Auf dem Hof wurden sie bereits sehnlichst erwartet. Tante Ebba, die eben aus der Kirche zurückgekehrt war, übernahm sofort das Regiment. Toni hatte den Motor noch nicht abgestellt, da hörte er sie bereits Befehle erteilen.
»Schnell, schnell, schnell! Zuerst das Grün fürs Zelt. Damit wir mit der Tischwäsche und den Blumendekorationen weitermachen können. Und ihr zwei bringt die Kartons mit den Papierrosen hierher. Und du da! Du machst – wo ist denn jetzt der Akkuschrauber? Der lag doch gerade noch hier rum. Vor einer Minute hab ich den gesehen. EWALD!«
Toni stieg vom Traktor und blickte sich um. Siegbert war bereits auf dem Anhänger und reichte die Birkenzweige hinunter. Die Nachbarn kamen dazu, und überall wurde gearbeitet.
Hier stehe ich nur im Weg rum, sagte er sich und beschloss, sich auf die Suche nach Christian zu machen. Noch war es nicht zu spät für eine Beichte.
Tante Ebba fing ihn ab. »Toni, denkst du an die Stallfenster? Sonst ist es gleich dunkel, und dann war’s das. Morgen früh haben wir nämlich keine Zeit mehr für so was.«
Er sah auf die Uhr. Es war bereits später Nachmittag. Zwar würde es noch eine Weile dauern, bis die Sonne unterging, aber etwas anderes stand ihnen bald bevor: die Ausstrahlung der Sendung von Martins Wels.
»Ja, gleich, Tante Ebba. Ich müsste vorher nur noch schnell …«
»Nix! Gar nichts musst du vorher! Und jetzt in den Stall mit dir!«
Sie wirbelte herum. »Helene! Wo bleiben denn die Tischdecken? Hat jemand Helene gesehen?«
Zuerst also die Stallfenster. Wenn er sich beeilte, wäre danach immer noch Zeit. Er steuerte das Bauernhaus an, um den Putzeimer zu holen. In der Diele hörte er Stimmen aus der Küche. Es waren seine Tanten.
»Immi, das schaffen wir nicht mehr«, sagte Tante Helga. »Ich würde sagen, die Etage mit der Pfirsichcreme lassen wir einfach weg. Das merkt doch keiner, wenn eine Etage fehlt.«
»Aber die Pfirsichcreme hab ich schon fertig! Da sitz ich seit einer halben Stunde dran! Hättest du nicht eher was sagen können? Was ist denn, wenn wir die Buttercremeetage weglassen?«
Toni drückte vorsichtig die Küchentür auf. Tisch und Arbeitsflächen waren über und über mit Mehl und Butter und Schokolade beschmiert. Eierschalen und Backpapierreste lagen herum. Und in der Spüle türmte sich das schmutzige Geschirr. Seine Tanten sahen dabei aus, als hätten sie im Kuchenteig eine Runde Schlamm-Catchen gespielt.
Sie achteten gar nicht auf Toni. Anscheinend hatten sie sein Eindringen nicht einmal bemerkt.
»Am besten, wir lassen beide Etagen weg«, sagte Helga.
»Aber wird Ebba das nicht merken?«, wisperte Immi.
»Ach was. Die Torte wird trotzdem noch riesengroß sein.«
»Weglassen?« Das war Tante Ebba. Sie war plötzlich in der Tür aufgetaucht, wie Luzifer. »Das habe ich gehört! Ich weiß genau, was ihr vorhabt. Die Torte wird so gemacht, wie es geplant war. Da wird nichts weggelassen. Haben wir uns verstanden?«
»Ebba«, flehte Tante Helga. »Ohne Kamilla schaffen wir das nicht. Wir hätten es ja nicht einmal mit ihr geschafft. Aber so …«
»Ich komme gleich und helfe euch«, sagte Ebba. »Sobald das Zelt vorbereitet ist.«
Tante Immi und Tante Helga wechselten hilflose Blicke. Toni versuchte, möglichst lautlos den Eimer unter der Spüle hervorzuziehen.
