13

Toni fuhr den schweren Traktor vom Hof. Er fühlte sich an seine Jugend erinnert, an die Zeit, in der er regelmäßig von Tante Ebba und Onkel Ewald zum Pflügen aufs Feld geschickt worden war. Was musste er für ein Bild auf dem Traktor abgeben? Seine Freunde in Berlin hätten sicher herzlich darüber gelacht.

Er fuhr am Vordereingang des Bauernhauses vorbei, wo die Nachbarn den Vorgarten mit Papierrosen schmückten. Plötzlich war da ein vertrautes Gesicht in der Menge: Kayla. Sie wirkte wie nachträglich ins Bild retuschiert.

Er bremste ab, warf die Tür des Führerhäuschens auf und kletterte hinaus. Kayla bemerkte ihn auf dem Traktor – und begann tatsächlich zu lachen.

»Ein echter Bauernjunge also«, sagte sie. »Wer hätte das gedacht?«

Doch Toni stand nicht der Sinn nach Späßen.

»Was machst du hier?«, platzte er heraus.

»Was soll ich schon tun? Ich helfe bei den Vorbereitungen.«

»Ich denke, ihr besichtigt heute die Meyer-Werft! Oder ihr seid im Vergnügungspark oder weiß Gott wo!«

»Lutz ist mit den Jungs vom Kickboxen unterwegs, aber ich …«

»Wie bitte?« Toni glaubte sich verhört zu haben. »Ist der wahnsinnig? Die werden ihn umbringen, wenn herauskommt, dass er …«

»Dass er schwul ist? Komm mal runter, Toni.«

»Und was ist mit dir? Wieso bist du hier?«

»Deine Tante Ebba hat gesagt, dass sie jede helfende Hand gut gebrauchen kann.«

»Tante Ebba! Als wenn es um die gehen würde! Du bist doch nur hier, um mich zu ärgern. Deshalb seid ihr beide aus Berlin angereist: um euch einen Spaß mit mir zu erlauben. Na, herzlichen Dank!«

»Wir sind hier, weil wir eingeladen worden sind. Deine Tanten mögen uns, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst. Und wir mögen sie ebenfalls.«

»Meine Tanten denken nicht nach. Oder sie sind zu blauäugig. Weiß der Himmel, weshalb sie euch eingeladen haben. Aber ich seh doch, was passiert. Ihr macht euch über die Leute hier lustig. Als wenn ihr etwas Besseres wärt. Habt ihr hier schon eure Witze gerissen? Über die Provinz und das Landleben? Ihr seid uns gegenüber so was von oben herab.«

»Meine Güte, was nimmst du dich wichtig! Toni, ich weiß nicht, wer dir diesen Schwachsinn eingeredet hat, aber hast du mal darüber nachgedacht, dass wir die Leute hier mögen könnten? Und dass wir deshalb gekommen sind? Weil hier ein großes Fest stattfindet, weil wir deine Tanten bei der Gelegenheit wiedersehen und weil wir ganz nebenbei mal etwas zu Gesicht bekommen, was Berlin nicht zu bieten hat.«

»Was soll das denn sein? Kuhmist und Windräder? Oder etwa ein Haufen Landfrauen, die am Rad drehen und kurz vorm Nervenzusammenbruch stehen?«

»Deine Tanten scheinen viel Stress zu haben, das stimmt. Vielleicht hat sich Ebba mit der Hochzeit ein bisschen übernommen. Aber alles andere ist doch ganz großartig. Diese Bräuche, die hier gepflegt werden. Das ganze Drumherum. Wo gibt es denn so was noch? Meine Mutter hat dreimal geheiratet, jedes Mal in einer anderen Kneipe. Diese Traditionen hier … ich finde das toll. Und was deine Tante Ebba angeht … sie versucht einfach, alles perfekt zu machen. Sie hat sich in diesem Perfektionsding ein bisschen verloren, das gebe ich zu. Deshalb versuche ich zu helfen, verstehst du? Und nicht etwa aus den Gründen, die du mir da unterstellst! Also wirklich. Manchmal denke ich, du bist derjenige, der nicht nachdenkt.«

»Hast du Tante Ebba schon gesagt, dass ihre Arme so lang sind, damit sie den Kühen beim Küssen ans Euter fassen kann?«

Kayla sah ihn fassungslos an. Dann fing sie an zu lachen. »Oh Gott, Toni. Du bist so ein Idiot. Ja, gut, wir haben ein paar Witze erzählt! Na und? Meinst du, wir meinen irgendetwas davon ernst? So gut müsstest du uns doch kennen!«

Er spürte sein schlechtes Gewissen. Offenbar hatte er Kayla falsch eingeschätzt.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte er.

