In der Küche rauchten die Köpfe. Kayla führte lange Listen mit Dingen, die noch zu organisieren waren. Aber mit jedem Punkt, der vermeintlich abgehakt werden konnte, tauchten zwei neue Punkte auf, die bis dahin noch keiner bedacht hatte. Die Zeit lief ihnen davon. Außerdem waren sie zu wenige. Das ganze Unternehmen schien zunehmend aussichtslos.
»Ich hab einen Schwager in Bremen«, warf Helene Bruns ein. »Der hat da Wahlkampf für die SPD gemacht. Bei dem im Keller sind noch die ganzen Sachen von der Wahlparty. Ihr wisst schon, womit die Halle geschmückt worden ist. Vielleicht kann er sich ins Auto setzen und das Zeug herbringen.«
»Ich weiß nicht, Helene«, kam es von Tante Immi. »Ich glaube, von den zweihundert Gästen, die geladen sind, wählt kein einziger die SPD. Dann noch eher die Grünen, aber ideal wäre das auch nicht. Kennst du denn keinen von der CDU?«
»Ist das nicht egal?«, meinte Kayla. »Ich meine, ein Bild von Angela Merkel willst du eh nicht über dem Brauttisch hängen haben, oder?«
»Was hätte er denn da so, dein Schwager?«, fragte Tante Helga. »Ich meine, das sind doch nicht nur Plakate, oder?«
»Nein, Schirme, Aufsteller, Luftballons. Vielleicht sogar Papierrosen. Ich müsste ihn mal fragen.«
»Sonnenschirme könnten wir gut gebrauchen«, meinte Kayla. »Für die Kuhwiese zwischen Zelt und Scheune.«
»Aber mit einem SPD-Logo drauf?«, fragte Immi skeptisch.
»Wir machen das wie unsere Mutter nach dem Krieg«, schlug Helga vor. »Wisst ihr, die hat damals Sofabezüge aus Naziflaggen genäht. Das waren einfach rote Bezüge, da hat man keine Hakenkreuze mehr gesehen. Irgendwie lässt sich das SPD-Zeichen sicher übermalen, oder? Wir könnten auch Papierrosen dranheften.«
»So machen wir’s«, sagte Kayla und setzte einen Haken hinter ihrer Liste. »Helene, frag deinen Schwager, wie viele Schirme wir bekommen können. Und was er sonst noch hat.«
Die Küchentür wurde aufgestoßen, und ein riesiger Karton mit Donuts schwebte herein.
»Guten Mooorgen!«, flötete es hinter dem Karton. Es war Lutz. Er rauschte herein und stellte die Kiste auf die Anrichte. »Ich habe was zur Stärkung mitgebracht! Bedient euch, ihr Lieben! Aber die beiden Donuts mit der Blaubeerglasur, das sind meine, ich sag’s gleich dazu, bei denen heißt es: Finger weg!«
»Wie bist du denn hierhergekommen?«, fragte Toni.
»Na, mit dem Auto! Wie sonst?«
»Aber du hast doch gar keinen Führerschein.«
Tante Kamilla tauchte hinter ihm in der Küchentür auf und blickte scheu herein. »Ich habe ihn gefahren!«
»Kamilla!«, rief Tante Immi. »Wie schön, dass du wieder da bist. Was stehst du da herum, jetzt komm schon herein!«
Helga stand auf und umarmte ihre Schwester. Sie nahm ihr fürsorglich die Jacke ab und führte sie zum Tisch.
