Der nächste Schritt (Cecil)
Natürlich weiß ich durch meine heimlichen Verfolgungen, wie mein Gegenüber heißt, doch das darf ich ihm keinesfalls verraten, damit ich sein Vertrauen nicht verliere. Irgendwann jedoch werde ich es ihm sagen, spätestens dann, wenn wir …
Innerlich stocke ich ein wenig. Wenn wir was? Zusammen sind? Ist es das, was ich will? Diese Frage vermag ich mir nicht zu beantworten, zunächst möchte ich einfach nur, dass er seinen Namen preisgibt, damit ich ihn ganz offiziell auch ansprechen kann.
„Ich heiße Georg. Mein Nachname ist mir allerdings meistens ziemlich peinlich, weil er eben genau das aussagt, was ich eigentlich nicht bin. Wild!“
„Wild?“, wiederhole ich. „Das muss dir nicht unangenehm sein. Ein ganz normaler Nachname.“
Georg nascht abermals von seinem Eis und nimmt dazu einen großen Schluck seines Heißgetränks, das die Bedienung in der Zwischenzeit serviert hat. Man kann ihm den Genuss förmlich ansehen.
„Was meintest du eigentlich eben mit der Freizeit, die in Anspruch genommen wird?“, hakt Georg schließlich nach, was mich ein wenig grinsen lässt.
„Ich wollte halt wissen, ob es jemanden an deiner Seite gibt. Eine Frau oder einen Mann, mit der oder dem du dein Leben teilst.“
Schlagartig legt Georg einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Ich kann deutlich sehen, wie seine Lippen beben und seine Hände unruhig werden. Habe ich was Falsches gesagt? Hätte ich mir die Frage lieber verkneifen sollen? Immerhin will ich ihn ja nicht verletzen oder ihm ein schlechtes Gefühl geben, doch anscheinend habe ich, ohne es zu wollen, eine Grenze überschritten. Es wird wohl besser sein, wenn ich die Frage zurückziehe und mich dafür entschuldige. Im nächsten Moment stutze ich jedoch und höre gebannt zu, was er zu erzählen hat.
„Ich … ich … ich habe bisher nie eine Beziehung gehabt. Noch nicht einmal jemanden fürs Bett. Und geküsst … geküsst habe ich auch noch nie. Das lief bisher nur in meiner Fantasie ab. Ich habe mit vierzehn schon die ersten Schwulenmagazine unter meinem Bett versteckt und sie mir vorm Schlafengehen heimlich angeschaut. Mehr nicht! Nie! Nein!“
„Schwulenmagazine?“, kommt es fragend über meine Lippen.
„Ja, ausschließlich. Ich weiß, dass das nicht der Norm entspricht. Aber ich bin ja auch nicht die Norm. Und deshalb ist es völlig egal. Guckst du auch solche Sachen an oder eher Frauen?“
Ich lächele ein wenig, nehme einen Schluck aus meiner Tasse und sehe Georg unverwandt an.
„Also, sagen wir mal so“, beginne ich mit einer Antwort, „wenn es eher die Frauen wären, wie du so schön sagst, würde ich hier nicht mit dir sitzen. Du interessierst mich nämlich — als Mann. Ich lebe offen schwul, ja, es weiß eigentlich jeder. Meine Eltern, meine Mitarbeiter, meine Freunde, eigentlich alle. Ich habe zwar keine solchen Magazine in meiner Wohnung, einen Porno sehe ich mir allerdings ab und zu mal an.“
„Dann würde ich aber schon gern wissen, warum du dich für mich interessierst. Es gibt immerhin sehr viele andere Männer, die …“
„Georg!“, unterbreche ich ihn und der hält auch sofort inne. „Jetzt mach dich doch nicht immer selbst runter. Deine Augen! Sie sind etwas ganz Besonderes. Noch nie habe ich solche Iriden gesehen. Sie fesseln einfach. Außerdem bist du als Mensch so wahnsinnig ehrlich und direkt. Das mag ich. Und nun lächle doch mal und freu dich, dass du mit mir hier sitzt, Eis isst und einen Cappu trinkst. Und falls du willst, sehen wir uns wieder. Ich würde dich nämlich gern zu mir einladen, sofern dir das nicht zu schnell geht.“
„Solange ich nicht in den Pool muss, nehme ich das Angebot gern an.“
„Keiner muss irgendetwas, Georg. Ein Nein werde ich immer respektieren, denn es ist stärker als ein Ja. Das gilt übrigens für alle Lebensbereiche.“
„Wenn das so ist, freue ich mich drauf. Wann hast du denn Zeit?“
Fragend schaut Georg mich an und das zarte Leuchten, das seine Augen wie von innen heraus erstrahlen lässt, fasziniert mich wieder mal aufs Neue. Was für eine Farbe. Vielleicht schaffe ich es ja sogar irgendwann, Georg dazu zu überreden, sich eine andere Brille anzuschaffen, die genau diese Wahnsinnsiriden unterstreicht.