»Du bist ja immer noch hier!«, bellte Tante Ebba ihn an. »Sieh zu, dass du in den Stall kommst! Verdammt noch mal.«
Ebba drehte sich um und steuerte den Ausgang an. Sie hielt inne. Silke stand in der Tür. Mit düsteren und verbitterten Blicken betrachtete sie ihre Mutter. Toni bemerkte die Flasche Schnaps, die sie dabei im Arm hielt.
»Silke, was machst du denn hier?«, kam es von Tante Ebba. »Geh und hilf Helene Bruns mit der Tischwäsche.«
Sie rührte sich nicht vom Fleck. Stand einfach da und starrte ihre Mutter an.
»Jetzt mach schon!«, dröhnte Ebba. »Oder soll die Hochzeit morgen doch nicht stattfinden?«
Es schien, als wollte Silke etwas erwidern. Doch dann nahm sie lediglich einen tiefen Schluck aus der Schnapsflasche, drehte sich um und ging davon. Es entging Toni nicht, dass sie bereits ziemlich wankte. Er entschloss sich, ebenfalls das Weite zu suchen, bevor er eine weitere Abreibung von Tante Ebba bekäme.
»Ebba, du siehst doch, dass wir das nicht schaffen werden«, sagte Tante Helga. »Wenn wir ein oder zwei Etagen weglassen würden …«
»Nein, das kommt nicht infrage! Ich werde nicht auf meine Hochzeitstorte verzichten!«
»Es ist Silkes Hochzeitstorte!«
»Keine Widerrede! Das war mein letztes Wort.«
Toni beeilte sich, das Bauernhaus zu verlassen. Mit dem Putzeimer unterm Arm ging er am Festzelt vorbei. Im Eingang bot sich ihm ein seltsames Bild: Sein Onkel Ewald wischte den Holzboden. Sorgsam und bedächtig zog er den Wischmopp über die Dielen.
»Onkel Ewald, was machst du denn da?«, fragte Toni verdattert. Sein Onkel blickte auf und lächelte.
»Genau das, wonach es aussieht, mein Junge. Ich wische den Zeltboden. Einer muss es ja tun.«
»Aber …« Toni begann zu lachen. »Gib es zu: Das ist das erste Mal in deinem Leben, dass du einen Wischmopp in der Hand hältst.«
Ewald stimmte ins Lachen ein. »Richtig. Aber ich habe mir gedacht: Was kann daran schon so schwer sein? Und jetzt sieh mich an! Ich mache mich doch hervorragend!«
Es tat gut, an diesem verrückten Tag gemeinsam mit jemandem zu lachen. Toni spürte die Anspannung von sich abfallen.
Er sah sich im Festzelt um. Es nahm langsam Gestalt an. Auch wenn Tante Ebba ihm heute furchtbar auf die Nerven ging, eines musste er ihr lassen: Das Zelt sah großartig aus. Alles war weit und hell und geräumig. Überall schneeweiße Decken, geraffte Stoffe, Spitzen und Schleifen. Weiße Holzzäune an den Eingängen, Palmen, die dem Ganzen ein mediterranes Ambiente verliehen, und Leuchtkugeln, die das Zelt in sanftes Licht tauchten. Hier drin sah es wirklich festlich aus, das konnte Toni nicht bestreiten. Beinahe erhaben wirkte das alles.
An einem der Tische entdeckte er einen dicken Mann mit einem Krötengesicht, der schlecht gelaunt herumsaß und den anderen bei der Arbeit zusah. Toni hätte gar nicht sagen können, woran es lag, aber er war überzeugt davon, dass es sich bei dem Mann um einen Polizisten handelte. Fehlte nur noch die Uniform.
»Wer ist der Typ da?«, fragte er Onkel Ewald.
