterin antwortete, doch dann sagte er: »Danke für die Info. Ich komme sofort nach.«

Minervas Augen blitzten. Sie wartete geschlagene drei Sekunden lang, dann drehte sie auf dem Absatz um und marschierte über die Terrasse zurück ins Hotel.

»Wow«, hauchte Sara. Noah atmete hörbar aus. Er setzte sich aufrechter hin und fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Locken.

»Das tut mir leid«, sagt er.

»Oh, das braucht Ihnen nicht leidzutun. Mir hat sie nichts getan. Ich glaube, sie hat nicht mal bemerkt, dass ich auch da war.«

»Oh doch, das hat sie, glauben Sie mir. Und ich meinte auch eher, dass ich mir leidtue.«

Sara lachte. Noah stand auf.

»Es war sehr nett, dass wir uns wiedergesehen haben«, sagte er.

»Ja, das war es.« Sara nickte.

»Ich weiß nicht, vielleicht … Vielleicht läuft man sich ja mal über den Weg. An der Hotelbar oder so?«

»Ob das so eine gute Idee ist?«, fragte Sara, doch es klang überhaupt nicht nach einer Frage. Und wie als Antwort sah sie aus den Augenwinkeln Heather Mompeller auf sie zuschweben in diesem Kleid, das aussah wie ein Nachthemd, und dem Bademantel darüber, der offen hinter ihr herwehte.

»Minnie sagte, ich sollte dich holen«, erklärte sie. Wie bereits gestern im Garten musterte sie Sara neugierig, sagte aber nichts.

Sara lächelte, doch auch das Lächeln wurde nicht erwidert.

»Ja, so etwas in der Art habe ich mir schon gedacht«, sagte Noah. Er klang erschöpft. Aber auch er lächelte jetzt, als er Heathers Hand nahm und sich von ihr fortziehen ließ, und hätte Sara nicht sehr genau aufgepasst, wäre ihr die Grimasse, die er dabei zog – für den Bruchteil eines Augenblicks nur –, wohl gar nicht aufgefallen.

Doch sie bemerkte die Grimasse. Und während sie sich noch fragte, ob sie einen weiteren Gedanken darauf verschwenden sollte, entschied sie sich dagegen.