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Rolf wälzte sich von einer Seite des Bettes auf die andere, doch er fand keinen Schlaf. Als er um Mitternacht immer noch wach war, machte sich in ihm leichter Unmut bemerkbar. Er wusste, dass es nicht gut war, sich zu ärgern, denn dadurch verscheuchte er den Schlaf noch mehr. Aber er konnte es nicht verhindern. Ständig musste er an den Telefonanruf denken. Eine seltsame Unruhe ergriff von ihm Besitz.
Warum?
Was rief diesen Aufruhr in ihm hervor?
Eigentlich gab es keinen Grund dafür. Trotzdem schien irgendetwas mit ihm zu passieren. Er glaubte plötzlich, zu vielen Dingen eine andere Beziehung zu haben. Seit Ellens Tod kam ihm die Stille, die im Haus herrschte, unheimlich vor. Er war noch nie ein ängstlicher Mensch gewesen, doch jetzt fürchtete er sich, ohne zu wissen, wovor.
Was ist nur los mit mir?
, fragte er sich. Was habe ich? Bin ich krank?
Bildete er sich das nur ein, oder hatten sich die Wände seines Schlafzimmers mit einem dunkelroten Schleier überzogen? War es die Wirklichkeit? Oder nur ein Traum?
Rolf setzte sich auf. Er stellte die Kissen hoch und lehnte sich zurück. Seine Hände strichen unruhig über die Bettdecke. Er hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein im Haus zu sein. Schlich vielleicht ein Einbrecher durch die Dunkelheit? Nein, das konnte nicht sein. Bei ihm gab es nichts, was sich zu stehlen lohnte. Rolf zog die Schublade des Nachttischs auf, griff hinein und holte ein Klappmesser hervor.
Er musste nachsehen, das blieb ihm nicht erspart. Rasch stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie behutsam. Dann trat er aus dem Schlafzimmer. Sollte sich wirklich ein Einbrecher im Gebäude aufhalten, würde Rolf ihm keine Chance lassen. Er würde mit dem Messer auf ihn losgehen. Ohne das Licht anzuschalten, machte er einen Rundgang durch das Haus.
Sein Beruf als Journalist machte ihn zwangsläufig zur Zielscheibe von Leuten, denen er mal auf die Füße getreten war. Doch bis jetzt hatte es noch niemand gewagt, hier einzudringen. Er schaute in allen Räumen nach, ging äußerst gewissenhaft vor und war so vorsichtig wie möglich. In den Ecken sah er schwarze Schatten. Sie wirkten wie große gefährliche Raubtiere auf der Lauer nach einem Opfer. Aber etwas Verdächtiges konnte er nirgendwo entdecken.
Sämtliche Türen und Fenster waren geschlossen. Niemand hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft. Rolf atmete erleichtert auf. Bevor er ins Schlafzimmer zurückkehrte, genehmigte er sich noch einen Drink, der dazu beitragen sollte, dass er ruhiger wurde und endlich einschlafen konnte. Als er das Schlafzimmer betrat, glaubte er eine undefinierbare Bedrohung zu spüren, doch er ignorierte dieses Gefühl, denn mehr konnte es nicht sein.
Rolf ging wieder zu Bett. Das Messer legte er zurück in die Schublade. Er schob sie zu und lehnte sich an die hochgestellten Kissen. Plötzlich ertönen leise Schritte. Danach herrschte Schweigen – abgesehen von einem leichten Schnaufen. Rolf strengte seine Ohren an, um herauszufinden, aus welcher Richtung das Atmen kam. Unglaublich
, dachte er, dass das menschliche Gehör in gewissen Fällen versagt!
Es war ihm nicht möglich, dahinterzukommen, woher das Geräusch kam.
Mal hörte er es von links, mal von rechts, mal von vorn. Rolf rührte sich nicht aus dem Bett. Seine Haare sträubten sich fast, als er das Gefühl hatte, das sich von allen Seiten etwas an ihn heranschlich. Aber er wagte nicht, die Hand nach der Nachttischlampe auszustrecken und sie einzuschalten. Irgendetwas hielt ihn zurück. War es möglich, dass sein unheimlicher Besucher mehr sah und hörte als er?
Auf was wartete er nur?
Jetzt hörte Rolf kein Atmen mehr. Er kam sich vor, als würde er sich auf dem weichen Boden eines Dschungels befinden. Die Zivilisation ist gleichbedeutend mit Licht
, dachte Rolf. Wenn das Licht ausgeht, dann verschwindet auch die Zivilisation.
Er konnte sich in einer primitiven Höhle befinden und wurde von einem Unbekannten bedroht. Mit Gedanken, die so finster und verwirrt waren wie die seiner primitiven Vorfahren, versuchte er, sich mit dieser gespenstischen Situation auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig registrierte er, dass im Zimmer eine unnatürliche Kälte herrschte. Die Kälte war größer, als er es je im Winter in Deutschland erlebt hatte, zugleich war der Raum von einem fauligen Geruch erfüllt, der beinahe körperlich wirkte. Im selben Moment traf ihn ein furchtbarer Schock. Am Fußende des Bettes stand eine Frau in einem weißen langen Gewand.