»Das ist Ludger Everding, der Vater des Bräutigams.«
»Echt? Der sieht Christian gar nicht ähnlich.«
»Im Gegenteil. Als junger Mann war Ludger ebenfalls ein attraktiver Mann. Die Frauen waren ganz verrückt nach ihm.«
»Ach ja?« Toni fragte sich, was das für Christian zu bedeuten hatte.
»War er das, der den Trecker beschlagnahmt hat?«
»Ja. So ist er nun mal. Durch und durch Polizist. Du wirst ihn sicher noch näher kennenlernen.«
Die Kröte schien zu bemerken, dass sie über ihn sprachen.
»Glauben Sie nicht, ich billige, was Sie tun, junger Mann!«, rief er ihm zu.
Toni sah verwundert zu Onkel Ewald auf, doch der hob lediglich die Schultern und machte sich wieder daran, den Boden zu wischen. Toni trat näher an die Kröte heran.
»Entschuldigung? Meinen Sie mich?«
»Natürlich meine ich Sie! Wen denn sonst! Wir werden ja nun zu einer Familie gehören, deshalb will ich mich etwas zurückhalten. Aber diese Serie, in der Sie da mitspielen, die ist abscheulich. Ich schäme mich für Sie, ganz ehrlich.«
»Na ja, es ist keine Hochkultur, das stimmt schon, aber wir …«
»Was Sie da machen, ist gesellschaftlich völlig verantwortungslos!«, polterte er los. »Eine Serie über Gefängnisinsassen! Also wirklich, wer kommt auf so eine Idee? Straftäter als Rollenvorbilder zu zeigen, das gibt es doch gar nicht! Freundschaften zwischen Mördern und Vergewaltigern, und das soll sehenswert sein? Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun? Das sind doch Gauner! Verbrecher! Eine Bedrohung für jede Gesellschaft.«
»Tut mir leid, ich wusste nicht …«
»Sie wussten nicht, Sie wussten nicht! Eine Schande ist das, wirklich! Sie glorifizieren Verbrecher! Und Ihre Cousine heiratet in meine Familie ein! Es ist nicht zu fassen! Wissen Sie eigentlich, dass ich Polizist bin? Und morgen werde ich mit jemandem wie Ihnen verwandt sein! Das kann man doch keinem Menschen erklären.«
»Es ist nur eine Rolle. Ich bin Schauspieler.«
»Und hat Sie jemand gezwungen, ausgerechnet diese Rolle anzunehmen? War es so? Sicher nicht. Sie hätten ablehnen können, oder? Man muss nicht für alles sein Gesicht hergeben. Nein, junger Mann, tut mir leid, Sie machen Ihrer Familie wirklich keine Ehre.«
Toni sah sich nach Unterstützung um, doch da beruhigte sich die Kröte bereits wieder.
»Wie gesagt, ich will mich zurückhalten. Aus Respekt vor Ihrer Tante Ebba. Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehören nun zu einer Familie.«
Toni hatte keine Lust, sich weiter mit diesem Platzwart zu unterhalten. Er deutete auf den Putzeimer.
»Ich muss jetzt leider weiter. Wir sehen uns noch.«
Ludger Everding scheuchte ihn mit einer Handbewegung weiter. Toni war also entlassen.
»Überhaupt: Schauspielerei«, raunte der Polizist ihm hinterher. »Das ist doch kein Beruf.«
Toni ignorierte ihn und ging weiter, um sich an der Theke Putzwasser zu besorgen. Das Bierfass war bereits angeschlossen, und rund um den Tresen hatte sich eine Gruppe von Männern versammelt. Toni entdeckte einen großen Flachbildschirm an der Wand. Tante Ebba hatte wirklich keine Kosten gescheut. Ein Fußballspiel lief. Werder Bremen gegen Hoffenheim. Die Männer trugen düstere Gesichter zur Schau. Es stand null zu zwei.
»Wie viele Demütigungen müssen wir eigentlich noch mit Werder ertragen?«, meinte einer.
