27.

Nachdem die Mitglieder der Filmcrew in der ersten Woche ihres Aufenthalts auf Port Magdalen am Ende des Tages entweder in ihre jeweiligen Zimmer verschwunden waren oder gleich von der Insel, hatte es sich an diesem Samstagabend offenbar herumgesprochen, dass man abends einen Drink an der Hotelbar nahm. Oder zwei. Oder was man so als Bar bezeichnen konnte. Im Wild at Heart handelte es sich um eine winzige Nische neben dem Treppenaufgang, in die sich gerade einmal eine Person quetschen konnte, um Whisky und Gin einzuschenken oder einfache Cocktails zu mixen. Gerade stand Ashley dahinter und überprüfte den Getränkebestand. Der junge Mann arbeitete erst seit Kurzem im Wild-at-Heart-Hotel, hatte sich in dieser Zeit aber schnell zum unersetzlichen Mädchen für alles gemausert.

Auf ihrem Weg in die Küche warf Gretchen ihm einen dankbaren Blick zu. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es jemals ohne Ashley hatten schaffen können, denn dieser Junge war in ihren Augen Gold wert. Nicht ein Mal hatte er sich bei ihr über zu viel Arbeit beklagt. Er sprang ein, wo es nötig war, und das Allerbeste daran: Er stellte selbst fest, wenn Not am Mann war, und wartete nicht erst darauf, dass man ihn einteilte. Sobald es ihr möglich war, würde sie ihm eine Gehaltserhöhung geben, beschloss sie. Bei den vielen Überstunden hatte er ohnehin mehr Lohn verdient, als sie ihm derzeit zahlte.

Durch die Schwingtür, die ins Restaurant führte, sah Gretchen Sir James sitzen, der auf der anderen Seite des Glases geduldig wartete, bis jemand ihm öffnete. Sie tat dem alten Kater den Gefallen und bückte sich außerdem, um ihm hinter dem beinahe haarlosen Ohr zu kraulen. Sir James schnurrte gefällig und trottete in Richtung Kamin davon, wo er sich ohne Zweifel niederlassen würde, um seinen klapprigen, knochigen Hintern zu wärmen.

»… ist für Mittwoch angesetzt«, drang die Stimme von Minerva Barnes in ihr Bewusstsein, während sich Gretchen wieder aufrichtete. »Mir ist klar, heute ist Samstag, es sind nur noch ein paar Tage, aber das ist von der PR-Abteilung gut durchdacht und wird sich nicht zu unserem Nachteil auswirken, garantiert nicht. Pippa wird das kurz erklären und dann die Punkte der PK für uns zusammenfassen.«

So unauffällig wie möglich schob sich Gretchen durch die mit Filmleuten besetzten Tische in Richtung Küchentür. Sie hätte den Hintereingang nehmen sollen, dachte sie, während ihre Blicke durch die Reihen huschten. Sie entdeckte Noah Perry und Heather Mompeller, die mit beinahe versteinerten Mienen zu zweit an einem Tisch saßen, und den Regisseur, der in angemessenem Abstand von allen anderen auf seinem Stuhl brütete. Minerva Barnes selbst lehnte an einem Stehtisch, den sie ganz sicher von der Terrasse entwendet hatte, und Gretchen fühlte sich von ihr beobachtet, bis sie die Küchentür hinter sich zufallen ließ.

»So«, sagte sie, beinahe erleichtert, bis ihr einfiel, dass Erleichterung überhaupt nicht angebracht war, wenn man mit Dorothy Penhallow Speisepläne für die kommende Woche durchzugehen hatte. Als sie in das Gesicht ihrer Köchin blickte, erkannte sie darin noch sehr deutlich den Streit von heute Mittag über Hühnchen und Quinoa. Oscar, ausgestattet mit einem siebten Sinn für vorprogrammierten Ärger, schob sich gerade durch die Hintertür nach draußen.

Als Gretchen zwanzig Minuten später und mit deutlich ramponierten Nerven den Rückweg antrat, vergaß sie einmal mehr, den Hintereingang zu benutzen, weshalb sie erneut inmitten der Filmleute landete, die ihr Meeting offenbar gerade beendet hatten und im Begriff waren, das Restaurant zu verlassen.