„Hallo!“, sagte sie. „Ich bin es. Ellen.“
Ihr Gesicht war ein verschwommenes Oval. Ihre Augen glichen getrübten Juwelen. Ihre Stimme klang unwiderstehlich und einschmeichelnd. Sie war so sanft wie eine streichelnde Hand.
Rolfs Augen glänzten wie im Fieber. Verstört schüttelte er den Kopf. „Nein! Nein, das gibt es nicht. Das ist unmöglich. Du bist … tot.“
„Was bin ich? Tot? Können Tote sprechen?“
„Aber … aber …“
„Was – aber?“
„Du wurdest beerdigt.“
„Warum besuchst du mich dann nicht? Komm zu mir ins Grab.“
Rolf fuhr sich mit der Hand über die Augen. Das musste ein Alptraum sein. Er lag hier im Bett und sprach mit seiner Frau, die vor zwei Wochen gestorben war.
„Nein, das werde ich nicht tun“, antwortete Rolf.
„Du musst!“, rief Ellen. „Du musst!“
„Nein, das … das …“
„Du darfst dich nicht weigern.“
Es ist ihre Stimme
, dachte Rolf. Aber sie kann es nicht sein. Sie ist tot. Jemand spielt mir hier einen üblen Streich.
„Wer immer Sie sind“, stieß Rolf gereizt hervor. „Verschwinden Sie sofort aus meinem Haus, sonst hetze ich Ihnen die Polizei auf den Hals.“
„Das hättest du nicht sagen sollen, Rolf. Du wirst nämlich selber bald sterben.“
Das ganze Zimmer glühte plötzlich in einem grellen roten Schein. Ihr Gesicht veränderte sich. Die Haut schwärzte sich, verbrannte, verkohlte, das blonde Haar flammte auf und loderte feurig über ihrem Kopf. Aus den klaffenden Wunden ihrer Augenhöhlen tropften blutige Tränen.
„Ich hole dich heim ins Grab“, sagte sie mit rasselnder Stimme. „Hörst du mich, Rolf? Verstehst du mich? Ich hole dich …“
Die grausige Gestalt verschwand in einem grauen Nebel. Doch das Entsetzen wich nicht aus seinem Herzen. Nackte Angst hielt ihn umklammert. Auf seiner Stirn glänzte kalter Schweiß. Zitternd sank er zurück in die Kissen und starrte zur Decke empor. Er war dermaßen schockiert, dass er an seinem Verstand zu zweifeln begann. Entweder, sagte er sich, stimmte bei ihm etwas nicht mehr, dann war es für ihn höchste Zeit, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben, oder es war hier im Haus etwas nicht in Ordnung, was ihm wahrscheinlicher und leider auch unbehaglicher erschien. Denn in diesem Fall sah er sich Mächten ausgeliefert, denen gegenüber er hilflos war.
Rolf lauschte dem Klang seines Herzens. Er drang durch das tiefe Schweigen, als käme er aus einem verschlossenen Haus. Der erste Schlag war der Laut des Blutes, das durch seine Adern jagte. Dann folgte eine kurze Pause. Rolf lauschte nicht dem Pulsschlag – nein, er wartete auf die Stille, die ihm folgte, als wünschte er, sie immer mehr zu verlängern, als hoffte er, dass diese zwei rhythmischen, dumpfen Töne seltener klangen, dass die Stille wuchs, bis nur noch sie in ihm wäre.
Die Leere war furchtbarer als der Schmerz. Nur Fragen, die unbeantwortet blieben, und Antworten, die keine weiteren Fragen gestatteten, huschten durch diese Leere, ohne sich zu eindeutigen Begriffen zu formen.
Wieder wuchs die Stille über ihn hinaus. Es war, als träumte und wachte er zugleich. Von Neuem hörte er den Schlag seines Herzens, der von seinem Körper losgelöst schien. Was war das?
Er befand sich in einem Unterseeboot, das mit ihm in bodenlose Tiefen sank. Er spürte die unermesslichen Fluten an den Wänden des Schiffes; sie schwollen an, drückten die stählernen Panzer ein, strömten lautlos, schwarz und kalt durch die Risse und füllten die Räume hinter den Schotten. Nur an einer Stelle war noch Luft. Dort schlug sein Herz und wartete auf den Augenblick, da die letzte Wand barst.
Und das Schiff sank immer schneller, immer tiefer. Rolf streckte die Hand aus, um die Stahlwand zu berühren, an deren Vorhandensein er sekundenlang wirklich glaubte. Er wollte prüfen, ob auch sie sich bereits bog. Seine Fingerspitzen glitten tatsächlich über kalten Stahl, aber es war keine Wand, er war nicht in einem Schiff, ging nicht unter, brauchte nicht auf sein Ende zu warten.