Über ihren Köpfen hing dichter Zigarettenqualm. Die Männer rauchten und tranken Bier, während sie sich das Spiel ansahen. Toni fragte sich insgeheim, ob diese Pause mit Ebba abgesprochen war. Auf dem Tresen brannte eine der edlen Tischkerzen. Die Männer hatten sie offenbar vom nächstbesten der bereits geschmückten Tische genommen. Das war sicher auch nicht in Ebbas Sinn. Er ging zum Spülbecken und ließ Wasser in seinen Eimer laufen.
»Muss das denn sein, dass hier geraucht wird?« Helene Bruns tauchte mit einem Blumengesteck in der Hand auf. »Morgen ist das im Zelt eh verboten.«
»Draußen können wir nicht Fußball gucken«, sagte einer der Nachbarn. »Dauert nur noch zweiundzwanzig Minuten, das Trauerspiel hier.«
Helene Bruns schien zu überlegen, ob sie ihnen eine Standpauke halten sollte, doch keiner der Nachbarn achtete noch auf sie.
»Männer!«, seufzte sie und wollte sich bereits abwenden, als sie die Kerze entdeckte. »Seid ihr wahnsinnig? Die Kerzen sind doch abgezählt.«
Sie trat näher und verlagerte das Blumengesteck in ihren Händen, um die Kerze auszupusten. Doch damit löste sie heftigen Protest aus.
»Nein! Lass die brennen! Wir haben sonst kein Feuer mehr!«
»Das war unser letztes Streichholz, Helene! Damit haben wir die angemacht. Bitte.«
Einer der Nachbarn zündete sich rasch eine Zigarette an der Flamme an, nur für den Fall, dass Helene sich nicht umstimmen ließe.
Sie schüttelte den Kopf. »Macht das mit Ebba aus«, sagte sie grimmig und ging weiter.
Tonis Eimer füllte sich langsam. Plötzlich sogen die Männer erschrocken die Luft ein. Einer jaulte wie ein Hund, dem auf dem Schwanz getreten wurde. Im Fernsehen wurde gejubelt. Noch ein Tor für Hoffenheim. Er drehte das Wasser ab, nahm den Eimer und ging weiter.
An einem der Tische spannten Silke und Helene Bruns gerade die weiße Tischdecke. Helene strich die Falten heraus, und Silke begann, den Tischschmuck aufzudecken: Bänder, Blumengestecke, Kerzen, Geschenksäckchen, Tischkarten. Tante Ebba war nicht in der Nähe, und so glaubte er, es wäre eine gute Gelegenheit, endlich das sensible Thema anzusprechen. Als er an den Tisch trat, verschlug Silkes Alkoholfahne ihm beinahe den Atem.
»Du, Silke«, begann er. »Noch mal wegen der Sache mit dem Trauzeugen. Kann das nicht jemand anderes machen?«
»Wer soll das denn machen? Und weshalb überhaupt?«
»Ich mein nur. Ich fühl mich da nicht so wohl. Es ist einfach so, dass …«
Doch seine Cousine winkte ab. »Toni, ich hab jetzt echt keinen Nerv für so was. Mach’s einfach und fertig. Ich will das alles hier nur noch hinter mich bringen.«
»Ich muss da noch was anderes mit dir besprechen. Gleich kommt auf RTL ein Bericht über mich. Die haben mich interviewt, verstehst du? Ich hab da was gesagt, was ich besser nicht gesagt hätte.«
Sie hob die Hand. »Stopp! Ich will’s gar nicht hören. Ich hab hier wirklich genug Stress. Besprich das mit Christian. Der ist draußen und bringt die Lichterketten an.« Dann wandte sie sich an Helene Bruns. Sie stützte sich auf dem Tisch ab und blinzelte. »Passen die lachsfarbenen Schleifen überhaupt zu den Geschenkesäckchen? Oder sollen wir lieber die Gestecke umstellen?«
Toni zog mit einem Seufzer weiter. Er wollte gerade auf den Hof treten, da ließ ein furchtbares Getöse alle in Raum erstarren. Es war ein lautes, grollendes Donnern, gefolgt von klirrendem Porzellan und scheppernden Töpfen. Alle sahen erschrocken auf, keiner wagte zu fragen.