»Ich konnte euch doch nicht allein lassen«, sagte Kamilla schüchtern. »Das Feuer war gestern Abend bis nach Papenburg zu sehen.« Sie blickte sich sorgenvoll um. »Wo ist denn Ebba?«
»Sie ist im Bett«, sagte Tante Helga. »Es hat sie wirklich hart getroffen.«
»Ich werde gleich mal nach ihr sehen«, sagte Kamilla. »Aber sagt mir zuerst, wie sieht es hier überhaupt aus? Findet die Hochzeit statt?«
»Wir tun unser Bestes«, sagte Helene Bruns. »Aber es gibt viel zu tun. Wir haben noch keine Band. Auch keine Bühne, auf der die spielen könnte. Und keine Tanzfläche. Keine Tische. Keine Stühle. Keine Torte. Im Grunde haben wir gar nichts.«
»Was die Band angeht, habe ich vielleicht eine Idee«, meinte Lutz und stopfte sich einen Donut in den Mund. Er wollte weitersprechen, doch mit vollem Mund ging das natürlich nicht.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Toni. Er ahnte bereits, was Lutz im Kopf hatte. »Du willst doch nicht etwa die Pussy-Dolls herholen!«
»Warum denn nicht?«, erwiderte Lutz kauend. »Die sind super.«
»Die machen Punkrock! Spinnst du? Das hier ist eine Hochzeit!«
Lutz würgte eilig seinen Donut herunter. »Die machen auch Sachen, die nicht so hart sind«, sagte er. »Man kann mit denen reden, das sind Profis, die stellen sich auf die Wünsche des Publikums ein. Und was das Wichtigste ist: Die könnten mit ihrem Tourbus in sechs Stunden hier sein. Hast du etwa eine bessere Idee?«
»Berthold Wentering ist übrigens abgesprungen«, sagte Tante Immi. »Er hat heute Abend einen Auftritt im Seniorenheim. Das geht vor, hat er gesagt. Es tut ihm leid.«
»Na also«, sagte Lutz, lächelte triumphierend und stopfte sich den nächsten Donut in den Mund.
Die Tür öffnete sich, und Christian kam herein. Er wirkte angeschlagen. Mit einem Seufzer ließ er sich auf einen Stuhl fallen und zog die Kaffeekanne heran.
»Silke ist nirgendwo«, sagte er. »Ich kann sie einfach nicht finden.« Er wandte sich Toni zu. »Auf dem Heuboden war sie auch nicht, oder?«
»Nein, leider nicht.« Toni war schon hochgegangen und hatte sich umgesehen. Doch von ihrer alten Hütte, in der sie früher gespielt hatten, war nichts übrig geblieben, und von Silke gab es keine Spur.
»Es gibt diese kleine Scheune, draußen hinterm Wald«, sagte Toni plötzlich. »Da waren wir früher häufig nach der Schule und haben Schnecken gesammelt. Es wäre ein gutes Versteck.«
»Und das sagst du erst jetzt?«, fragte Christian.
»Ist mir eben erst eingefallen. Ich könnte dir zeigen, wo die Scheune ist.«
Christian sprang sofort auf. »Ja, worauf warten wir?«
Toni blickte Kayla und die Tanten fragend an, die über ihren Listen brüteten. Er hatte keine Ahnung, ob sie sich schon irgendwelche anderen Aufgaben für ihn ausgedacht hatten.
»Geh schon«, sagte Tante Helga. »Aber beeilt euch. Gleich kommen die Leute vom Schützenverein und bauen das Zelt auf. Da muss einer da sein, der ihnen zeigt, wo alles ist.«
»Also gut, dann bis gleich.«
Toni und Christian verließen die Küche.
»Du hast keine Lust, den Trauzeugen zu machen, habe ich gehört?«, fragte Christian.
»Nein, so ist das nicht! Ich habe nur gedacht …«
Inzwischen waren ja alle Geheimnisse auf dem Tisch, und so hatte Toni auch keine Bedenken mehr.
»Lass gut sein«, sagte Christian. »Mein Kumpel kommt jetzt doch rechtzeitig aus dem Krankenhaus. Er kann das also wieder übernehmen.«
»Aha, ja, wenn das so ist …«
Toni spürte eine leichte Enttäuschung. Irgendwie hätte er diesen Auftrag jetzt doch gerne übernommen, aber das behielt er für sich.
Sie nahmen den Jeep von Tante Ebba und machten sich auf den Weg. Es dauerte nicht lange, da hatten sie das kleine Waldstück erreicht, in dessen Schatten sich die Scheune befand. Der Traktor, mit dem Silke sich am Vorabend davongemacht hatte, war jedoch nirgends zu sehen, und auch, als sie ausstiegen und in der Scheune nachsahen, fanden sie alles verlassen vor.
