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Rolf setzte sich auf die Bettkante. Das Ereignis der vergangenen Nacht hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben. War es ein Traum gewesen? Oder eine Halluzination? In Gedanken ging er sämtliche Möglichkeiten durch und versuchte, System in das Gerüst aus Fakten zu bringen. Er war keineswegs davon überzeugt, dass er einen Traum gehabt hatte. Dazu war das erlebte zu real gewesen.
In den letzten sechs Jahren hatte er für das „Future & Science-Magazin“ über unzählige paranormale Aktivitäten geschrieben. Die meisten hatten sich als Betrug herausgestellt. Bei anderen gab es eine plausible Erklärung.
Geistererscheinungen kannte man schon im Mittelalter. Damals hielt man sie für das Werk finsterer Mächte. So berichtete der Adlige Gerald of Wales im 13. Jahrhundert von einem Geist, der einige Männer bedroht haben soll. Untersucht wurde dieses Phänomen aber erst 300 Jahre später von dem Jesuiten Martin Anton Delrio. Er zählte 18 Arten verschiedener Dämonen auf.
Geisterexperten zufolge, oder solchen, die sich dafürhalten, gibt es vier Hauptgruppen, die unterschiedliche Verhaltensmuster aufweisen. Die erste Gruppe umfasst Erscheinungen, die an einem bestimmten Ort spuken. Sie sind orts- und nicht personengebunden, flößen meist keine Furcht ein und werden manchmal fast als Familienmitglied betrachtet. Nur selten richten sie Schaden an.
Zur zweiten Gruppe gehören postmortale Erscheinungen, bei denen die Person nach ihrem Tod auftritt. Sie sind weder an einen bestimmten Ort noch an Ereignisse gebunden. Zur dritten Gruppe zählen die Krisenfälle. Dabei erscheinen dem Beobachter Personen, die gerade ein tiefgreifendes Ereignis durchmachen, wie zum Beispiel einen Unfall, eine schwere Krankheit – oder auch den Tod.
Die vierte Gruppe ist zwar am wenigsten bekannt, jedoch die faszinierendste aller Geistererscheinungen. In diesen Fällen tritt nicht der Geist toter oder sterbender Personen auf, sondern der Lebende, der bewusst den Versuch unternimmt, ihr Abbild für andere sichtbar zu machen.
Bei den Recherchen für seine Artikel war Rolf auch auf einen Fall gestoßen, der sich von August 1977 bis September 1978 in England ereignet hatte. Schauplatz war das Haus der Familie Hodgson im Londoner Stadtteil Enfield.
Es begann ganz harmlos. Ein leises Schlurfen in einem der Schlafzimmer, als schleiche eine unsichtbare Person in Hausschuhen durch den Raum. Dann setzten Klopfgeräusche ein, die elf Monate lang ohne Unterbrechung anhalten sollten.
Zudem meldete sich eine tiefe, sehr raue Stimme zu Wort und überschüttete die Anwesenden mit ordinären Beschimpfungen. Man nahm sie auf Tonband auf und versuchte auf verschiedenen Wegen, sie zu identifizieren. Die Stimme behauptete, einem 72-jährigen Mann aus der Nachbarschaft zu gehören. Als man sie in einer Radiosendung abspielte, behauptete eine Frau, ihren Onkel Haylock erkannt zu haben. Aber letztendlich erwies sich kein Hinweis als stichhaltig. Keine Identifizierung hielt einer genauen Überprüfung stand.
Nicht nur Geräusche und Stimmen hielten die Mutter und ihre vier Kinder in Atem. Ein Spielzeugbauklotz flog – von unsichtbarer Hand geworfen – quer durch den Raum und einem Fotografen direkt an den Kopf. Papier und Kleidungsstücke gingen in Flammen auf, eine Streichholzschachtel entzündete sich von selbst und brannte in der Schublade, bis sie von selbst wieder erlosch. Dicht daneben liegende Gegenstände zeigten keine Brandspuren.
Besteck, ein metallener Teekannendeckel und ein Messingrohr verbogen und verdrehten sich von selbst. Drei Steinstücke, die man weit voneinander entfernt im Haus gefunden hatte, entpuppten sich als Teile eines einzigen Steins, der zerbrochen worden war. Die Geister in dem Haus besaßen offenbar erstaunliche Kräfte.
Eines Tages riss ein Teil des gasgefeuerten Kamins aus der Verankerung. Der Gitterrost wurde von unsichtbaren Händen quer durch das Zimmer geschleudert. Ein anderes Mal flogen eine Kommode, ein schweres Sofa und ein Doppelbett durch die Luft. Mittelpunkt dieser Ereignisse schien die zwölfjährige Tochter Janet zu sein. Aus ihr heraus ertönte auch jene tiefe Stimme.
Mehrmals wurde das Mädchen in Levitation versetzt. Zeugen sahen sie zwei Mal mitten im Raum schweben. Janet und ihre Schwester Rose wurden so oft aus dem Bett geworfen, dass sie schließlich auf dem Boden schliefen. Aber auch das half nicht gegen die Poltergeister, denn nun fand man Janet häufig schlafend auf ihrem Radioapparat liegen.
Mit der Zeit gewöhnte sich die Familie an die ungewöhnlichen Vorkommnisse. Anfangs gerieten Mutter und Kinder in Panik, fürchteten um ihr Leben, doch allmählich wich das Entsetzen eher Ratlosigkeit und Verwirrung. Im Oktober 1978 fanden die Phänomene schließlich ein Ende.
Rolf vermochte nicht zu beurteilen, ob diese Schilderung der Wahrheit entsprach, aber er war fest davon überzeugt, dass die Ereignisse in seinem Haus einen realen Ursprung hatten. Und ihr Verursacher war definitiv ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber wie inszenierte er diese Geistershow? Vielleicht mit Hilfe von Spiegeln und Projektoren?
Nein, das war unwahrscheinlich. Es hätte zu viel Aufwand erfordert, um alles unbemerkt ins Haus zu schaffen und dort zu platzieren. Eine andere Möglichkeit war die Verwendung bewusstseinsverändernder Drogen. Vielleicht hatte man ihm etwas ins Essen getan. Aber wer? Und warum? Wo war das Motiv? Geld konnte es jedenfalls nicht sein. Also blieb nur die Rache. Wie immer, wenn er nicht wusste, wo er anfangen sollte, stieg sein Innendruck. Es gab nur einen Notanker, nach dem er greifen konnte.