Das war im Bauernhaus gewesen, so viel war Toni klar. Doch eher er weiter darüber nachdenken konnte, kam Tante Ebba ins Zelt gestürzt.
»Wir brauchen einen Arzt! Manfred, komm schnell!«
Einer der Nachbarn sprang auf. Offenbar war er Mediziner, denn er folgte Ebba, ohne zu zögern und mit ernstem Gesicht. Die anderen sahen sich jetzt nur noch ängstlicher an.
Toni stellte den Eimer ab und lief hinterher. Wie er bereits befürchtet hatte, ging es in die Bauernhausküche. Tante Immi lag am Boden, begraben unter Rührschüsseln und Backblechen. Kleid und Haare waren voller Schokoflocken und Zuckerstreusel, eine Schüssel mit Cremefüllung war ihr in den Schoß gefallen, und Zuckerguss tropfte vom Tisch auf sie herab.
»Ich bin ausgerutscht«, wimmerte sie. »Da lag ein Stück Butter auf dem Fußboden. Ich weiß gar nicht, wie das dahin gekommen ist.«
Offenbar hatte sie sich im Sturz an der Wachsdecke festgehalten und so alles vom Tisch heruntergerissen: Rührschüsseln, Tortenböden, Cremefüllungen, Dosenfrüchte. Die Zutaten für die Hochzeitstorte lagen in der ganzen Küche verteilt. Und Tante Immi sah aus wie das Opfer einer Tortenschlacht.
»Das wollte ich nicht«, jammerte sie und versuchte, sich aufzurichten. »Ich … Aua!«
»Nicht bewegen, Immi«, kam es von dem Nachbarn.
Toni starrte fassungslos in die Küche. Tante Immis Anblick ließ ihn die Katastrophe für einen Augenblick vergessen. Sie schien tatsächlich verletzt zu sein.
»Raus hier, Toni.« Tante Ebba schubste ihn zurück in die Diele. »Raus, raus, raus.«
Dann schloss sie die Tür und ließ ihn allein. Niedergeschlagen kehrte er ins Festzelt zurück. Dort blickten ihn alle fragend an, aber er wusste ja selbst nicht, was passiert war. Also warteten sie, bis endlich Tante Ebba aus dem Haus kam und zu den anderen ins Zelt trat.
»Immi ist nichts Ernstes passiert«, verkündete Ebba. »Sie hat sich nur die Hand verstaucht. Manfred macht ihr einen Verband. Sie soll für heute nach Hause gehen. Morgen geht es ihr aber wieder gut, sagt er.«
»Du liebe Güte, Gott sei Dank«, kam es von Helene Bruns. »Ich dachte schon, es wäre was Schlimmes passiert.«
»Nein, Helene«, sagte Ebba. »Alle sind wohlauf.«
In der darauffolgenden Erleichterung steuerten die Männer die Theke an, um erst einmal ein Bier auf den Schreck zu heben. Ebba ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Und was ist mit der Torte?«, wagte Toni zu fragen.
Tante Ebba winkte ab.
»Wieso?«, ging Silke dazwischen. »Was ist denn mit der Torte?«
»Wir haben ein kleines Problem«, seufzte Ebba. »Aber ich habe es im Griff. Ich muss jetzt nur in die Küche. Ihr müsst hier alleine klarkommen.«
Silke wollte etwas sagen, doch Ebba brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Das ist eine Notsituation«, sagte sie. »Die Torte geht jetzt vor. Ich werde Berthold gleich anrufen, dass er morgen hier Musik machen soll. Wir haben keine Zeit mehr, uns wegen der Band Gedanken zu machen. Berthold macht das sehr gut, das habe ich gleich gesagt, und aus. Ich will nichts mehr hören.«
Silkes Blick verdüsterte sich. Sie schnappte sich trotzig die Schnapsflasche und nahm einen Zug. Toni wünschte sich, sie würde endlich mit dem Trinken aufhören.
