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Ein lauter Knall weckte ihn. Toni fuhr erschrocken hoch. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Das Herz klopfte wild. Er lauschte, doch alles war still. Die Dämmerung war bereits heraufgezogen, graues Licht fiel ins Schlafzimmer. Vielleicht war es ein Traum gewesen, sagte er sich.

Dann wieder ein ohrenbetäubender Knall. Wie aus dem Nichts. Toni saß jetzt aufrecht im Bett. Das musste ein Schuss gewesen sein. Und da begriff er: das traditionelle Schießen. Damit begann der Hochzeitstag. Die Nachbarn weckten auf diese Weise das Brautpaar.

Er sah auf die Uhr. Es war bereits Punkt sechs. Dabei hätte er schwören können, es wären nur ein paar Minuten vergangen, seit er um kurz nach eins ins Bett gegangen war. Er schlug die Decke zur Seite und warf sich den Morgenmantel über. Dann ging er zum Fenster und spähte hinaus. Auf der Straße vor der Haustür hatte sich ein gutes halbes Dutzend Männer versammelt. Einer von ihnen lud gerade ein Luftgewehr, hielt es in den Himmel und gab einen Schuss ab. Wieder ein ohrenbetäubender Knall.

Toni stütze sich mit beiden Armen auf der Fensterbank ab. Jetzt, wo das Adrenalin langsam aus seinem Blut wich, kehrte die Müdigkeit zurück. Draußen vor der Haustür tauchte Christian auf, im Jogginganzug und mit Hausschuhen. Er trug ein Tablett mit Schnäpsen vor sich her, um die Männer damit zu begrüßen. Denn natürlich begann auch der Hochzeitstag erst einmal mit einem Schnaps. Die Männer bejubelten ihn lautstark, und fröhlich wurden die Gläser gehoben.

Toni fragte sich, ob von ihm erwartet wurde, ebenfalls nach draußen zu gehen. Er beschloss, im Haus zu bleiben, denn um diese Uhrzeit würde er keinen Alkohol vertragen.

Die Gesichter der Männer wurden plötzlich ernst, man wandte sich den Ruinen des Festzelts zu. Offenbar wurde beratschlagt, was zu tun sei. Toni fragte sich, wo Silke die ganze Zeit über blieb. Ihn beschlich der Verdacht, dass sie vielleicht noch gar nicht wieder nach Hause gekommen war.

Er verließ sein Zimmer und ging hinunter in die Diele. Aus der Küche drangen Geräusche. Leise trat er näher und schob die Tür auf. Tante Helga stand am Herd und kochte Kaffee. Trotz der frühen Stunde war sie fertig angezogen und sah aus wie aus dem Ei gepellt.

»Guten Morgen, Toni!«, kam es vom Küchentisch.

Er wandte sich zum Tisch – und traute seinen Augen nicht. Das war Kayla. Sie saß gemeinsam mit Tante Immi vor ihrem Laptop und grinste ihn an. Immis rechte Hand war bandagiert, ansonsten wirkte sie munter wie eh und je.

»Was … was macht ihr hier?«, fragte er.

»Wir überlegen uns eine Strategie, um den Tag zu retten«, sagte Kayla. »Immi hat mich gebeten mitzuhelfen. Ich habe schon gehört, du hast mit deinem Interview die gesamte Hochzeit ruiniert.«

»Das stimmt doch gar nicht!«, rief Toni fassungslos. »Das … das war ganz anders!«

»Sie macht doch nur Spaß, Toni«, sagte Tante Immi. »So gut müsstest du sie doch kennen!«

Sie sah ebenfalls in den Laptop und achtete nicht weiter auf ihn. Kaylas Augen funkelten ironisch.

»Obwohl du dir das Interview tatsächlich hättest sparen können«, kam es von Tante Helga. »Ein bisschen Loyalität Silke gegenüber wäre angebracht gewesen.«

»Ich hab die Geschichte nicht erzählt!«

Keine sagte etwas darauf. Sie glaubten Toni nicht.

»Wo steckt Silke überhaupt?«, fragte er.

»Sie ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte Helga.

Er deutete zur Tür. »Aber die Nachbarn sind draußen, um das Brautpaar zu begrüßen.«

»Christian spielt das Theater mit«, sagte Helga. »Er sagt ihnen, Silke liegt noch im Bett. Nach allem, was gestern passiert ist, wird man ihr das nicht verübeln.«

»Hat keiner was von ihr gehört?«, fragte er. »Sie muss doch irgendwo in der Nähe sein.«

»Wenn du eine Idee hast, nur raus damit«, meinte Kayla.

