9
Als Rolf am nächsten Morgen aus wirren Träumen erwachte, fühlte er sich wie durch eine Häckselmaschine gedreht. In seinem Schädel dröhnte es, als habe sich ein Hornissenschwarm darin eingenistet. Mühsam wälzte er sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Rolf wurde von grässlichen Schreckensvisionen gepeinigt, die auch das überraschend strahlende Wetter nicht verscheuchen konnte. Nach mehreren unfreundlichen Tagen voller Regen und Nebel hatte die Witterung umgeschlagen. Der Himmel leuchtete wie hellblaue Seide. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses tummelte sich eine Schar Tauben in der Sonne.
Rolf wandte sich vom Fenster ab. Sofort überkam ihn ein heftiges Schwindelgefühl. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und tastete an der Wand nach einem Halt. Komm schon, du schaffst es bis ins Badezimmer
, ermunterte er sich selbst. Du bist aus dem Bett gekommen, da packst du auch den Rest.
Doch sein Körper war müde, ausgelaugt. Immer wieder wollte ihn die Kraft verlassen. Er öffnete die Schlafzimmertür und blieb einen Moment im Rahmen stehen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und ging hinüber zum Bad.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, hatte er sein Ziel endlich erreicht. Auch wenn seine Beine zitterten, Schweiß auf seiner Stirn stand und ihm immer noch schwindelig war. Langsam öffnete er die Tür, schloss sie wieder hinter sich – und musste sich erst einmal ausruhen. Rolf lehnte sich von innen gegen die Tür, und während er wartete, dass sich sein Atem beruhigte, schaute er sich um. Das Bad war leer.
Er beugte sich über das Becken, wusch sich Gesicht und Hände und tastete nach dem Handtuch. Er trocknete sich sorgfältig ab und hängte das Handtuch zurück auf den Haken, als sein Blick auf den Spiegel fiel, der über dem Waschbecken hing, und seltsamerweise intakt war, obwohl er ihn in der vergangenen Nacht mit der Faust zertrümmert hatte. Er hielt inne. Das kam doch nur von dem grellen Neonlicht, oder …?
Zögernd trat Rolf näher. Dieser fremde Mann dort, der mit dem hageren Gesicht und den dunklen Augenringen: War das wirklich er? Erschrocken betrachtete er sein Spiegelbild. Die Haut wirkte wächsern und müde, die Wangen waren eingefallen, die Lippen verkniffen und seltsam blass, Augen und Haare glanzlos und stumpf. Verwirrt schüttelte Rolf den Kopf.
Wie hatte das nur geschehen können und vor allem wann?
Er hatte doch auch in den letzten Wochen, der schrecklichen Zeit seit Ellens Tod, in den Spiegel geschaut – beim Waschen, beim Kämmen. Warum war ihm diese Veränderung niemals aufgefallen?
Lieber Himmel … dieses Gespenst … das bin nicht ich
, dachte er verzweifelt. Das ist ein Fremder. Ein mutloser, sich selbst bemitleidender schwacher Mann.
Wie erbärmlich.
Was um alles in der Welt sollte er nur machen? Er schüttelte den Kopf. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Er hatte früher keine Angst gehabt und wollte auch in Zukunft keine haben.
„Es wird wirklich Zeit, dass du dich deinen Problemen stellst und dein Leben wieder in den Griff kriegst“, flüsterte die traurige Gestalt, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, zu. Er straffte seine Schultern.
„Mit dem Davonlaufen ist es vorbei, und du“, er wies mit dem Zeigefinger entschlossen auf sein Spiegelbild, „verschwindest unwiderruflich in der Versenkung.“
Während Rolf duschte, beschloss er, das Frühstück in einer Cafeteria in der Innenstadt einzunehmen und dann ein wenig umherzuwandern. Vielleicht brachte ihn ein Spaziergang auf andere Gedanken. Das Nichtstun zerrte mittlerweile an seinen Nerven. Er brauchte endlich mal wieder eine gute Story. Aber außer den üblichen Ufo-Sichtungen und anderem Blödsinn gab es zur Zeit nichts, über das man schreiben konnte.