»Ihr schmückt jetzt hier weiter«, bestimmte Ebba. »Toni macht sich ans Putzen, und alles geht seinen Gang.«
»Was ist denn jetzt mit der Torte?«, wollte Silke wissen.
Toni wusste ja: Die Torte lag auf dem Küchenboden verteilt, oder zumindest das, was nicht in Tante Immis Haaren klebte. Doch er wagte nicht, das laut zu sagen.
»Das braucht dich nicht zu interessieren«, sagte Ebba barsch. »Du wirst morgen den schönsten Tag in deinem Leben haben! Alles andere kannst du uns überlassen. Und jetzt ist Schluss!«
Silke stieß ein höhnisches Lachen aus. »Den schönsten Tag in meinem Leben? Glaubst du das wirklich? Das ist doch wohl ein schlechter Witz!«
Sie wurde laut, und die Leute rundherum spähten neugierig herüber.
»Silke!«, zischte Tante Ebba und nahm ihr die Schnapsflasche weg. »Reiß dich zusammen!«
Toni sah, wie Ludger Everding ebenfalls auf sie aufmerksam wurde. Seine Ohren schienen blitzschnell zu wachsen.
»Hier geht es nur um dich, Silke!«, verkündete Ebba.
»Bullshit!«, rief sie. »Das ist totaler Bullshit! Um dich geht es, Mama, und zwar nur um dich! Ich wollte das alles gar nicht, dieses Luxuszelt, die achtstöckige Torte, das übertriebene Menü und was du sonst noch durchgesetzt hast. Ich wollte einfach nur heiraten. Und du hast alles ruiniert! Hörst du? Du hast alles ruiniert!«
»Silke! Pst! Bist du wohl leise!«
Toni blickte sich um. Helene Bruns tat angestrengt so, als ob sie nichts gehört hätte. Ludger Everding dagegen machte sich diese Mühe nicht. Er fixierte Silke mit finsteren Blicken.
»Sollen es doch alle hören!«, rief sie. »Das ist mir egal. Ich hasse dich! Ich hasse diese Hochzeit!«
Sie wollte wieder nach der Schnapsflasche greifen, doch diesmal geriet sie ins Wanken und stieß die Flasche stattdessen um. Alkohol gluckerte auf Tisch und Boden. Ebba brachte alles in Sicherheit.
»Silke, jetzt wirst du …«
»Gar nichts werde ich. Hörst du? Ich … ich …«
Toni glaubte schon, sie würde jetzt anfangen zu weinen. Doch stattdessen hob sie theatralisch die Arme, als wollte sie den ganzen Raum umfassen.
»Dies alles ist ein Albtraum!«, schrie sie. »Ein einziger Albtraum!«
Am Tresen, wo noch gut gelaunt auf Tante Immis Gesundheit angestoßen wurde, kam plötzlich richtig Stimmung auf. Von dem ganzen Theater mit Silke und Ebba hatte man da offenbar nichts mitbekommen. Die Männer lachten und grölten.
»Toni!«, rief einer von ihnen. »Seht mal, da ist Toni im Fernsehen!«
Auf dem Flachbildschirm, auf dem gerade noch das Fußballspiel gezeigt worden war, lief jetzt das Boulevardmagazin von Martin Wels. Ein Ausschnitt aus der Serie, in dem er in seiner Gefängniskluft zu sehen war.
Toni hielt den Atem an. Nun war es also so weit. Zu spät, um mit Christian oder Silke über die Sache zu reden. Er hatte den Zeitpunkt verpasst.
In diesem Moment öffnete sich die Zelttür, und Christian trat mit einem Werkzeugkoffer unterm Arm ein. Er bemerkte das Durcheinander und die gute Stimmung.