»Na, was schon?«, fragte sie mit einem Grinsen. »Ich tue das, was ich am besten kann: mir ein Tablett schnappen, mich unters Volk mischen und die Leute bei Laune halten.«

Toni betrachtete das Treiben vor dem Bauernhaus. Traditionen. Vielleicht war ja etwas dran an dem, was Kayla sagte, und so furchtbar war das alles gar nicht.

»RTL bringt heute Abend einen Bericht über mich«, sagte er niedergeschlagen. »Die wollen auch von der Hochzeit berichten und bei der Gelegenheit erwähnen, dass ich früher in den Bräutigam verliebt war.«

»Du warst in diesen Christian verliebt?« Kayla lachte. »Das hat mir noch gar keiner erzählt.«

»Das weiß auch keiner«, sagte er. »Nicht mal meine Cousine. Sie werden es heute Abend erfahren. Und RTL wird das bestimmt kräftig ausschmücken. Du weißt ja, wie das läuft: Dann werde ich wahrscheinlich versucht haben, ihn meiner Cousine auszuspannen. Oder was die sich sonst einfallen lassen.«

Kayla dachte darüber nach. »Sollst du nicht als Trauzeuge einspringen?« Sie schüttelte den Kopf. »Und du denkst, Lutz und ich sind hier das Problem?«

»Toni, was machst du denn noch?«, rief Onkel Ewald herüber. »Du musst dich beeilen, jetzt fahr schon.«

Er blieb unschlüssig stehen. Irgendwie hatte er sich von Kayla einen Rat erhofft, wie er mit der ganzen Sache umgehen sollte.

»Hörst du nicht? Fahr schon«, sagte sie. »Wir brauchen das Grün. Sonst können wir nicht weiterschmücken.« Dabei betonte sie mit einem Lächeln zweimal das Wörtchen wir.

»Also gut.« Toni stieg wieder ins Fahrerhäuschen. »Und Kayla. Bitte rede nicht über Politik, ja?«

Sie warf ihm eine Kusshand zu, drehte sich um und schnappte sich das Tablett. Dann tauchte sie in der Menge ab. Er ließ den Motor an und steuerte den Traktor auf die Straße.

Eine Viertelstunde später hatte Toni das Wäldchen erreicht, wo der Trecker beschlagnahmt worden war. Der Anhänger mit den Birkenzweigen war weithin sichtbar. Siegbert sprang vom Wagen, als er Toni kommen sah. Er trug einen grünen Overall, Gummistiefel und eine Schirmmütze. Aus seinem Mund ragte ein Grashalm, die Hände hatte er tief in seine Taschen vergraben. Da war kein Lächeln in seinem Gesicht, er stand einfach schweigend da und wartete darauf, seine Arbeit zu tun. Toni stellte sich Siegbert in einer Berliner Schwulenbar vor. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Er brachte den Traktor neben dem Anhänger zum Stehen. Siegbert tippte zum Gruß gegen seine Schirmmütze.

»Hallo, Toni!«, rief er. »Gut, dass du da bist.«

Im Gegensatz zu Kayla fand er es offenbar nicht ungewöhnlich, Toni auf einem Traktor zu sehen. Aber wahrscheinlich hätte er es auch nicht ungewöhnlich gefunden, Königin Silvia von Schweden auf einem Traktor vorfahren zu sehen. Er war eben durch und durch Bauer.

»Wo ist der alte Trecker?«, fragte Toni.

»Der ist schon abgeschleppt worden. Setz ein Stück zurück, dann mach ich den Anhänger fest.«

Er lotste Toni rückwärts neben das Wäldchen, machte sich an der Anhängerkupplung zu schaffen und stieg anschließend zu ihm ins Führerhäuschen.

»Alles klar«, sagte er. »Es kann losgehen.«

Dann ließ er sich auf den Kindersitz fallen, schräg neben Toni auf dem Kotflügel des Rückrads. Ein seltsames Gefühl. Da war ein Bild, das Toni in den Sinn kam: Ein Bauer, der mit dem Traktor vom Feld fuhr, und neben ihm auf dem Kindersitz seine Frau, mit Kopftuch, Kittel und Heugabel. Da waren gleich mehrere Sachen an dem Bild, die ihm falsch vorkamen.

Siegbert saß schweigend da und blickte aus dem Fenster. Er sah in die Ferne, als würde er über das Wetter nachdenken oder über die vermutete Weizenernte in diesem Jahr. Die Motoren machten Lärm, und die vielen Schlaglöcher auf dem Feldweg schüttelten sie ordentlich durch. Das Schweigen schien Siegbert nicht zu stören.

