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»SILKE!«

Tante Ebbas Stimme schallte über den Hof.

»Silke, verflucht! Wo bist du?«

Silke drückte Toni gegen die Wand des alten Hühnerstalls, damit Ebba ihn nicht sehen konnte. Sie hielt den Finger an die Lippen.

»Lass sie ruhig schreien«, sagte sie trocken. »Wenn wir Glück haben, erstickt sie dran.«

Sie spähte hinterm Hühnerstall hervor, bis Ebba außer Sichtweite war.

»Sie ist weg«, sagte sie und blies die Backen auf.

Dann kramte sie eine verbeulte Zigarettenschachtel hervor, pulte ihre letzte Zigarette hervor und zündete sie an. Sie inhalierte tief, blies den Rauch in die Luft und reichte Toni die Zigarette.

»Sie raubt mir im Moment den letzten Nerv«, sagte sie.

»Sie will doch nur, dass die Hochzeit toll wird«, sagte Toni und zog an der Zigarette.

»Ja, na klar«, sagte sie matt. »Trotzdem. Für die nächsten fünf Minuten bin ich einfach unsichtbar. Fertig.«

Auf dem Hof ratterte und knatterte es, der Arm des Baukrans flog über das Scheunendach hinweg, Stahlträger schlugen klirrend gegeneinander. Der Aufbau des Festzelts war im vollen Gange.

»Wir haben dich ganz schön überrumpelt, oder?«, meinte Silke und fischte die Zigarette wieder aus seinen Fingern. »Das war Mutters Idee, das mit dem Trauzeugen. Aber irgendwie find ich’s ganz cool. Vor allem ist es eine sehr elegante Lösung, weil Christian jetzt nicht unter seinen Kumpels wählen muss. Da gab es schon Ärger deswegen. Ich sag dir, die reinsten Mädchen sind das.«

»Ist doch kein Problem«, sagte Toni. »Das mach ich gerne.«

Die alte Vertrautheit war zwischen ihnen zu spüren. Es war nicht die erste Zigarette, die sie sich heimlich hinterm Hühnerstall teilten. Silke war damals fast so etwas wie eine Schwester für ihn gewesen. Er erinnerte sich, wie sie im Sommer stundenlang im Garten unter der Markise gesessen und eimerweise Erbsen gepult hatten. Wie sie nach der Ernte Strohballen unterm Scheunendach gestapelt hatten, bis ihre Arme völlig zerkratzt gewesen waren, und wie sie morgens regelmäßig in aller Herrgottsfrühe zum Kühemelken aufgestanden waren. In ihrer Zweisamkeit war die viele Arbeit erträglich gewesen. Wenn Toni alleine arbeiten musste, hatte sich das immer anders angefühlt.

Sag es ihr!, riet ihm eine Stimme. Jetzt und hier. Bevor sie es heute Abend von RTL erfährt.

»Es ist schön, dass du da bist, Toni«, sagte sie und blies Rauch in die Luft. »Ganz ehrlich.«

»Danke. Das find ich auch.«

Sie stieß ihn in die Seite. »Und es ist total cool, was du da machst! Berlin, dein Job, diese Serie … Jeder spricht mich darauf an. Du bist echt so was wie eine Berühmtheit.«

»Komm mich doch mal besuchen! Dann führe ich dich am Set rum. Das macht Spaß, glaub mir.«

Den Vorschlag hatte er völlig unbedacht geäußert. Erst danach fiel ihm wieder ein, dass es dieses Set für ihn bald ja gar nicht mehr gab.

»Ja, das mach ich mal«, sagte Silke. »Dann besuche ich auch deine Freundin Kayla. Die ist total nett.«

Toni verdrehte die Augen. »Sie gräbt alle Frauen an. Merkst du das nicht?«

»Und wenn schon. Ist doch witzig. Außerdem hat Kayla mehr Charme und Esprit als die meisten Typen, die hier so rumhängen.«

»Eben. Und die Typen sind nicht blöd. Das merken die doch, was da abgeht, oder?«

Silke lachte. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Sie reichte ihm die fast heruntergebrannte Zigarette.

