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Nur Rolfs schluchzendes, stoßweises Atmen durchbrach die Stille. Er drehte sich auf die Seite und versuchte, wieder einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht. Unruhig wälzte er sich hin und her, dann warf er einen Blick auf den Wecker – ein Uhr. Die lange, einsame Nacht lag noch vor ihm. Er stand auf und ging nach unten ins Wohnzimmer. Nervös zappte er mit der Fernbedienung durch verschiedene Programme. Im Ersten gab es einen Bericht über ein verheerendes Erdbeben in Japan.
Rolf schaltete weiter.
Dann stieß er auf eine Dokumentation über Kurt Cobain – den Leadsänger der Gruppe „Nirwana“, der 1994 in Seattle Selbstmord begangen hatte. Abermals wechselte Rolf das Programm. Das Leid anderer Leute interessierte ihn im Augenblick nicht, und ein Nirwana-Fan war er auch nie gewesen. Nun landete er bei einer Talkshow, in der es um die geringe Anzahl an Frauen in Aufsichtsräten von Firmen ging.
Als er im nächsten und übernächsten Programm auf Werbung stieß, schaltete er den Fernseher wieder aus. Nein, von dieser Seite schien es im Moment keine Ablenkung zu geben. Er ging nach oben ins Schlafzimmer und legte sich wieder ins Bett. Doch die bohrende Angst in ihm wollte nicht weichen. Es schien, als hätte sich der Alptraum regelrecht in ihm festgesetzt. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Es gelang ihm nicht. Die Furcht, der Alptraum könne wiederkommen, ließ ihn nicht ruhen. Seufzend tastete er zur linken Seite des Doppelbettes, die seit zwei Wochen unberührt war.
Ellen
, dachte er. Natürlich war ihr grausamer Tod schuld an seinem seelischen Zustand. Er hatte oft davon gelesen, dass solche gravierenden Lebenserfahrungen einen Menschen ganz schön fertigmachen konnten und völlig aus der Bahn warfen. Es tat Rolf weh, wenn er nur an sie dachte. Ellen war in dem Wagen verbrannt. Hatte sie große Schmerzen? Oder war sie zu diesem Zeitpunkt schon bewusstlos gewesen? Er wusste es nicht. Die Polizei hatte ihm nicht alle Einzelheiten mitgeteilt.
Die Beamten sagten, dass es besser wäre. Aber war es das wirklich? Je mehr er darüber nachdachte, desto schlimmer erschien ihm der ganze Vorfall. Vielleicht war Ellen gar nicht bewusstlos gewesen. Vielleicht hatte sie gespürt, wie die Flammen ihren Körper verzehrten. Vielleicht hatte sie sogar um Hilfe geschrien und nach ihm gerufen. Doch er war nicht da, um ihr zu helfen. Nach einer Weile stand er wieder auf und ging ins Wohnzimmer. Vielleicht half ein Glas Cognac, um ihm die nötige Müdigkeit zu verschaffen. In diesem Augenblick überlegte er zum ersten Mal, ob den Rat seines Chefs nicht annehmen und ein paar Wochen Urlaub machen sollte.
Herbert Sutter hatte ihm empfohlen, die Sachen zu packen und irgendwohin zu fliegen, wo er sich entspannen konnte. In die Karibik vielleicht oder an die Côte d‘Azur. Sutter meinte es gut mit ihm, das wusste er. Auf ihn konnte er sich verlassen. Doch er verwarf den Gedanken wieder und genehmigte sich einen zweiten Cognac. Es machte keinen Sinn, wo anders hinzufliegen. Dort konnte er die Erinnerung an seine Frau auch nicht abschütteln.
Rolf trank noch einige weitere Gläser. Aber es half nichts. Das Grauen hatte ihn zu sehr getroffen, und nicht einmal der Alkohol konnte die kleine, hässliche Stimme in seinem Hinterkopf zum Verstummen bringen. Ich bin schuld
, dachte er. Ich bin schuld, dass Ellen jetzt tot ist.
Der logische Bereich seines Verstandes sagte ihm, was für einen Unsinn er dachte, dass es vollkommen unmöglich war, sich die Schuld an diesem grässlichen Unfall zu geben. Aber das half gar nichts. Nicht einmal der Alkohol half ihm dabei.
Ganz egal, was die anderen sagten, ganz egal, was die polizeilichen Ermittlungen ergeben hatten – er fühlte sich Schuld an Ellens Tod. Er schenkte sich noch ein Glas ein und leerte es in einem Zug. Es gab einen dumpfen Knall, als er es auf dem Tisch abstellte. Allmählich begann der hochprozentige Alkohol zu wirken und umnebelte sein Gehirn. Auf trügerische Weise gaukelte er ihm vor, dass sich alles zum Besten wenden würde.