8
Rolf fuhr wieder nach Hause. Doch lange hielt er es dort nicht aus. Die unnatürliche Stille wirkte bedrückend. Er musste einfach unter Menschen. Fünf Minuten später verließ er das Haus. Es nieselte leicht. Er stellte den Kragen seiner Jacke auf und steckte sich eine Zigarette an.
Ich muss mich irgendwie ablenken
, dachte er, sonst werde ich noch verrückt.
Sekunden später stieg er die Stufen hinunter, die zu einer kleinen Kneipe führten. Das Lokal wurde hauptsächlich von jungen Leuten frequentiert, von denen er die meisten flüchtig kannte.
Der intensive Geruch von Alkohol schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Die Lüftung war miserabel. Zu dem Alkoholgeruch gesellte sich der Gestank von heißem Öl, angebranntem Fleisch und Pommes frites. Doch an diesen Gestank war Rolf gewöhnt. Zielstrebig steuerte er auf den Tresen zu, begrüßte ein paar Bekannte und lehnte sich an die Theke.
„Einen doppelten Whisky, Karl!“, rief er dem Wirt zu, der ein weißes Schürzchen trug, das ihm ein lächerliches Aussehen verlieh.
Karl grinste, griff nach einer Flasche und schenkte ein. Rolf kippte den Whisky mit einem Zug hinunter. Er hustete gequält, als die scharfe Flüssigkeit durch seine Kehle rann. Schmeckt scheußlich
, dachte er. Normalerweise trank er nur Bier, aber heute wollte er möglichst rasch betrunken sein; und dazu schien sich Whisky wesentlich besser zu eignen als Bier.
„Noch einen, Karl!“, sagte er mit erstickter Stimme.
Der Wirt kannte die Trinkgewohnheiten seiner Gäste, deshalb hob er verwundert die Brauen. Ohne eine Bemerkung zu machen, schenkte er nach. Und wieder stürzte Rolf die scheußlich schmeckende Flüssigkeit hinunter. Bin verdammt neugierig, wann das Zeug endlich wirkt
, dachte er. Rolf vermied es, an die unerklärlichen Ereignisse der vergangenen Nacht zu denken.
„Hallo, alter Junge!“, begrüßte ihn Christian Sievers. „Seit wann trinkst du Whisky? Der ist doch in dieser lausigen Bude unverschämt teuer. Hast wohl im Lotto gewonnen, was?“
Das Zeug wirkt aber verdammt schnel
l, dachte Rolf, dem es warm wurde. Er blickte Christian prüfend an. Das Gesicht seines Freundes schien ihm so ganz anders zu sein, als er es in Erinnerung hatte. Irgendetwas störte ihn daran.
„Ich spiele nie“, sagte Rolf langsam.
„Das ist ein Fehler“, erwiderte Christian grinsend.
Rolf klopfte an sein Glas, und der Wirt schenkte nach.
„Trink doch nicht so hastig“, meinte Christian. „Das schadet dir.“
Rolf antwortete nicht. Er trank das Glas leer. Jetzt spürte er schon deutlich die Wirkung des Alkohols. Seine Bewegungen wurden unsicher, und seine Zunge war schwer. So harte Getränke war er nicht gewohnt. Obwohl er sie seit Ellens Tod häufiger konsumierte.
„Wen interessiert das?“, fragte er und setzte sich auf einem Hocker. „Das Leben hat doch sowieso keinen Sinn mehr.“
„Wegen Ellen?“, erkundigte sich Christian. „Ich habe erst gestern davon gehört. Das tut mir echt leid. Wenn ich es früher erfahren hätte, wäre ich zur Beerdigung gekommen, aber …“
Rolf winkte lässig ab. „Schon gut. Niemand macht dir einen Vorwurf.“
Christian nickte. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. „Du, ich habe noch etwas vor. Vielleicht sehen wir uns später.“
Er zahlte und verließ die Kneipe.
„Arschloch!“, murmelte Rolf. Er wusste, dass Christian selbst einmal in Ellen verliebt gewesen war, aber sie hatte ihn abblitzen lassen. Er versank in düsteres Brüten. Innerhalb weniger Minuten war er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Als er noch einen Whisky bestellen wollte, weigerte sich der Wirt, ihm einen zu geben.