Rolf trocknete sich ab, ging hinüber ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank neben dem Frisiertisch. Es war ein riesiges Möbelstück, das fast die ganze Fläche der Wand einnahm. Auf der linken Seite befand sich Ellens Kleidung. Unten auf dem Boden standen mehrere farbige Kisten. Dort drin befanden sich all jene Andenken, die Ellen in den letzten Jahren gesammelt hatte, und von denen sie sich nicht trennen konnte. Auf der rechten Seite hing ein halbes Dutzend streng konservativer, dunkler Anzüge, dick und steif, als seien sie über Schneiderpuppen gestülpt, um die rundlichen Formen des Verschwundenen zu konservieren.
Rolf suchte sich einen schwarzen Anzug heraus, nahm ihn vom Bügel und legte ihn aufs Bett. Dann suchte er eine frische Unterhose heraus und wählte nach einigem Zögern ein weiches weißes Unterhemd. Strümpfe fehlten ihm noch. Er nahm sie aus einem Kasten am Boden des Schranks. Daneben standen die schwarzen Schuhe, die er auf Ellens Beerdigung getragen hatte. Dann suchte er nach einem passenden Hemd. Sie lagen in einem Fach über den Anzügen, säuberlich gefaltet.
Er entschied sich für ein Weißes, zog es über und knöpfte es mühsam zu. Es war gar nicht so einfach mit den zitternden Fingern die Perlmuttknöpfe durch die Knopflöcher zu bugsieren. Noch schwieriger war es mit den Manschettenknöpfen. Nun der Anzug. Zum Schluss folgten die Schuhe. Er stand auf und ging einige Schritte. Während er sich zum Schrank umdrehte, nahm er eine Bewegung wahr. Sofort stand er still und suchte zu entdecken, was es gewesen sein könnte.
Es war sein Spiegelbild, das ihm aus der Schranktür entgegenkam. Er betrachtete sich einige Sekunden. Eine Krawatte fehlt
, dachte Rolf. Ich brauche noch eine Krawatte.
Sie hingen neben den Anzügen auf einem Bügel. Auf gut Glück zog er eine heraus. Sie war schwarz und passte recht gut zu dem Anzug. Abermals betrachtete er sich im Spiegel. Sein Vater war immer von sehr konservativer Eleganz gewesen. Heute hätte er seine helle Freude an seinem Sohn gehabt.
Rolf zog den Knoten fest und schloss den Schrank. Die Tür ging nicht gleich zu. Sie klemmte irgendwo. Rolf sah nach. Ein weißes Taschentuch war heruntergefallen und hing in der Fuge. Er hob es auf, um es auf den Wäscheberg zurückzulegen. Es duftete nach allen möglichen Parfümsorten. Lächelnd faltete Rolf es zusammen und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. Aber nun fehlte wirklich nichts mehr. Er überprüfte sein Äußeres ein letztes Mal im Spiegel. Der junge Mann, der ihm dort gegenüberstand, machte in seinem dunklen Anzug einen ernsten, fast feierlichen Eindruck.
Rolf musste lächeln. So hatte er sich noch nie gesehen, weder bei seiner Hochzeit, noch bei Ellens Beerdigung. Gewöhnlich trug er Sweatshirts, Jeans und Sportschuhe. Der seltsame Zeitgenosse, der ihm im Spiegel gegenüberstand, kam ihm ungemein fremd vor – nein, nicht fremd, eher befremdend familiär. Es war ihm, als sähe er durch silbriges Wasser das Bild seines Vaters. Verwundert und eigenartig berührt starrte Rolf in den Spiegel. Ganz sachte und freundlich hatte sein Spiegelbild die Hand gehoben und ihm zugewinkt, und er war ganz sicher, dass er selbst sich nicht gerührt hatte.
Es war eine kleine, freundliche Geste, die sehr typisch für seinen Vater war. Und er erinnerte sich genau, wann er sie zum letzten Mal gesehen hatte: Es war wenige Stunden vor seinem Tod. Sein Vater war sehr plötzlich gestorben, als er von einem Spaziergang nach Hause kam. Rolf wollte gerade mit Freunden ins Kino gehen. Er traf seinen Vater vor dem Haus, und als er an ihm vorüberging und ihm lachend etwas zurief, hatte der Vater die Hand gehoben, genauso wie eben, und ihm zugewinkt.
Das war das letzte Mal gewesen, dass er ihn lebend gesehen hatte. Als er einige Stunden später nach Hause kam, war sein Vater bereits tot.