»Mrs. Wilde?«

Oje, dachte Gretchen. »Ja? Miss Barnes?«

»Minnie, das wissen Sie doch. Kann ich Sie kurz sprechen?«

Oje, wiederholte Gretchen, wenngleich nur in ihrem Kopf.

»Für Mittwoch ist eine Pressekonferenz angesetzt«, erklärte Minnie, während Gretchen noch nicht einmal ihren Stehtisch erreicht hatte. »Die PR-Abteilung hat eine Liste zusammengestellt, die meine Assistentin gemeinsam mit Ihnen durchgehen wird. Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig gedacht, was wiederum Teil der Strategie ist, weshalb ich keinen Zweifel daran habe, dass wir das gemeinsam hinbekommen werden.«

»Wer?«, fragte Gretchen.

»Na, wir!«, rief Minnie. »Sie, Pippa – wer auch immer noch mit der Organisation betraut ist. Sie alle werden Ihnen sicher zur Seite stehen.«

Für einige wenige Sekunden schien Gretchen immer noch nicht zu begreifen, was Minerva Barnes ihr sagen wollte, dann rief sie aus: »Hier? Sie wollen die Pressekonferenz hier abhalten?«

Und Minerva Barnes sah sie an, als hätte sie reichlich gute Gründe, am Verstand der Hotelbesitzerin zu zweifeln.

»Natürlich hier!«, rief sie ebenso laut. »Wo sonst kann man eine neue Liebe feiern, wenn nicht in Ihrem entzückend verkitschten Hotel?«

Gretchen versuchte, nicht laut aufzuseufzen, während Minerva Barnes auf sie einredete – davon, dass die Tische raus-, dafür mehr Stühle reinmüssten, dass die Technik organisiert werden müsse, sobald feststand, wie viele auf dem Podium sitzen würden, dass sie sich darum aber zunächst nicht zu kümmern brauche, die Getränke seien wichtiger. Wenn sie es vollkommen übertreiben wollten, ließ Minerva verlauten (was »selbstredend fantastisch wäre«), dann könnte man überlegen, den geladenen Gästen eine Art Geschenktütchen zu überreichen, beispielsweise mit Gebäck oder herzförmiger Seife oder Liebesperlen oder dergleichen, was immer es auf Port Magdalen und im Wild-at-Heart-Hotel für Touristen eben so gab. »Uns wird schon etwas einfallen«, erklärte sie beherzt, und irgendwie hatte Gretchen auf einmal das Gefühl, sie sei eine siebzehnjährige Praktikantin, deren gutes Zeugnis auf dem Spiel stand, wenn sie das hier versaute.

»Ich glaube nicht, dass ich für inhaltliche Fragen zuständig bin«, warf sie halbherzig ein, woraufhin Minerva spitz bemerkte: »Wir kümmern uns um alles, lassen Sie uns einfach freie Hand.«

Nein, schrie etwas in Gretchens Inneren. Und, als hätte Gretchen sie gerufen, trat Heather Mompeller in ihr Blickfeld, die mit traurigen Gesicht hinter Noah Perry auf den Ausgang zur Lobby zusteuerte, gefolgt von dem brummigen, Kaugummi kauenden Regisseur, der ein schlecht gelauntes »Es gibt weit bessere Orte als diesen Winzling von Insel, der alle Nase lang vom Meer verschluckt wird« von sich gab.

»Stellen Sie mir einen Plan für die Ebbe- und Flutzeiten der nächsten Tage zusammen, ja?«, rief Minnie Gretchen zu, während sie Ian Grumbole hinterherlief. »Oder nein, geben sie ihn gleich Pippa, ich werde das ganz in ihre Hände legen.«

Wie ein Roboter nickte Gretchen im Einklang mit der Assistentin. Sie trat einige Schritte zur Seite, damit der Rest der Filmcrew auf ihrem Weg nach draußen nicht in sie hereinrannte, und ging schließlich auf die Terrasse, um für einen Augenblick Luft zu schnappen.