„Für dich ist es besser, wenn du nach Hause gehst“, sagte er.
Karl hörte nicht auf Rolfs lautstarke Proteste. Schließlich zahlte er, rutschte vom Hocker, fiel beinahe um, klammerte sich an der Theke fest und blieb dort schwer atmend stehen.
„Scheiße! Verdammte Scheiße!“, murmelte er.
Er nahm sich zusammen, wankte zwischen den Tischen zur Tür und taumelte ins Freie. Die kühle Luft ernüchterte ihn ein wenig. Langsam stieg er die Stufen hoch und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Er suchte in seinen Jackentaschen nach den Zigaretten, fand sie aber nicht.
„Verdammt, ich habe sie zuhause liegen lassen“, sagte er mit schwerer Stimme.
Er lehnte sich an die Hauswand und durchsuchte nochmals die Jackentaschen, dann griff er in die linke Hosentasche und fand die Packung und das Feuerzeug. Während er sich die Zigarette ansteckte, musste er husten. Im nächsten Moment gaben seine Beine nach. Mühsam stemmte er sich wieder hoch, zog noch einmal an der Zigarette und warf sie dann zu Boden. Während er die Straße entlangging, kämpfte er um sein Gleichgewicht. Die kühle Nachtluft sorge dafür, dass er wieder einigermaßen nüchtern wurde.
Eine Weile lief er ziellos durch die Straßen und bog dann in eine schmale Gasse ein, die rechts und links von hohen Hecken umsäumt wurde. Dichter Nebel war aufgezogen, und ein feiner, bis auf die Haut dringender Nieselregen fiel. Die Nacht war ungewöhnlich dunkel und verschluckte fast das Licht der Straßenlaternen, die an dieser Stelle in relativ großer Entfernung zueinanderstanden.
Rolf ging durch den Regen. Er sah die Häuser, sah die kleinen Vorgärten, die grauen Fassaden, die mit Schnörkeln einer vergangenen Mode geschmückt waren und dadurch nur noch hässlicher wirkten. Jetzt waren sie hässlich. Früher einmal mochten sie schön gewesen sein. Gestern? Ich gehe ins Gestern, ins Vorgestern, ins Vor-Vorgestern.
Fassaden und Verschnörkelungen wurden grau, zerfielen zu Sand und Staub, sanken hinab in kochendes Magma.
Gestern – gehe ins Gestern.
Kochendes Magma verdampfte zu Wolken glühender Partikel. Jetzt ist jetzt und gestern niemals und morgen nur eine Illusion
. Glühende Partikel tropften aus den Netzen des Himmels und brannten auf Gesicht und Händen. Glänzende und leuchtende Farben explodierten und wirbelten durch die Wege der Zeit.
Ein Portal aus loderndem Feuer öffnete sich. Rolf hob drei leuchtende Flecken vom Boden auf und warf sie in das Maul des silbernen Drachen. Das Portal schloss sich, und ein pulsierender Tunnel wand sich auf eine neue Lichtquelle zu, deren Phosphor-grün in gleichmäßigen Intervallen die Skala vom tiefsten Dunkel zum klarsten Hell und wieder zurück durchlief. Er zerschlug das Leuchten und fiel …
„Ellen … Ellen …“
Schwarze Wogen türmten sich auf, wurden von den Blitzen des siebenfachen Regenbogens zerschmettert, und die funkelnde Gischt trug den Sturm zu den düsteren Wolken empor. Und zwischen diesen Gebilden formte sich Ellens Gesicht. Die Konturen waren zunächst nur unscharf, gewannen aber immer mehr an Deutlichkeit. Gelbe Spiralen wirbelte durch Funkengischt und zogen das Inferno aus Licht und Donner, aus Furcht und Qual und Wahn. Metallene Pfeile durchzuckten die roten Rauchfetzen und hinterließen ein Netz schwarzer Bahnen, die sich verbreiterten und die Maschen zu verengen begannen. Aus der Farbenhölle drangen weniger Blitze herüber.