»Tut mir jedenfalls leid, das mit gestern Abend«, meinte Toni. »Nicht zu glauben. Eine Schlägerei!«

»Ach, irgendwie fand ich’s witzig.«

»Bist du verrückt? Es ist doch deine Hochzeit und …«

»Ganz ehrlich, Toni. Manchmal wünschte ich mir, diese beschissene Hochzeit wäre schon vorbei.«

»Aber … das ist nicht dein Ernst.«

»Seit Wochen macht Mama mich schon verrückt. Ich war ein paarmal kurz davor, ihr an die Gurgel zu gehen. Man könnte denken, sie heiratet und nicht ich.«

»Ich weiß ja, sie kann manchmal ein bisschen anstrengend sein. Aber …«

»Nein. Diesmal ist es anders. Glaub mir. Sie macht mich rasend. Ihr bescheuerter Häppchentisch gestern Abend ist ein gutes Beispiel. Es war doch nur der Polterabend! Da hätte es völlig gereicht, wenn sie eine Suppe macht. Und meinetwegen noch ihren blöden Mettigel. Aber nein. Alles muss perfekt sein. Nur das Beste vom Besten kommt infrage. Kannst du dir vorstellen, wie es war, mit ihr das Hochzeitskleid zu kaufen? Von den anderen Vorbereitungen ganz zu schweigen. Meine Meinung zählt dabei gar nichts. Wirklich, Toni, wenn diese Hochzeit vorbei ist, mache ich drei Kreuze im Kalender.«

»Aber es ist doch dein Fest! Schließlich bist du es, die heiratet.«

»Glaub mir, darüber sind wir längst hinweg. Es ist nicht mein Fest. Es ist ihres. Für mich geht es nur noch darum, das Ganze zu überleben. Scheiß auf den schönsten Tag meines Lebens.«

Mit spitzen Fingern und zusammengekniffenen Augen nahm sie den letzten Zug der runtergebrannten Zigarette, dann warf sie die Kippe weg und trat sie aus.

Toni wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

»Und was meint Onkel Ewald dazu?«, fragte er. »Ich hab von dem noch gar nichts mitbekommen. Aber der bremst sie doch sonst, wenn’s zu viel wird.«

»Er tut nur, was Mama sagt. Was diese Hochzeit angeht, lässt er sie machen. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, wie sehr ich das alles hasse. Aber er hat mich nur traurig angesehen und nichts gesagt. Papa ist ziemlich still in letzter Zeit. Wenn er kann, ist er in seiner Werkstatt. Ansonsten tut er das, was Mama ihm aufträgt. Von dem ist keine Schützenhilfe zu erwarten.«

Auf dem Hof schlug Metall mit lautem Scheppern auf den Asphalt. Die Männer riefen sich etwas zu, dann bewegte sich der Arm des Krans wieder.

Toni und Silke standen eine Weile schweigend da. Schließlich stahl sich ein Lächeln in Silkes Gesicht.

»Hast du gesehen, was sie für ein Veilchen hat?«, fragte sie. »Sie hat was aufs Maul bekommen, aber derbe.«

Silke begann zu kichern. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, doch es war nicht mehr zu bremsen. Sie lachte immer lauter, lachte, bis ihr die Tränen kamen. Und Toni, der sich eigentlich zusammenreißen wollte, konnte nicht anders, als mitzulachen. Eine Weile lagen sie sich laut lachend in den Armen, nur langsam beruhigten sie sich wieder.

Du musst es Silke sagen, ermahnte ihn die Stimme. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt.

»Du, Silke, wegen der Sache mit dem Trauzeugen noch mal …«

Da tauchte Tante Ebba am anderen Ende des Hofs in der Haustür auf. Sie nahm die Hände zu Hilfe und schrie: »SILKE!«

»Es ist so weit.« Silke rollte mit den Augen. »Ich glaube, meine fünf Minuten Auszeit sind vorbei.«

»Silke!«, hörten sie Ebbas Stimme. »Wo hast du dich versteckt, zum Teufel?«

Silke wandte sich an Toni. »Wolltest du noch was sagen?« Da der nicht sofort antwortete, deutete sie das offenbar als ein Nein. »Dann geh ich mal zu Mama. Es gibt noch eine Menge zu tun. Ich darf gar nicht daran denken. Wollen wir hoffen, dass wir das Ganze irgendwie überleben.«

Mit diesen Worten trat sie aus dem Schatten des Hühnerstalls hervor und winkte ihrer Mutter zu.

»Ich bin hier!«, rief sie. »Ich komme schon.«