Rolf wartete. Endlose Minuten stand er so vor dem Spiegel, dann hob er langsam die Hand und versuchte die Geste nachzuahmen, die ihm so vertraut war. Und er hatte den quälenden Eindruck, dass sein Gegenüber ironisch lächelte. Der andere hinter der silbrig-starrenden Fläche rührte sich nicht. Er stand genauso bewegungslos wie Rolf und beobachtete ihn genauso intensiv und misstrauisch.
Langsam kehrte die Vernunft in Rolfs Überlegungen zurück. Nein, er hatte keine Geste gesehen. Er hatte sie sich nur eingebildet. Der dunkle Anzug hatte ihn so sehr an seinen Vater erinnert, dass er davon überzeugt war, ihn vor sich zu sehen. Und wie sehr er seinem Vater glich, war ihm nie so stark aufgefallen wie heute, da er diesen Anzug trug. Und genauso verhielt es sich mit Ellen. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen und lag nun in einem Grab auf dem Friedhof. Sie kehrte nicht zurück, um ihn zu sich zu holen. Er hatte sich das alles nur eingebildet.
Rolf drehte sich um und ging zur Tür. Auch sein Gegenüber im Spiegel hatte sich umgedreht und aufgelöst. Der Spiegel war leer. Hastig zog Rolf die Tür hinter sich zu. Eine Sekunde später verließ er das Haus. Er wollte endlich etwas essen. Doch von einem Augenblick auf den anderen war ihm der Appetit vergangen. Ellen drängte sich immer wieder in seine Gedanken, obwohl er vergebens dagegen ankämpfte. Rolf folgte einer plötzlichen Eingebung. Es war fast wie ein Zwang. Bis zu diesem Augenblick hatte er nichts dergleichen vorgehabt. Im Gegenteil. Noch vor Kurzem wäre ihm der Gedanke absurd erschienen.
Trotzdem winkte er ein Taxi herbei und gab als Adresse den Friedhof an, auf dem man Ellen beigesetzt hatte. Er lag am Stadtrand. Die Fahrt nahm und nahm kein Ende. Unterwegs fragte Rolf sich plötzlich, wie er auf diesen dämlichen Einfall kommen konnte. Er beugte sich vor und klopfte dem Fahrer auf die Schulter.
„Kehren Sie um. Ich möchte nach Hause.“
Aber noch während der Fahrer abbremste, um das Taxi zu wenden, spürte Rolf erneut diesen Zwang, und gegen seinen Willen hörte er sich kleinlaut sagen: „Nein, fahren Sie doch zum Friedhof.“
Der Taxifahrer, der offenbar Kummer gewohnt war, verkniff sich jeden Kommentar. Vielleicht erhoffte er sich auch nur ein großes Trinkgeld.
Der Stadtfriedhof gehörte zweifellos zu den schönsten im gesamten Umland. Ein Zyniker konnte daraus schließen, dass es unangenehmer war, hier tot als lebendig zu sein. Diese Gedanken gingen Rolf durch den Kopf, als er das Tor durchschritt und sich zu erinnern versuchte, wo Ellens Grab lag, an dem er vor einigen Tagen gestanden hatte.
Doch seltsamerweise konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er hatte sich keine Anhaltspunkte gemerkt. Deshalb ging er quer über den Friedhof. Im selben Moment kam ihm zu Bewusstsein, wie unsinnig eigentlich dieser Besuch war. Was hoffte er hier zu finden? Dennoch ging er weiter. Er kam sich vor wie eine ferngesteuerte Puppe. Obwohl er nicht tiefer in den Friedhof hineingehen wollte, ging er immer weiter. Rolf schaute auf die Steine. Nur ganz selten konnte er einen Namen lesen.
Und dann auf einmal waren sie ihm völlig gleichgültig. Etwas anderes interessierte ihn viel mehr. Das Geräusch, das er gehört hatte. Schritte. Leise schleichende Schritte. Irgendwo in seiner Nähe. Rolf blieb stehen und lauschte.
Nichts.
Nach ein paar Sekunden ging er weiter. Wieder diese Schritte.
Oder ein Irrtum?