Er atmete tief und beschleunigte seine Schritte. Ihm war, als hörte er hinter sich das ferne, aber mächtige Brausen von Wellen, als hätte er tagelang gegen das sturmbewehrte Meer gekämpft, als wäre er endlich auf Land gestoßen und nun schleppte er sich nackt über den Sand eines unbekannten Ufers, ohne Trauer über das, was der Ozean verschlungen hatte. Er blickte zu den dunklen Wolken empor. Dort entdeckte er ein bleiches Licht.
Der Mond
, dachte er. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Diese verstohlene Berührung verstärkte sein Gefühl der Unruhe, des Entgleitens. Unwillkürlich blieb er stehen. Was ist nur los mit mir?
, fragte er sich. Ich muss etwas tun, logisch denken, ruhig, sonst …
Die ganze Zeit über hatte Rolf seine Umgebung nicht richtig wahrgenommen. Wie ein Schlafwandler war er durch die Straßen gewankt und hatte nicht einmal das wütende Hupen eines Autofahrers registriert. In ihm herrschte eine undefinierbare Unruhe, die sich langsam aber sicher steigerte. Mehr als einmal hatte er das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Das war bei diesem Nebel jedoch unmöglich. Seine Nerven vibrierten trotzdem.
Es war so, als fühle er im Unterbewusstsein eine unsichtbare Gefahr, die wie eine giftige Schlange auf ihn lauerte, um plötzlich zuzubeißen. Gerade passierte er das Schaufenster eines Tabakladens, als er wie aus einem Traum erwachte. Im ersten Moment wusste er nicht einmal so recht, wo er überhaupt war. Irritiert drehte er sich noch einmal um die eigene Achse, als müsse er sich orientieren.
Bis zu seinem Haus waren es nur noch ein paar Schritte. Oder doch nicht? Die Umgebung kam ihm einerseits vertraut, andererseits aber auch fremd vor. Instinktiv griff er in die Tasche seiner Jacke, als habe er Angst, er könne den Haustürschlüssel verloren haben. Beruhigt fühlte er das kalte Metall.
Er atmete tief und gleichmäßig. Die feuchte, kühle Luft strömte in seine Lungen, weitete sie, erfrischte und ernüchterte ihn. Uferlos schwarz war die Nacht. Er sah nichts. Er merkte nicht einmal den heftigen Wind, auch nicht, wenn er nachließ. Er stieß mit den Armen an eine harte senkrechte Fläche, lehnte sich dagegen und gab seiner augenblicklichen Schwäche nach. Ihm war alles gleichgültig, auch, an was für einen Gegenstand er sich gelehnt hatte. Wirre Erinnerungen wirbelten durch sein Gedächtnis, ein Schwall idiotischer Ideenverbindungen ergoss sich über ihn. Er verwechselte Satzfetzen, Stimmen; ein Durcheinander von Eindrücken und Bildern tauchte auf und verschwand.
Klar und deutlich vernahm er Ellens Stimme: „Rolf …“
Sie war so stark, dass er das Zittern der Luft zu spüren glaubte, das die Leere ausfüllte, die nach diesem einen Wort in ihm war. Ein dumpfes Echo entrang sich ihm, halb Ächzen, halb Schluchzen. Rolf blickte auf, sah aber nur die Dunkelheit und spürte den Regen, der unaufhörlich herabströmte.
Plötzlich ertönte ein Geräusch!
Waren das nicht Schritte?
Doch seine Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten weit und breit nichts erkennen. Rolf stieß sich von dem Gegenstand ab, an den er sich gelehnt hatte und ging mit schnellen Schritten die Straße entlang. Den schmerzenden Kopf nach unten geneigt, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, konzentrierte er sich nur noch auf die nächtlichen Geräusche um sich herum. Die Szene hatte etwas Unwirkliches, Unheimliches. Die einsamen Straßen, die dunklen Häuser, der Nebel …
Und dann hörte er auch die Schritte wieder.
Ledersohlen auf nassem Asphalt.
Immer schneller näherten sie sich.