Tante Helga stellte Tassen auf den Tisch und goss Kaffee ein. »Silke zu finden ist im Moment wichtiger als ein neues Festzelt«, sagte sie zu den Frauen. »Ohne sie gibt es nämlich keine Hochzeit.«

Kayla konzentrierte sich auf den Laptop. Toni lugte neugierig auf den Bildschirm. Sie war auf der Google-Seite und suchte offenbar nach Nachrichten über ihn.

»Wo ist dieser blöde Beitrag denn?«, sagte sie. »Ich will mir das nur mal kurz ansehen, was du da gestern verzapft hast.«

Sie klickte sich durch die Suchergebnisse. Dann tauchte ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf.

»Wer sagt es denn, hier ist was! Also: Toni Müller verlässt …« Sie stockte und sah erschrocken auf. »Verlässt ›Aufruhr im Männerknast‹. Stimmt das? Du hast deinen Job verloren?«

Toni ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken und nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee. Auf Kaylas Frage antwortete er nicht, aber das war wohl auch nicht nötig. Ihm war offensichtlich anzusehen, dass es sich bei dem Bericht um keine Presseente handelte.

»Seit wann weißt du das?«, fragte sie.

»Seit vorgestern. Ich hab’s am Polterabend erfahren.«

»Und warum hast du nichts gesagt?«, fragte Tante Immi besorgt. »Das ist ja furchtbar. Was wird denn jetzt aus dir? Du warst doch so großartig in der Serie! Ich hab mir das jede Woche angesehen, das weißt du. Das können die doch nicht machen. Ohne dich ist die Serie nicht halb so gut.«

Die Tür flog auf, und Christian trat ein. Er stellte das Tablett mit den geleerten Schnapsgläsern auf dem Küchentisch ab und stieß einen Seufzer aus.

»So, das wäre schon mal geschafft«, sagte er. »Die Nachbarn sind weg.« Er bemerkte die Gesichter der anderen. »Ist was passiert?«

Tante Immi schob den Laptop herum, damit Christian die Headline lesen konnte. Sein Gesicht verdunkelte sich.

»Du bist deinen Job los, Toni?« Er kratzte sich am Kinn. »Verdammt. Das tut mir leid.«

Tante Helga begann, den Artikel laut vorzulesen.

»RTL hat den Rauswurf noch nicht bestätigt«, begann sie, »aber laut Insiderinformationen verlässt Toni Müller, der in der Serie den Gefangenen Willi spielt, ›Aufruhr im Männerknast‹ innerhalb weniger Wochen. Der letzte Sendetermin soll der 24. August sein. Toni Müller selbst war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Sein Management verweigert jeden Kommentar und weist darauf hin, dass sich der Schauspieler gegenwärtig auf einem Familienfest befindet.«

Alle hörten aufmerksam zu. Toni schloss die Augen. Erst jetzt wurde das alles für ihn real. Zuvor hatte es sich angefühlt, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Doch nun, wo Tante Helga den Artikel laut vorlas, wurde der Rauswurf Realität. Seine erste gut bezahlte Rolle. Vorbei.

»Ein Mitarbeiter des Boulevardmagazins von Martin Wels berichtet, dass Toni Müller heiter und gelöst gewirkt habe, als er vor zwei Tagen interviewt wurde«, fuhr sie fort. »Von dem Rauswurf wusste der Schauspieler zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nichts. Selbst bei dem informellen Gespräch nach dem Interview ging es nur um die bevorstehende Hochzeit seiner Cousine im Emsland und die Tatsache, dass Toni Müller …« Tante Helga stockte. Sie blickte in die Runde, räusperte sich und fuhr fort: »… die Tatsache, dass Toni Müller als Jugendlicher in den Bräutigam verliebt war.«

Toni glaubte, einen Schlag bekommen zu haben. Ein Gefühl, als stürze er in einen Abgrund. Panik erfasste ihn. Jetzt kam doch alles raus. Obwohl es gar keine Rolle mehr spielte! Nun würde er das ganze peinliche Szenario doch noch durchstehen müssen.

Aber zu seiner Überraschung wurde am Tisch herzlich gelacht.

»Das hast du denen erzählt?«, meinte Kayla gut gelaunt.