Unvermittelt blieb er wieder stehen. Die Schritte waren nicht mehr zu hören. Doch dann ertönte das unverkennbare Geräusch eines brechenden trockenen Zweiges. Irgendjemand, der sich in Rolfs Nähe befand und schon seit ein paar Minuten hinter oder neben ihm her schlich, musste auf den trockenen Zweig getreten sein, als Rolf stehengeblieben war. Seiner Meinung nach war der Zweig halblinks hinter ihm gebrochen. Ruckartig drehte er sich um, doch da war niemand.
Langsam ging er weiter. Nach wenigen Schritten blieb er noch einmal stehen. Diesmal hörte er nichts. Überhaupt nichts. Für einen kurzen Moment war er davon überzeugt, sich getäuscht zu haben. Wirklich nur für einen Moment. Dann spürte er fast körperlich, dass jemand in seiner Nähe war. Rolf hatte dieses merkwürdig prickelnde Gefühl im Genick, das er in solchen Situationen oft spürte. Er konnte es eigentlich nicht genau erklären, aber er spürte es und wusste, das jemand da war.
Von Sekunde zu Sekunde wurde er seiner Sache sicherer und gleichzeitig nervöser. Er konnte sich beruhigendere Situationen vorstellen, als auf einem Friedhof von einem Unbekannten beobachtet zu werden. Aber wo befand sich der Betreffende? Versteckte er sich hinter einem Baumstamm oder zwischen den Büschen?
„Hallo!“ rief Rolf. „Komm raus. Ich weiß, dass du da bist!“
Sein unsichtbarer Begleiter dachte gar nicht daran, ihm eine Antwort zu geben.
„Hallo!“, rief Rolf noch einmal. „Rauskommen!“
Das half ihm jedoch auch nicht weiter. Er stand auf dem Friedhof und wusste, dass er von irgendwoher von einem Unbekannten beobachtet wurde. Er wollte zum Grab seiner Frau, obwohl er im Augenblick nicht einmal wusste, wo es sich befand. Was sollte er tun? Weitergehen? Umkehren? Abwarten? Rolf entschied sich für die erste Möglichkeit und ging einfach weiter in das Gelände des Friedhofs hinein.
Schon nach wenigen Sekunden wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er wurde beschattet. Aber weshalb? Was hoffte der Unbekannte, dadurch zu erreichen? Rolf wusste es nicht. Und im Grunde genommen kümmerte es ihn auch nicht. Er marschierte solange über das Friedhofsgelände, bis er Ellens Grab schließlich gefunden hatte. Schon aufgrund der vielen Kränze und Blumen, die darauf lagen, hob es sich von den anderen Gräbern in der Umgebung ab. Er blieb und versank in tiefes Nachdenken. Dann entdeckte er die Bank, die etwas abseits stand.
Er setzte sich und ließ seine Blicke umherschweifen. Von dem unbekannten Verfolger war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Ob er aufgegeben hatte? Oder versteckte er sich zwischen den Büschen und wartete auf eine günstige Gelegenheit?
Wie lange Rolf hier gesessen und nachgedacht hatte, wusste er später nicht mehr zu sagen. Er hatte auch nichts davon gemerkt, dass jemand den Weg entlang gekommen war und sich neben ihn setzte. Erst als er den Kopf hob und sich anschickte, aus seinen Überlegungen zurück in die Wirklichkeit zu kommen, spürte er die Anwesenheit einer anderen Person. Gewohnheitsmäßig wandte er den Kopf – und schrie laut auf.
„Habe ich dich erschreckt?“, fragte Ellen leise. „Du fürchtest dich doch nicht vor mir, oder?“
Er versuchte, sich zu beherrschen. Nachdem sein Schrei verklungen war, schien es unnatürlich still zu sein. Vielleicht befand er sich gar nicht auf dem Stadtfriedhof, sondern in einem unterirdischen Raum, in dem eine künstliche Ellen, die der Toten bis aufs Haar glich, ihn bestrafen wollte. Aber warum? Was hatte er ihr getan? War sie wütend, weil er lebte, während sie in einem Grab lag?
„Warum tust du das?“, fragte er scheinbar unmotiviert. „Ist es meine Schuld, dass du tot bist?“ Seine Stimme wurde zunehmend bitterer und erregter. „Es vergeht kein Tag, an dem ich deinetwegen keine Tränen vergieße.“ Er brach ab und ließ ein leises Lachen hören. „Aber es war ein theatralischer Abgang. Er passt zu dir.“
„Du hasst mich, nicht wahr?“, fragte Ellen ruhig.