Erschrocken fuhr er herum, vermochte jedoch nichts zu entdecken. Trotzdem glaubte er sehr genau zu wissen, wer ihn verfolgte. Es konnte sich nur um Ellen handeln. Rolf beschleunigte seine Schritte. Und dann machte er plötzlich in der Ferne einen Lichtschein aus. Das musste der Busbahnhof sein, dachte er erleichtert. Vielleicht gab es dort Menschen und somit Hilfe. Er begann zu laufen, nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, sich umzusehen. Dennoch wurde das klackende Geräusch der Schritte hinter ihm immer lauter. Näher und näher kamen sie und hatten ihn fast eingeholt, als er den Bahnhofsplatz erreichte.
Sein Herz schlug heftig. In blinder Angst lief er zu einer Gruppe von Männern hinüber.
„Bitte“, sagte er zu den Fremden. „Helfen Sie mir!“
Er war vom schnellen Laufen außer Atem und zitterte. Mit letzter Kraft wiederholte er: „Bitte, helfen Sie mir! Ich werde verfolgt!“
Verständnislos sahen ihn die Männer an.
„Von wem denn?“, fragte schließlich einer von ihnen erstaunt. Er trug eine Jeansjacke, dunkelblaue Hosen und schwarze Stiefel.
„Von … von meiner Frau …“
„Oh, hast wohl die Alimente nicht bezahlt, was?“, fragte ein anderer.
„Nein … ich …“
„Bist du etwa mit dem Muttchen da verheiratet?“, wollte ein Dritter wissen. Er wies auf eine Dame, die mit einem kleinen Koffer in der Hand an ihm vorbeiging. Vielleicht hatte sie es eilig, weil sie den Nachtbus erreichen wollte.
Sollte das etwa …?
Irritiert blickte Rolf sich um. Sonst war weit und breit niemand zu sehen. Er hatte sich wohl auf seinem nächtlichen Spaziergang von dieser Frau verfolgt gefühlt und war in panischer Angst davongelaufen, weil er glaubte, es handele sich um Ellen.
„So was Dummes“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich scheine tatsächlich an Verfolgungswahn zu leiden.“
„Muss wohl so sein“, erwiderte mit der Jeansjacke. „Und nun mach dich vom Acker. Siehst du nicht, dass du hier störst?“
Er reagierte nicht einmal auf die Aufforderung. Vor Erleichterung wurde ihm fast schwindelig. Er begann laut zu lachen. In seinen eigenen Ohren klang es fremd und schrill. Unvermittelt hielt er inne und schüttelte benommen den Kopf.
„Ich brauche unbedingt eine …“
Er verstummte erschrocken und stöhnte leise. Der Mann mit der Jeansjacke sah ihn ärgerlich an und forderte ihn noch einmal im barschen Ton auf, endlich zu verschwinden, doch einer seiner Freunde, ein großer hagerer Typ mit dunklen, strähnigen Haaren, hielt ihn zurück.
„Lass gut sein“, meinte er grinsend. „Schau ihn dir doch an. Ich glaube, der braucht tatsächlich Hilfe.“
Die anderen Männer musterten Rolf nun ein wenig genauer und nickten dann.
„Du hast Recht, Jo. Deine Nase für gute Geschäfte ist immer noch die beste.“
Der Hagere lächelte geschmeichelt und baute sich vor Rolf auf.
„Was brauchst du? Sprich dich ruhig aus. Bei uns bist du in Sicherheit und unter Freunden.“
Rolf fuhr zusammen und wandte sich wieder den Männern zu. „Entschuldigung, was sagten Sie gerade?“
Jo grinste. „Mann, bist du hinüber. Wenn ich dir helfen soll, muss ich schließlich wissen, was du für gewöhnlich so einwirfst. Also, was suchst du – Koks, Trips, Gras?“
Erschrocken sah Rolf ihn an. „Ich verstehe nicht …“
Ungeduldig schüttelte Jo den Kopf. „Falsche Antwort. Aber gut, wie du meinst. Dann kannst du ja wieder verschwinden. Komm zurück, wenn du weißt, was du willst. Und du wirst wiederkommen. Da bin ich ganz sicher. Dass du auf Droge bist, erkennt doch sogar ein Blinder.“
In diesem Augenblick begann Rolfs Gehirn wieder zu arbeiten. Das sind Drogendealer
, begriff er endlich. Na klar, ich bin am Busbahnhof. Hier drücken die sich doch immer herum. Und ausgerechnet ich habe sie um Hilfe gebeten. Ach du Scheiße!