»Was ist denn hier los?«, fragte er und stellte den Koffer ab. »Ist das Toni da im Fernsehen?«
Toni trat einen Schritt zurück. Er wäre jetzt am liebsten im Boden versunken. Oder unsichtbar geworden. Stattdessen musste er tatenlos mit ansehen, wie alle den Flachbildschirm anstarrten und den Bericht aufmerksam verfolgten. Plötzlich waren Landschaftsaufnahmen vom Emsland zu sehen.
»Der Shootingstar von ›Aufruhr im Männerknast‹ hat aber auch ein Privatleben«, sagte eine Sprecherin. »Dieses Wochenende ist er bei seiner Familie im Emsland, wo für seine Cousine die Hochzeitsglocken läuten. Und da überschneiden sich Wirklichkeit und Fiktion. Wie RTL erfahren hat, gibt es in der gutbürgerlichen Familie, in der Toni Müller aufgewachsen ist, durchaus Erfahrungen mit Verbrechen und Vollzug. Toni Müllers Cousine, die Braut in dieser scheinbaren Idylle, die für Toni fast so etwas wie eine Schwester ist, hat als Jugendliche eine Zeit lang in Frankreich im Gefängnis gesessen. Die französischen Behörden wollen zu dem Fall keine Stellung beziehen. Aber Grund für die Verurteilung war offenbar eine Drogensache, heißt es von einem Insider. Doch was immer sie ins Gefängnis gebracht hat, von ihr dürfte Toni wertvolle Tipps bei der Entwicklung seiner Rolle bekommen haben.«
Keiner rührte sich vom Fleck. Alle starrten schweigend auf den Bildschirm.
Toni begriff: Das war die Überraschung, von der Martin Wels gesprochen hatte! Sophia schien recht zu behalten. RTL interessierte sich nicht dafür, dass er mal in den Bräutigam verliebt gewesen war. Es war ein völlig anderes Geheimnis, das Martin Wels ans Licht gezerrt hatte. Nur wie hatte er davon erfahren? Diese Angelegenheit war schließlich streng geheim. Die Antwort war wahrscheinlich einfach und banal: Sie hatten in der Redaktion gute Journalisten. Vielleicht gab es einen Hinweis. Und dann hatten sie eben recherchiert.
Verdammt. Martin Wels hätte Toni einen Tipp geben können. Eine Vorwarnung. Der fand das bestimmt witzig, ihn mit diesem Detail im Bericht zu überraschen. Er hatte ja keine Ahnung, was er damit hier anrichtete. Schließlich wusste keiner von der Sache in Frankreich. Dafür hatte Tante Ebba gesorgt.
»Du warst im Knast?«, fragte einer der Nachbarn verdattert.
Silke dreht sich zu Toni. Sie hatte Tränen in den Augen. »Das war es also, was du eben sagen wolltest? Du hast RTL von der Sache erzählt?«
Toni begriff plötzlich. »Nein! Ich war das nicht! Es ging um was ganz anderes, um …«
»Die haben dich doch interviewt! Willst du das jetzt leugnen? Ganz toll, Toni. Alles dreht sich um dich. Der große Schauspieler. Bist du jetzt zufrieden?«
Er sagte nichts. Was kaum einem auffiel, denn nun stand Silke im Mittelpunkt. Sie hatte ja quasi zugegeben, dass der Bericht der Wahrheit entsprach. Alle Blicke richteten sich auf Tonis Cousine. In den Gesichtern der Leute spiegelten sich Unglaube und Fassungslosigkeit. Nur bei Christian glaubte Toni noch etwas anderes zu erkennen: Er schien verletzt zu sein. Offenbar wusste auch er nichts von der ganzen Sache.
»Dann ist das also wahr?«, fragte Christian.
Silke war eindeutig zu betrunken, um die Situation zu retten. Sie stolperte einen Schritt zurück, stieß gegen einen Stuhl, geriet ins Straucheln und warf bei dem Versuch, sich am Tisch festzuhalten, ein Blumengesteck zu Boden. Mit gehetzten Blicken sah sie um sich, als suche sie nach einem Notausgang. Ein eindeutigeres Schuldbekenntnis hätte sie nicht geben können.