„Nein, das tue ich nicht“, antwortete Rolf hastig.
„Wenn du mich liebst, warum kommst du dann nicht zu mir?“
„Zu dir? Wie meinst du das?“
„Komm zu mir. Komm auf die andere Seite.“
Rolf stand auf. Rückwärts entfernte er sich einige Schritte von der Bank, auf der Ellen saß und so etwas von ihm verlangte. Er ging immer weiter rückwärts. Ihre letzten Worte schienen sich in sein Gehirn einzubrennen, so dass für andere Gedanken kein Platz darin war. Als er ungefähr fünfzehn Meter zurückgelegt hatte, sah er ungläubig zur Bank und wischte sich über die Augen. Aber auch danach blieb die Bank leer.
Ellen war verschwunden.
Er hatte geträumt.
Er war seiner Einbildung erlegen.
Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Rolf ging langsam zurück zur Bank. Er befühlte die Sitzfläche. Mittlerweile waren einige andere Friedhofsbesucher in die Nähe gekommen, die auf sein sonderbares Treiben aufmerksam wurden. Als er irr auflachte, sahen sie sich indigniert an. Jeder hatte das Recht auf seinen Spleen, aber musste er ihn auf einem Friedhof spazieren führen?
Rolf ging zu Ellens Grab hinüber.
„Ich liebe dich immer noch“, schrie er mit voller Lautstärke. „Aber ich werde dir nicht folgen!“
Er sah sich um. Vielleicht fühlte er sich plötzlich beobachtet. Er entdeckte die anderen Menschen und floh. Doch unterwegs blieb er immer wieder stehen, drehte sich um, und schrie einzelne Wörter und halbe Sätze, die nicht nur wegen der wachsenden Erregung unverständlicher wurden, sondern auch, weil er Schwierigkeiten hatte, zu artikulieren. Kurz vor dem Ausgang des Friedhofs stürzte er.
Rolf stolperte über einen Stein und fiel der Länge nach in den Dreck. Dort blieb er eine Weile liegen, als wäre er bewusstlos. Aber er kam wieder auf die Füße. Langsam und schwankend setzte er seinen Weg fort.
„Eigentlich geht es uns nichts an“, meinte einer der Friedhofsbesucher. „Andererseits …“
„Man kann es auch so betrachten: Es handelt sich um eine hilflose Person. In diesem Fall hätten wir die Pflicht, zu helfen.“
Die beiden Männer lösten sich von der Gruppe und folgten Rolf zum Ausgang. Er hatte inzwischen die Straße erreicht. Etwas weiter unten stand ein Taxi, dem eben eine Frau mit einem Kind entstiegen war. Rolf rief und wankte auf das Fahrzeug zu. Der Fahrer beobachtete ihn im Rückspiegel. Als er sah, wie schmutzig der Möchtegern-Fahrgast war, und dass er torkelte, stand sein Urteil fest. Mit Betrunkenen hatte er schlechte Erfahrungen gemacht. Er legte den Gang ein und gab Gas.
Rolf beschleunigte seine Schritte und versuchte, das Taxi einzuholen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er eine junge Frau, die ihn oder etwas, das hinter ihm war, verblüfft anstarrte. Er rannte fast an der Frau vorbei. Das Taxi verschwand um die nächste Ecke. Vollkommen außer Atem blieb er am Bordstein stehen. Ein großer weißer LKW näherte sich mit ziemlicher Geschwindigkeit. In diesem Augenblick wusste er, was passieren würde. Und er fühlte, dass er nicht in der Lage war, es zu verhindern.
Er würde warten, bis der Lastwagen ganz dicht herangekommen war, um sich dann unter die Räder zu werfen. Er hatte das Ende einer Einbahnstraße erreicht! Rolf beugte sich schon vor und spannte seine Muskeln an, als er eine monotone und gleichzeitig teuflische Stimme dicht an seinem Ohr vernahm.
„Komm zu mir ins Grab – komm zu mir ins Grab.“
Es gelang ihm, das Gleichgewicht zurückzugewinnen. Der Lastwagen donnerte vorbei. Rolf blickte sich um. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Halluzinationen! Natürlich, ich leide an Halluzinationen
, sagte er sich. Trotzdem wankte er mit ziemlich unsicheren Schritten weiter.