„Ein … ein Missverständnis. Ja, genau. Das ist alles … alles nur ein Missverständnis“, stammelte er.
„Sicher doch“, sagte Jo grinsend. „Und ich bin ein weißes Kaninchen. Mir brauchst du nichts vorzumachen. Aber vermutlich hätte ich das, was du brauchst ohnehin nicht auf Lager. Du bist nicht der Typ für normale Drugs, und mit Pillen handle ich eigentlich nicht …“
Rolf nickte, murmelte eine Entschuldigung und ging mit schnellen Schritten davon. Nur weg
, durchfuhr es ihn. Er begann zu laufen. Als er vor der Tür seines Hauses ankam, merkte er, wie sehr seine Hände zitterten. Es kostete ihn mehrere Versuche, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Erst als er sich in seinen vertrauten vier Wänden befand, wurde er etwas ruhiger. Doch im Grund genommen fühlte er sich miserabel, ohne die genaue Ursache dafür zu kennen. Im Badezimmer suchte Rolf nach Tabletten, die ihm helfen konnten, doch sein Medizinschrank enthielt nur ein paar Schmerztabletten und ein leichtes Schlafmittel. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass sich die beiden Medikamente in der Wirkung vermutlich gegenseitig aufheben würden, nahm er je zwei der verschiedenfarbigen Pillen und entkleidete sich anschließend.
Anstatt ins Schlafzimmer zu gehen, setzte er sich im Wohnzimmer in seinen Lieblingssessel. Er atmete wie ein Asthmatiker. Vielleicht kam das von den Tabletten. Er verspürte jetzt Angst davor, ins Bett zu gehen. Es erschien ihm plötzlich wie seine letzte Ruhestätte. Er saß zitternd im Sessel und starrte hin und wieder zu der geöffneten Tür, die in den Flur führte.
Das Zittern kam sicher von seinem allgemein schlechten körperlichen Zustand. Aber woher kam der? Hatte er sich während der Beerdigung im strömenden Regen eine Erkältung zugezogen? Oder waren die Ereignisse der letzten Wochen daran schuld? Ellens Verlust ging ihm verdammt an die Nieren. Es würde noch Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis er ihn einigermaßen verkraften konnte. Wie lautete dieser Spruch?
Die Zeit heilt alle Wunden.
Das war Blödsinn. Die Zeit heilt überhaupt nichts. Man lernt bloß irgendwie, damit zu leben.
Rolf hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ihn ein Geräusch aufschreckte. Es kam vom Flur. Und es war keines dieser Geräusche, wie man sie in jedem Haus – vor allem nachts – wahrnahm und die irgendwie mit dem Wärmeaustausch zu tun haben.
Da draußen, Rolf hätte es beschworen, ging ein Mensch.
Einbrecher!
Es konnte sich nur um Einbrecher handeln. Rolf wollte aufspringen und zur Tür stürzen. Er wollte aus dem Sessel gleiten und sich dahinter verstecken. Doch er brachte weder das eine noch das andere zustande. Wie gelähmt, wie festgenagelt, saß er in dem riesigen Sessel und starrte die Tür an, die sich jetzt ganz öffnete. Noch sah er nichts von dem Eindringling. Vielleicht war er in fünf Sekunden schon ein toter Mann!
Dann traf ihn fast der Schlag. Er schluckte. Vor seinen Augen schien sich das Zimmer zu drehen. Kein Zweifel, er hatte Fieber. Er sah Gespenster, denn die Besucherin, die da scheinbar in sein Wohnzimmer kam, konnte nur ein Gespenst sein.
Ellen war doch tot!
Tot! Und wie tot. Er war bei ihrer Beerdigung gewesen, hatte an ihrem Grab gestanden. Wie war das nur möglich?