»Wie ist das eigentlich so?«, fragte Toni, der sich nichts weniger vorstellen konnte, als auf dem Land zu wohnen.

»Hier zu leben, meinst du?«

»Genau. Hast du einen Freund?«

Siegbert kaute auf seinem Grashalm herum. Er blickte immer noch in die Ferne, als gäbe es da eine Antwort auf die Frage.

»Da war mal einer«, sagte er. »Ist schon was her.«

»Und … ähem … wo kam der her?«

»Aus Papenburg. Aber das war nichts für ihn, die Arbeit auf dem Hof.«

»Aus Papenburg? Wie hast du den denn kennengelernt? Übers Internet?«

»Weißt du, Toni, das ist nicht mehr wie früher. In der Nähe von Meppen, da gab’s im letzten Jahr sogar einen schwulen Schützenkönig.«

»Wolltest du denn nie weg von hier?«, fragte Toni.

»Nein. Wozu auch?«

»Na ja. Um sich auszuleben.«

»Mein Vater meint, ich soll mich bei ›Bauer sucht Frau‹ melden. So wie dieser schwule Pferdewirt aus dem Sauerland. Aber ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.« Er stieß Toni in die Seite. »Wenn ich das machen würde, dann wäre ich auch bei RTL. So wie du.«

Darauf wusste Toni nichts zu sagen. Er tat, als müsse er sich auf den Weg konzentrieren.

»Ich weiß, das ist alles nicht so toll wie bei dir«, meinte Siegbert. »Du hast es natürlich geschafft. Du machst dein Ding und bist erfolgreich. Bestimmt ist dein Leben viel besser als meins. Aber ich bin eben ein Bauer. Das ist nun mal so. Hier ist mein Platz.«

Ich habe es also geschafft, dachte Toni. Ich bin erfolgreich.

»Ich habe gerade meinen Job verloren«, sagte er.

Im darauffolgenden Schweigen waren nur die Motoren zu hören.

»Die Produzenten der Serie haben mich rausschreiben lassen«, fuhr Toni irgendwann fort. »Und es gibt keine einzige Anfrage für eine neue Rolle. Vor der Sache mit ›Aufruhr im Männerknast‹ war ich ein Niemand. Ich hab jahrelang gekellnert, um meine Miete zu bezahlen, weißt du? Ab und zu mal ein Werbespot oder eine Tagesrolle in einer Telenovela. Doch das hat gerade mal die Kosten gedeckt. Wenn ich zurück in Berlin bin, werde ich mir wieder einen Job als Kellner suchen müssen. Ob ich noch mal so eine Chance bekomme? Keine Ahnung. Es ist fast wie Lotto spielen. Es gibt so viele gute Schauspieler. Es ist verdammt schwer, sich da zu behaupten.«

Für einen kurzen Moment beneidete er Siegbert beinahe um sein Leben. Zumindest um seine Sicherheit. Wer konnte schon von sich sagen, wo sein Platz im Leben war? Toni mit Sicherheit nicht.

Sie fuhren mit dem Trecker auf eine asphaltierte Straße. Hier gab es keine Schlaglöcher, und Toni drückte aufs Gas. Nach einer Weile ergriff Siegbert das Wort.

»Mit zwölf habe ich angefangen, alleine die Kühe zu melken«, sagte er. »Wir hatten ein Radio im Melkstall, und ich kann mich noch erinnern, wie eine Weile ständig ein Song von Barbra Streisand lief. ›Woman in Love‹, kennst du den?«

»Natürlich.« Toni lächelte. Es war eine der ganz großen Schwulenhymnen. Pathos und Leidenschaft in Reinkultur. Etwas Schwuleres gab es kaum.

»Damals im Melkstall«, fuhr Siegbert fort. »Irgendwie wusste ich, dass der Song was mit mir zu tun hat. Mehr als die Kühe und die Melkmaschine, verstehst du? Ein krasses Gefühl, ich kann es nicht beschreiben. Da im Radio, ganz weit weg, da spielte sich mein wirkliches Leben ab. Nicht im Melkstall.«

Ein sonderbares Bekenntnis. Toni verstand nicht, was er damit sagen wollte. War es nun doch nicht der richtige Platz für ihn, hier draußen auf dem Bauernhof im Emsland? Siegbert schien ins Grübeln geraten zu sein. Toni wartete darauf, dass noch etwas kommen würde. Die Moral von der Geschichte. Schließlich blickte Siegbert auf, wie von einem Tagtraum erwacht.

»Vielleicht war es auch die Version von Gitte Haenning«, sagte er. »Wer weiß?«

Und so fuhren sie schweigend weiter, bis kurz darauf der Bauernhof mit dem Festzelt ins Blickfeld rückte.