Ludger Everding ging mit scheidendem Tonfall dazwischen. »Ist das wahr, Ebba? Deine Tochter ist eine Kriminelle?«
»Ach, Ludger, halt deinen Rand!« Tante Ebba versuchte, ihre Tochter zu umarmen. »Silke, bitte …«
Doch Silke schlug sie weg. Sie funkelte ihre Mutter wütend an.
»Meine Schwiegertochter eine Kriminelle!« Ludger presste sich die Hand gegen sein Herz. »Wie konnte mir das passieren? Ich habe eine Schlange an meiner Brust genährt!«
Die restlichen Nachbarn standen immer noch da wie vom Blitz getroffen.
»Und du hast keinem was gesagt! Nicht einmal deinem Bräutigam! Unerhört!«
»Ich wollte es ja sagen!«, heulte Silke auf und zeigte mit dem Finger auf ihre Mutter. »Aber du musst aus allem ein Geheimnis machen!«
»Unglaublich!«, rief Ludger. »Wir gehen. Komm, Christian.«
Sein Sohn rührte sich nicht von der Stelle.
»Christian!«, bellte er. »Komm jetzt!«
Aber der Junge hatte nur Augen für Silke. Er schien nicht glauben zu können, was passierte.
»Dann bleib eben hier«, sagte sein Vater. »Aber über deine Heirat mit dieser … mit dieser Person, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die ist nicht nur kriminell, sie ist auch eine Lügnerin. Willst du so jemanden etwa heiraten?«
»Vater!«, fuhr Christian ihn an. »Sei endlich still!«
Ludger ging eingeschnappt davon.
»Silke!«, sagte Christian. »Stimmt das? Du warst im Knast?«
»Nur ganz kurz! Es war keine große Sache. Ich wollte es dir sagen. Ich wollte …«
Christian sah aus, als hätte er einen Kinnhaken bekommen. Er marschierte an Silke vorbei zum Tresen, um sich einen Schnaps einzuschütten.
»Bist du jetzt zufrieden, Mama?«, schrie Silke. »Hast du erreicht, was du wolltest?«
Toni glaubte, dass seine Tante sich lautstark zur Wehr setzen würde, doch stattdessen sank sie auf einen Stuhl und wirkte plötzlich wie ein geprügelter Hund.
»Du hast alles ruiniert, Mama! Alles!«
Mit diesen Worten wirbelte Silke herum, lief ins Freie und warf die Tür mit solcher Wucht ins Schloss, dass das ganze Zelt mit seiner luftigen Metallkonstruktion unter der Wucht zu schwanken schien. Eine in die Tür gefasste Glasscheibe bekam einen hässlichen Sprung. Dann wurde es ruhig.
Christian zögerte nicht lange. Er stellte sein Glas auf dem Tresen ab und lief ihr hinterher. »Silke! Warte doch!« Ohne auf die anderen zu achten, folgte er ihr ins Freie.
Zurück blieben Toni und Tante Ebba, Helene Bruns und eine Reihe von Nachbarn. Keiner wagte etwas zu sagen. Bis sich schließlich Helene Bruns beherzt räusperte.
»Es fehlen jetzt nur noch die Tischkärtchen, sonst ist alles fertig«, sagte sie. »Ich denke, den Rest können wir morgen früh erledigen.«
Ebba nickte schwach.
Und so begannen sie, ihre Sachen zusammenzuräumen, um den Heimweg anzutreten. Keiner blickte noch einmal zum Tresen. Warum auch? Später sollten sich alle deswegen bittere Vorwürfe machen, denn hätten sie auf den Tresen geachtet, hätten sie bemerkt, dass auch der einen winzigen Stoß bekommen hatte, als Silke die Tür zuwarf. Die Erschütterung reichte aus, um die brennende Kerze ins Wanken zu bringen, die am Rand des Tresens als Zigarettenanzünder gedient hatte, und sie in eine Kiste voller Papierrosen stürzen zu lassen.