„Rolf?“
Das war ihre Stimme, und sie klang so wie immer. Plötzlich vergaß er, was ihn eben noch gequält hatte. Er war ein ganz anderer. Die Zeit schien um Monate zurückgedreht. Elastisch sprang er aus dem Sessel auf und ging durch das Zimmer auf Ellen zu. Sie streckte ihm beide Arme entgegen. Sie lächelte. Es war wie in ihren besten Zeiten. Rolf führte sie zu dem Sessel.
„Magst du einen Drink?“
„Später.“
Mit einer Handbewegung brachte sie ihn dazu, sich zu ihren Füßen niederzulassen. Er legte den Kopf gegen ihre Knie. Die Erinnerung an den Alptraum schüttelte ihn noch einmal, aber jetzt würde er ihn rasch vergessen. Vielleicht sprach er mit Ellen darüber. Das würde die Befreiung von dem scheußlichen Druck beschleunigen, der zwar nicht mehr auf ihm lastete, der aber noch wie ein Nebel im Zimmer zu hingen schien.
„Warum hast du mich nicht auf dem Friedhof besucht?“, fragte Ellen.
Er zuckte zusammen. Rolf war fast sicher, sich verhört zu haben. Fragend hob er den Kopf, um sie anzusehen. Sie lächelte, aber in ihrem Lächeln lag Trauer.
„Warum, Rolf? Was habe ich dir denn getan?“
„Ellen, du …“
Seine Stimme brach ab. Er begriff nichts. Er wusste nur, der Alptraum war nicht verflogen. Er war auf eine andere Ebene geglitten. Er war noch teuflischer geworden. Aber Ellens Hand auf seinem Kopf, ihre Finger, die zärtlich mit seinem Haar spielten, wie sie es früher getan hatten – wie passte das zu einem Alptraum? War es nicht real? Konnte er die Hand nicht spüren? Konnte er sie nicht greifen?“
Ich werde noch verrückt,
dachte Rolf. So ist das also, wenn man wahnsinnig wird. Ich glaube, mein Herz macht das nicht mit. Ich werde einen Herzschlag bekommen und sterben, und niemand wird den Grund erfahren.
„Rolf, warum?“
Zweifellos war das ihre Stimme, auch wenn sie ihm fremd vorkam, vermischt mit einem Schluchzen.
„Warum hast du nicht mein Grab besucht?“, fragte Ellen. „Vermisst du mich nicht? Habe ich dich gekränkt?“
Plötzlich spürte Rolf Wut in sich aufsteigen. Er schüttelte ihre Hand ab und sprang auf. Er musste sich festhalten, weil er sich schwindelig fühlte und sonst vielleicht gefallen wäre. Aber das änderte nichts an seiner Wut.
„Jetzt reicht‘s mir! Ich mache das Spiel nicht mehr mit. Wieso bist du nicht tot? Was steckt hinter der Inszenierung? Was wird hier gespielt? Willst du dich an mir rächen? Warum? Ich habe dich immer geliebt.“
Er schluchzte, aber das geschah mehr, weil er mit seiner Kraft am Ende war. Rolf hatte sich abgewandt. Ellen schwieg. Verbittert drehte er sich um und sah ihr ins Gesicht. Sie schien immer noch zu lächeln, aber es war nur mehr ein Abglanz des früheren Lächelns und außerdem war sie seltsam starr.
„Ellen!“
Er sagte es drohend.
„Ellen, hör endlich auf. Ich spiele hier nicht mehr mit, also lass diesen Unsinn.“
Er stöhnte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, die kalt war und schweißnass. Gleichzeitig packte ihn wieder die Wut über diese Erscheinung oder was immer es war. Wild fuchtelte er mit den Händen, als könne er die Gestalt dadurch vertreiben. Doch es gelang ihm nicht. Sie stand vor ihm und sah ihn an, mit klaffenden Wunden, statt mit Augen, und er roch den süßen, Übelkeit erregenden Gestank verbrannten Fleisches.
Ich verliere den Verstand,
dachte er. Verdammt, ich werde verrückt …
Und dann schlich sich ein anderer Gedanke in seine Angst und schnürte ihm die Kehle zu.