Christian ließ sich auf einen Baumstamm sinken, der neben dem Eingang auf dem Boden lag.
»Das war also auch nichts«, sagte er.
»Jetzt fällt mir kein Versteck mehr ein«, meinte Toni.
Christan schüttelte den Kopf. »Warum bestraft sie mich? Kannst du mir das sagen?«
Toni setzte sich neben ihn. »Ich denke, sie schämt sich einfach, weil du nichts von der Sache in Frankreich gewusst hast.«
»Okay, dafür sollte sie sich auch schämen! Ich habe jedenfalls keine Geheimnisse vor ihr. Und selbst wenn ich welche hätte! Bei dieser Sache hat sie mich echt alt aussehen lassen. Da hast ja mitgekriegt, wie mein bescheuerter Vater darauf angesprungen ist. Das werde ich mir den Rest meines Lebens von ihm anhören müssen: Deine Frau ist eine Verbrecherin und eine Lügnerin. Sobald ihm etwas, das wir tun, nicht gefällt, wird er mir das wieder vorsetzen.«
»Siehst du? Und deswegen meldet sie sich nicht. Sie bestraft dich nicht, sie schämt sich einfach.«
Er raufte sich die Haare. »Aber heute ist unser Hochzeitstag!«
Toni zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jacke, fingerte zwei hervor und reichte Christian eine davon.
»Wär das doch nie rausgekommen mit dieser bescheuerten Knastgeschichte«, sagte Christian und ließ sich Feuer geben. »Dann hätten wir jetzt echt weniger Stress.«
Toni kam sich zwar langsam wie eine Schallplatte mit einem Sprung vor, trotzdem sagte er: »Ich war das nicht, ich hab denen nichts davon erzählt.«
»Schon gut. Ist ja auch egal.«
Christian blies Rauch in die Luft und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Weißt du, Toni«, sagte er, »manchmal denke ich ja, du hast alles richtig gemacht. Du bist frei, lebst in Berlin, hast einen coolen Job. Für dich läuft alles richtig rund. Im Gegensatz zu uns hier.«
Ja, genau!, dachte Toni höhnisch. Alles läuft rund!
Er wusste gar nicht, wo er da anfangen sollte, um ihm diesen Zahn zu ziehen.
»Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte Christian. »Meine Firma in Papenburg läuft gut. Und Silke – mal abgesehen davon, dass sie manchmal ein bisschen durchdreht, ist sie großartig. Wir wollen ein Haus bauen, und dann kommen hoffentlich bald Kinder … Aber ich werde hier nie rauskommen. Und so frei sein wie du. Berlin! Weißt du, manchmal beneide ich dich echt.«
»Mein tolles Leben in Berlin«, sagte Toni und lachte. »Ich wünschte, ich könnte mich auch ein bisschen beneiden. Dass ich gerade gefeuert worden bin, hast du mitbekommen, oder?«
»Ja, natürlich. Aber da kommt sicher was Neues. Ich mein, du bist Schauspieler, das ist doch ein toller Job!«
»Ja, ein Wahnsinnsjob!«, meinte Toni trocken. »Und er ist so glamourös! Nur können mehr als neunzig Prozent der Schauspieler gar nicht von ihrer Arbeit leben. Wusstest du das? Die rennen von Casting zu Casting, geben viel Geld aus für Fotos und Videoclips und Werbezeugs, arbeiten an ihren Netzwerken und halten sich ständig und immer und überall auf dem Laufenden. Und tatsächlich leben sie von Hartz IV. Oder vom Kellnern. Um warm zu bleiben und das Spielen nicht zu verlernen, belegen sie dann Schauspielkurse, solange keine Rolle da ist. Was auch furchtbar viel Geld kostet und wenig bringt. Und immer dieses Leben am Existenzminimum. Die warten alle auf die große Chance. Darauf, eine Rolle zu bekommen, mit der sie endlich ihre Miete zahlen können. Und nur die wenigsten haben Glück.«