»Ich wusste das ja immer«, behauptete Tante Immi. »Der Junge hat sich damals auf einmal für Fußball interessiert, das muss man sich mal vorstellen. Das war, als unser Christian bei der B-Jugend im Tor stand. Da wollte Toni plötzlich sonntags zum Fußball. Ich wusste gleich, da steckt was anderes dahinter.«

Toni lief jetzt knallrot an. Er blickte keinem ins Gesicht. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst.

»Du warst mal in mich verknallt?«, fragte Christian. Das schien ihm gar nicht unangenehm zu sein. »Ist das wahr? Und du bist extra wegen mir zum Fußball gekommen?«

Tonis Mund war so trocken, dass er nicht antworten konnte.

»Das ist aber vorbei, oder?«, fragte Christian mit einem Lächeln. »Du bist nicht mehr …?«

»NEIN!«, brach es aus Toni hervor.

»Wer ist der Junge, der da im Tor steht?, habe ich gefragt«, kam es lautstark von Tante Immi. »Nicht wahr, Helga? Das habe ich gefragt!«

»Ja, Immi. Ich erinnere mich.« Helga legte Christian verträumt die Hand auf die Schulter. »Wer hätte damals gedacht, dass du einmal zu unserer Familie gehören wirst. Auch wenn das für Toni sicher eine große Enttäuschung gewesen wäre.«

»Ja, wer hätte das gedacht?«, stimmte Christian ein und schob hinterher: »Wirklich lustig, was so alles rauskommt. Ist noch Kaffee da, Helga?«

»Natürlich. Der ist ganz frisch. Nimmst du Milch und Zucker?«

»Nein, gar nichts. Nur Kaffee, vielen Dank.«

Und das war es. Damit war das Thema durch. Toni war fassungslos. Er konnte nicht glauben, wie gelassen sie alle auf dieses Geheimnis reagierten. Nach der ganzen Panik, die er wegen der Geschichte gemacht hatte. Sie betrachteten es einfach nur als Spaß!

Plötzlich war da eine dünne Stimme, die zitternd fragte: »Du hast deine Arbeit verloren?«

Alle blickten sich um. Tante Ebba war in der Tür aufgetaucht. Sie trug ihr Nachthemd und die rosafarbenen Hauspuschen. Ihr Gesicht war blass, die Augen verweint, und ihre Haare standen in alle Richtungen ab.

»Ist das wahr, Junge? Du hast deine Arbeit verloren? Was wird denn nun aus dir? Wir haben uns solche Sorgen gemacht, und als du diese Rolle bekommen hast, haben wir uns so gefreut. Und jetzt das. Wie soll es denn weitergehen?«

»Irgendwie, Tante Ebba«, sagte er. »Irgendwie geht es immer weiter.«

Die Antwort schien sie nicht zufriedenzustellen. Sie schüttelte langsam den Kopf, eine Geste, die besagte: Das ist alles zu viel für mich.

»Ich lege mich wieder hin«, sagte sie. »Bitte weckt mich nicht. Es sei denn, Silke kommt nach Hause.«

Als sie die Küche wieder verlassen hatte, herrschte betretenes Schweigen. Keiner der Anwesenden hatte Ebba je so erlebt.

»Wir müssen was tun«, sagte Christian. »Und zwar schnell. Ich werde mich auf die Suche nach Silke machen. Wenn wir Glück haben, hat sie einfach nur irgendwo ihren Rausch ausgeschlafen. Und was den Rest angeht …«

»Was hast du den Nachbarn gesagt?«, fragte Immi.

»Dass die Hochzeit stattfindet. Es gibt die Trauung in der Kirche, den Sektempfang und alles, was dazugehört. Wie es mit der Feier auf dem Hof aussieht, das habe ich offen gelassen. Vielleicht können wir noch eine Gastwirtschaft mieten. Oder uns fällt etwas anderes ein. Die Jungs wollen gleich mal ein bisschen rumtelefonieren.«

»Wir kriegen keine Gastwirtschaft mehr«, sagte Helga. »Nicht so kurzfristig. Was wir brauchen, ist ein Zelt. Tische und Stühle. Und eine Band. Eine Torte. Und das ist erst der Anfang.«

Immi blickte auf die Uhr. »Wir haben noch fünf Stunden, bis die Hochzeitsmesse anfängt. Das ist nicht viel Zeit.«

»Nein«, sagte Christian und blickte in die Runde. »Das bedeutet, wir brauchen Leute, die sich schnell etwas einfallen lassen. Leute mit guten Ideen.«