Was war, wenn er sich irrte? Vielleicht verlor er gar nicht den Verstand. Vielleicht war das, was er hier sah, real, und Ellen stand tatsächlich hier vor ihm im Wohnzimmer. Ein Gespenst, das sein Grab verlassen hatte, um ihn heimzusuchen und ins Totenreich zu holen. Irgendetwas Unfassbares war geschehen. Er spürte es. Er wusste es. Irgendein unvorstellbares Ereignis hatte die Barriere zwischen den Lebenden und den Toten zusammenbrechen lassen, und die Gespenster der Vergangenheit schickten sich an, die Welt der Gegenwart zu erobern.
Alles war möglich.
Rolf schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Ellen verschwunden. Ein scharfer Luftzug fegte durch den Raum. Was zum Teufel ging hier nur vor? Rolf fühlte sein Herz schneller schlagen. Er wandte sich um, verließ das Wohnzimmer und lief die Treppenstufen zum ersten Stockwerk empor. Er sehnte den Augenblick herbei, wo er in der Lage war, die Schlafzimmertür hinter sich abzuschließen. Nicht, dass er sich dort sicher fühlte – denn wo gab es in diesem Haus schon Sicherheit – aber irgendwie spürte er dort ein Gefühl der Geborgenheit, einer relativen Geborgenheit wenigstens.
Aber daraus wurde nichts. Bevor er das Ende der Treppe erreichte, versperrte ihm eine weibliche Gestalt den Weg. Er zuckte zusammen und hob erstaunt den Kopf. Sofort empfand er wieder dieses unerklärliche Grauen. Ein Grauen, das er früher nie gekannt, in den letzten Tagen aber schon etliche Male erlebt hatte. Die Frau vor ihm trug die Züge von Ellen. Mit einer beschwörenden Geste streckte sie die Hände nach ihm aus. Unwillkürlich wich er zurück.
„Bleib, Rolf!“, flüsterte sie tonlos. „Ich habe dich gesucht und glücklicherweise auch gefunden. Komm zu mir ins Grab.“
„Aber Ellen … das … das kann nicht sein. Du bist …“
„Komm zu mir“, unterbrach sie ihn. „Ich werde dir alles erklären.“
Sie streckte die Hand aus, wollte nach ihm greifen, doch er wich sofort zurück. Ihr Ausdruck wurde plötzlich kokett, so makaber das in der herrschenden Situation auch sein mochte. Ihr ohnehin beinahe durchsichtiges Gewand fiel zu Boden und entblößte einen makellosen Körper.
„Gefalle ich dir, Rolf?“
Sie warf die langen Haare zurück und sah ihn erwartungsvoll an. Rolf wusste überhaupt nicht mehr, was er zu dieser Entwicklung sagen sollte. Unter normalen Umständen würde er sich wahrscheinlich animiert gefühlt haben, hier jedoch verfehlte eine derartige Wirkung gänzlich. Er spürte nur eine steigende Abneigung.
„Ich möchte, dass du mit mir schläfst“, flüsterte sie mit einer fast irren Stimme. „Ganz wild und ganz intensiv, hörst du?“
Rolf wich einen weiteren Schritt zurück. „Verschwinde endlich!“, brüllte er sie an. „Verschwinde!“
Ellens Gesicht verwandelte sich. Die makellose Haut platzte auf. Verbranntes Fleisch wurde darunter sichtbar. Rolf zuckte zurück und wollte davonlaufen, doch er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Plötzlich wurde die Gestalt von Flammen eingehüllt. Sie waren überall. Gierig leckten sie aus dem Teppich und schossen bis an die Decke. Die Tapete wurde schwarz und fiel wie glühender Ascheregen zu Boden. Die Hitze fraß den Sauerstoff im Treppenhaus und machte das Atmen schwer. Der unsichtbare Ring um Rolfs Brust wurde immer enger. Hastig riss er am Hemdkragen, bis der oberste Knopf abplatzte.
Gierig riss er den Mund auf und atmete durch. Der beißende Qualm reizte seine Lungen. Er musste husten. Knisternd breitete sich die Feuersbrunst aus und kroch immer näher. Ellen, oder die Gestalt, die vorgab, Ellen zu sein, war nicht mehr zu sehen. Als er hinter sich ein lautes Fauchen vernahm, fuhr er herum. Rolf stieß einen lauten Schrei aus. Etwas Furchtbares war geschehen. Die Flammen hatten ihn umzingelt.