„Wie wäre es denn am Samstag? Du hast doch sicher frei. Zumindest hat das Pfandhaus nicht auf, oder?“
„Samstag klingt gut, und da ich vorgestern erst den Rasen gemäht habe, braucht mich meine Mutter sicher auch nicht unbedingt.“
„Wie ist denn deine Mutter eigentlich? Magst du mir das auch erzählen? Meine ist übrigens schwer in Ordnung, nur dass sie noch nicht Oma ist, wurmt sie ein bisschen.“
„Meine Mutter? Na ja, wie soll ich sagen? Sie ist ein wenig schwierig, nein, das ist der falsche Ausdruck. Sie hat wohl, aller Wahrscheinlichkeit nach, den plötzlichen Tod meines Vaters bis heute nicht ganz verkraftet. Außerdem klammert sie ein bisschen und das hat sich noch verstärkt, seit sie allein ist. Eventuell bin ich auch deswegen ziemlich verkorkst, wer weiß?“
„Ich denke nicht, dass du verkorkst bist, Georg. Jeder Mensch ist nun mal ein Unikat, ich bin ja auch nicht gerade pflegeleicht, zumindest denkt Lynn, meine Sekretärin, das von mir. Aber trotzdem bin ich wohl recht umgänglich“, gebe ich zur Antwort und lächle Georg, der gerade die letzten Reste aus seinem Becher kratzt, an. „Ich habe gesehen, dass du wahnsinnig ordentlich bist, also im Laden, ich hingegen bin manchmal ein richtiger Chaot und froh darüber, dass es da eine nette Frau gibt, die meine Wohnung vernünftig in Schuss hält. Du bist vorhin auf die Minute pünktlich gewesen, ich schaffe es meistens nur gerade so eben, rechtzeitig zu erscheinen. Ich schlafe zu wenig und esse zu unregelmäßig, aber ich treibe gern ein bisschen Sport, wobei der Pool natürlich eine Rolle spielt, obwohl er nicht besonders groß und vor allem nicht sonderlich tief ist, aber für Wassergymnastik reicht es allemal. Du siehst, ich habe eine ganze Menge Macken, vielleicht bin ich ja auch verkorkst.“
„Sicher nicht“, schießt es spontan aus Georg heraus. „Du bist sehr nett, obwohl du mich doch kaum kennst. Und du meinst ernsthaft, ich wäre nicht verkorkst? Warum habe ich dann noch nie jemanden kennengelernt, besser gesagt, warum wollte mich bisher keiner?“
Bei dieser Frage klingt Georgs Stimmer dermaßen traurig, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen würde. Er wirkt wahnsinnig schutzbedürftig und fast ein wenig hilflos, dass ich spüre, wie verletzt er vom Leben ist, wie enttäuscht von der Welt und vor allem von oberflächlichen Menschen. Schade, dass ich mich zurückhalten muss. Stattdessen räuspere ich mich, bevor ich antworte.
„Ab sofort hast du jemanden, Georg. Ich will dich näher kennenlernen und ich wünsche mir, dass wir einen wunderschönen Samstag haben werden. Jetzt musst du mir nur noch sagen, ob ich dich irgendwo abholen soll. Ich freue mich jedenfalls sehr. Du kannst es dir ja überlegen, ich bin motorisiert, gehe allerdings auch oft zu Fuß.“
„Genau wie ich“, bestätigt Georg mit großen Augen und ich bin in diesem Moment froh, dass er nicht in mich hineinsehen kann, denn in dem Fall würde er sofort bemerken, dass ich längst weiß, wo er wohnt. Ja, ich werde ihm irgendwann beichten müssen, dass ich ihn sozusagen gestalkt habe, aber das kann ich nicht heute tun. Nichts soll diesen Abend und den schönen Anfang von etwas Wunderbarem stören.