Oscar war damit beschäftigt, den Imbissstand für den Tag dichtzumachen – jetzt wusste sie wenigstens, wohin er verschwunden war. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, und er hob grinsend die Hände, bevor er wieder nach drinnen verschwand.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen. Gretchen lief bis zum Rand der Terrasse, holte tief Atem und schlang gegen die empfindlich kühle Seeluft die Arme um sich selbst. Die Winter in Cornwall waren kein Vergleich mit denen in Norwegen – herrje, Gretchen musste beinahe lachen beim Gedanken an die Schneemassen, die ihr kleines Heimatdorf nördlich von Oslo in den Wintermonaten fest im Griff hatten. Nach all den Jahren, die sie jetzt schon hier lebte, musste sie stattdessen achtgeben, dass sie nicht vergaß, wie sich Schnee anfühlte. Bislang hatte es hier an der Südküste so selten geschneit, sie konnte die Male an einer Hand abzählen. Doch wenn es so weit war, wenn es so kalt wurde, dass sich der Niederschlag in pudrig weißen Flaum verwandelte, dann wohnte dieser Küste ein besonderer Zauber inne. Nichts ging über einen weiß gezuckerten Sandstrand, fand Gretchen. Über den Anblick von ausgelassen tanzenden Schaumkronen, die sich genüsslich durch diesen weiß erstarrten Sand fraßen.

Gretchen zog ihr Handy aus der Tasche ihres Jacketts.

Ich habe eben an dich gedacht.

Nicks Antwort erreichte sie in weniger als fünf Sekunden.

Ja?

Ja. Ich dachte daran, wie zauberhaft es wäre, wenn es diesen Winter in Cornwall schneien würde. Und was wir da alles anstellen könnten.

Wieder antwortete Nick so schnell, dass Gretchen lachen musste.

Was?

Was anstellen, meine ich. Ich bin interessiert.

Ja, das merke ich :-)

Wir könnten Schlitten fahren. Oder wir bleiben im Bett, die Decke bis unter die Nase gezogen, und sehen den Schneeflocken vorm Fenster zu.

Mir gefällt, wie du denkst. Halten wir die letzte Idee doch schon mal fest. Ich hab so das Gefühl, die könnte auch ohne Schnee gut funktionieren.

Was meine gesamte Überlegungskette ad absurdum führt.

Ich finde, es ist eine fantastische Idee dabei herausgesprungen.

Ja, das finde ich auch.

Gretchen seufzte. Sie hätte gute Lust, jetzt und sofort mit Nick ins Bett zu steigen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen, doch sie hatte so ein Gefühl, dass heute noch einige Arbeit auf sie wartete.

Wann kommst du?

Etwas später. Ich habe Lori versprochen, dass wir heute noch die Schränke in der Küche aufräumen. Die Unordnung macht sie aggressiv, sagt sie. Die Tatsache, dass es ihre eigene Unordnung ist, kann sie nicht besänftigen.

Ich kenne das. Wenn es darum geht, das eigene Chaos zu organisieren, ist so ein unerschütterlicher Quell der Ruhe, wie du einer bist, manchmal das Einzige, das hilft.

Ich bin ein unerschütterlicher Quell der Ruhe?

Mmmh. Und mehr.

Klingt sexy.

Ist es.

Ich beeile mich.

Und ich freue mich!

Gretchen starrte auf ihr Handy. Das tat sie wirklich, dachte sie. In den vergangenen Monaten war es so normal für sie geworden, Nick an ihrer Seite zu haben, dass sie kaum Gelegenheit hatte, ihn zu vermissen, doch heute tat sie es.

Ich muss los. Und … Hetz dich nicht. Es ist noch ziemlich viel Trubel, und ich weiß nicht, wann ich heute die Bar schließen kann.

Wir schließen sie gemeinsam. Bis später.

Nicks Worte hallten in Gretchens Kopf nach, während sie sich seufzend auf den Weg in die Lobby machte. Gemeinsam. Sie hatte nicht gewusst, was ihr fehlte, bis sie es mit Nick wiedergefunden hatte.