5.

Lieber Damien,

für den unwahrscheinlichen Fall, dass Dich mein Leben auch nur noch das kleinste bisschen interessiert:

Vor zwei Tagen sind die ersten Filmleute angereist, um das Gelände, wo einmal unsere Scheune stand, in einen Trailerpark zu verwandeln. Es sind sechs Wohnwagen insgesamt (du weißt schon, Maske, Regie, Technik, Kostüme und so weiter), dazu noch der Kleinbus, der einen Teil der Crew hin und her transportiert, und ich fürchte, hätte es sich Grandpa mit seinem alten Schäferwagen nicht auch dort gemütlich gemacht, wären es noch mehr geworden.

Mit den Dreharbeiten wurde bis jetzt noch nicht begonnen. Denke ich. Es ist nicht wirklich leicht, einen Blick auf das Set zu werfen, das die Leute da unten rund um unsere Lodge aufgebaut haben. Obwohl ich noch nicht einen Schauspieler gesehen habe, läuft massenweise Security herum, die sogar uns davon abhält, dort hinunterzugehen. Was gedreht wird? Keinen blassen Schimmer. Als wäre das ein Staatsgeheimnis. Ich meine, es gibt Gerüchte, über Aliens und Vampire zum Beispiel, aber Genaueres weiß man nicht.

Es wimmelt hier von Leuten, wirklich. Dagegen kommt einem der normale Hotelbetrieb wie das Leben in einem Sanatorium vor. Dauernd ruft jemand etwas oder brüllt Befehle. Dieses Megafon treibt schon jetzt alle in den Wahnsinn. Das ist schlimmer als zehn Dotties zusammen (die hat es übrigens auch nicht leicht). Das Catering für so viele Personen zu stemmen hat sich einfacher angehört, als es ist, schätze ich. Vor allem, wenn Hinz und Kunz immer einen Sonderwunsch äußern und …

Die Spitze von Netties Stift schwebte über dem letzten Buchstaben. Sie las den ersten Teil ihres Briefes noch einmal durch, dann riss sie die Seite aus ihrem Notizblock, zerknüllte sie und warf sie zu den anderen in den Papierkorb unter ihrem Schreibtisch. Dies war bereits ihr neunter Brief an Damien. Und selbst wenn er keinen einzigen davon jemals zu Gesicht bekam (Nettie hatte nicht einen ihrer bisherigen acht abgeschickt), wollte sie ihn nicht mit nichtssagendem Geschwafel langweilen.

Also begann sie von vorn.

Lieber Damien,

für den unwahrscheinlichen Fall, dass Dich mein Leben auch nur noch das kleinste bisschen interessiert:

In Anbetracht dessen, dass Du diese Briefe niemals lesen wirst, kann ich es Dir vermutlich ganz offen sagen: In den vergangenen Tagen habe ich mehr als sonst über die Liebe nachgedacht. Ich meine – nicht, dass normalerweise all meine Gedanken nur darum kreisen würden, aber …

Rrrrrrrtsch.

Lieber Damien,

erinnerst Du Dich an Heather Mompeller? Sie ist Schauspielerin, ursprünglich am Londoner Theater, und sie war im vergangenen Sommer einige Tage bei uns, in Begleitung von Ivan Trust, einem ihrer Kollegen, mit dem sie heimlich zusammen war, wie wir ziemlich bald feststellten. Sie hatten sich ins Wild at Heart zurückgezogen, um einige ungestörte Tage verbringen zu können. Ziemlich romantisch, oder? Dachten wir zumindest.

Gestern sagte Mum mir, dass Heather Mompeller Hauptdarstellerin bei dem Dreh auf Port Magdalen ist (über sie kam die Produktionsfirma offenbar auch auf unser Hotel), und dass sie mit dem Hauptdarsteller liiert ist. Mum meinte, dies sei eine streng geheime Information, wir dürften mit niemandem darüber sprechen und keine Auskunft darüber geben, aber bitte – Charlotte hatte mir davon schon einen Tag zuvor erzählt, also kann die Info so geheim nicht sein.

Für zwei Sekunden starrte Nettie auf den letzten Satz, dann strich sie Charlottes Namen so lange durch, bis er nicht mehr lesbar war, und ersetzte ihn durch eine Klassenkameradin. Charlotte war ehrlich die letzte Person, die sie Damien ins Gedächtnis rufen wollte, ob er die Briefe nun las oder nicht.

Was ich damit eigentlich sagen möchte

fuhr Nettie fort, und dann stockte sie, denn – was wollte sie Damien eigentlich sagen? Dass die Liebe eine Illusion ist? Eine Täuschung, die alles in ihrem Umkreis irreleitet, von den armen Personen, die sie heimsucht, ganz zu schweigen? Dass auf die Liebe offenbar kein Verlass und es besser war, sie nicht zu ernst zu nehmen? Dass ihre Freundschaft doch mit Liebe nichts zu tun hatte und sie deshalb genauso gut vorgeben konnten, es sei nie etwas geschehen, um endlich wieder normal miteinander umzugehen?

Nettie legte den Stift nieder und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Draußen, vor dem Fenster, spiegelte sich die helle Wintersonne in der silbernen Metallkarosserie eines Trailers, so hell, dass die Konturen des Wagens zu flirren begannen.

Täuschung, dachte Nettie.

Illusion. Trugschluss. Farce.

Betrug.

Sie nahm den Stift wieder auf und schrieb:

Was ich Dir eigentlich sagen wollte: Ich bin heute Abend mit Kevin verabredet. Und wenn er mich küssen möchte, werde ich ihn nicht davon abbringen.