Verzweifelt taumelte er nach vorne, um zu fliehen. Er presste die Hände vor das schweißnasse Gesicht und wollte durch die Flammenwand brechen. Nur diese eine Chance blieb.
Vergeblich!
Die Hitze war unvorstellbar und stoppte ihn. Keuchend sprang er zurück. Er verlor die Orientierung. Qualvolle Schmerzen musste er ertragen, als die Flammen über ihm zusammenschlugen. Er wollte schreien, doch er brachte keinen Ton heraus. Die Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Für eine Sekunde hatte Rolf das Gefühl, Ellens grinsendes Gesicht in der prasselnden Feuerwand gesehen zu haben. Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Panik erfüllte ihn.
Voller Todesangst suchte er nach einem Ausweg aus dem Inferno. Er musste hier raus. Es wurde immer heißer. Giftiger Qualm strömte aus den Wänden, um alles zu ersticken. Der Teppichboden brannte. Die Hitze raubte Rolf allmählich den Verstand. Es gab kein Entrinnen für ihn. Er war verloren. Rolf taumelte und schlug lang hin. Auf allen Vieren kroch er weiter, aber das Feuer ließ nicht von ihm ab.
Der Schmerz …
Rolf begann zu schreien. In der selben Sekunde erlosch das Feuer. Verwirrt blickte er sich um. Er lag auf der obersten Stufe im Treppenhaus. Sein Herz pochte immer noch heftig, als würde er jeden Augenblick einen Anfall erleiden. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich über das Gesicht. Er merkte, dass er immer noch am ganzen Körper zitterte. Seine Kleidung war nass vor Schweiß und klebte wie eine feuchte zweite Haut am Körper. Keine einzige Stofffaser war mehr trocken.
Verwirrt schüttelte Rolf den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. Was ging hier bloß vor? Mühsam erhob er sich, taumelte hinüber ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Dann hielt er den Kopf unter den kalten Strahl.
Nach einigen Minuten fühlte er sich besser. Das Wasser hatte ihn etwas beruhigt. Er drehte den Hahn zu, richtete sich auf und blickte in den Spiegel. Er sah in ein verbranntes Gesicht mit blutigen Augenhöhlen. Ellens grausam entstelltes Antlitz.
„Du kannst mir nicht entkommen“, sagte die unheimliche Gestalt. Sie lächelte mit verkohlten Lippen. „Warum besuchst du mich nicht?“
Er schmetterte die Faust gegen den Spiegel, dass er unter der Wucht des Schlages klirrend zersprang. Doch aus den Scherben grinste ihm immer noch Ellens Gesicht an, ein Mosaik aus rußgeschwärztem Fleisch und verschmorten Erinnerungen an glückliche Stunden. Rolf schrie und trampelte auf den Scherben herum, zermalmte sie unter seinen Schuhen zu kleinen Splittern, bis Ellens lächelndes Gesicht verschwunden war.
Er keuchte, sah sich nach allen Seiten um – und da und dort, im blanken Muster der gekachelten Wände, entdeckte er ein blutendes Auge, einen rußig lächelnden Mund, eine Strähne verbrannter Haare.
Rolf zitterte.
Er fühlte sich wie Tier, das von den Jägern in die Enge getrieben worden war.
„Warum besuchst du mich nicht?“, flüsterte Ellen aus dem Nichts.
Sie lachte, und in ihrem Gelächter schwang eine Drohung mit, die ihn in wilder Panik aus dem Badezimmer trieb, in die Stille seines Schlafzimmers, die nun vom gespenstischen Geraune seiner toten Frau erfüllt war.
„Komm zu mir, Rolf … komm zu mir …“
Schmerz pochte hinter seiner Stirn und breitete sich wie ein Flächenbrand über seine Kopfhaut aus, kroch hinunter ins Gesicht und in den Nacken. Verzehrender Schmerz, als hätte sich ein hungriger Nager einen Weg in die Höhle seines Schädels gebahnt, um dort seine Gier nach Fleisch zu stillen. Halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst taumelte Rolf zum Bett und warf sich hinein.
Ellens Stimme verwehte.