Toni zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Luft. Er spürte Ärger in sich aufsteigen und redete weiter: »Und selbst wenn man dann im Betrieb drin ist, so wie ich zum Beispiel … Was glaubst du, wie der Alltag bei so einer Serie aussieht? Das ist Massenproduktion. Reine Fließbandarbeit. Morgens kommt ein Kleinbus, der die Schauspieler von zu Hause abholt und zum Set bringt. Der taucht bei mir jeden Morgen um vier Uhr fünfundfünfzig auf. Ich bin einer der ersten. An der Reihenfolge, wie die Schauspieler abgeholt werden, kann man sehen, wie wichtig sie für die Produktion sind. Beim Reinkommen hängt dann da ganz groß die Quote von der letzten Sendung, um gleich den Druck zu erhöhen, auch wenn du noch gar nicht richtig wach bist. Danach zwei Stunden in die Maske und dann den ganzen Tag am Set. In die Hallen, in denen gedreht wird, dringt kein Tageslicht, gelüftet wird über Klimaanlage. Das ist wie in einer Shoppingmall. Wenn du da den ganzen Tag arbeitest, weißt du nicht mehr, welche Jahreszeit überhaupt ist. Erst wenn du spätabends Schluss machst und draußen weht ein lauer Sommerwind, dann denkst du: Ach, das war bestimmt ein schöner Tag.«
Christian wollte das sicher alles gar nicht wissen. Doch Toni konnte sich jetzt nicht mehr bremsen. »Außerdem herrscht unter den Schauspielern ein großer Zickenkrieg«, fuhr er fort. »Du arbeitest da mit einem Haufen Narzissten zusammen, von denen jeder seinen eigenen Film am Laufen hat. Bis vor Kurzem hatte ich einen Kollegen, der mich vor meinem Einsatz immer vollgequatscht hat, damit meine Konzentration weg ist, wenn ich spielen muss, und ich auf diese Weise eine schlechte Figur mache. Andere schwärzen dich an, wenn du schlecht über das Drehbuch gesprochen hast. Und dann ist da natürlich noch Rocco, der Star der Serie. Weiß du eigentlich, weshalb ich gefeuert wurde? Weil Rocco Angst hatte, ich könnte zu populär werden. Er hatte Schiss, ich könnte ihm die Show stehlen. Deshalb musste ich weg. Also hat er seinen Einfluss und sein ganzes Netzwerk genutzt, um mich abzusägen. Und es hat funktioniert.«
Toni warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
»Wenigstens werde ich bald wieder sonntagmorgens schlecht gelaunt zum Bäcker gehen können, ohne von allen erkannt zu werden. Das hat auch was Gutes.«
Die Luft war raus. Er hatte fürs Erste seinen Frust abgelassen. Nun sah er Christian an und lächelte.
»Hört sich das nach einem Leben an, das man beneidet?«
»So wie du es darstellst, nicht«, sagte er. »Aber das ist sicher nur eine Seite der Medaille, oder?«
»Schon. Trotzdem. Es gibt so Tage … heute zum Beispiel. Da denke ich, wie nett es wäre, hier zu leben und mit dem ganzen Schaulaufen der Eitelkeiten nichts zu tun zu haben. Man kann hier morgens den Sonnenaufgang am Horizont sehen, weißt du? In Berlin sehe ich nur die Häuser auf der anderen Straßenseite.«
Eine Weile schwiegen sie.
»Hast du eigentlich keine Angst, in diese durchgeknallte Familie einzuheiraten?«, fragte Toni schließlich.
Das brachte Christian zum Lachen. »Manchmal schon«, sagte er. »Aber dann denke ich: Wenn man euch so ansieht … Bei allem Lärm und aller Hektik, die ihr Müllers gerne verbreitet, liebt ihr euch doch im Grunde wie verrückt. Ihr seid eigentlich ganz zufrieden, oder nicht?«
Toni horchte in sich hinein. Er hatte es nie so betrachtet, aber da war etwas Wahres dran, das konnte er nicht bestreiten.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er schließlich. »Auch wenn man das bei dieser Hochzeit wohl nicht unbedingt denken würde.«
Hinter ihnen wurde laut gehupt. Sie drehten sich um. Ein Traktor mit einem Anhänger stand an der Straße. Im ersten Moment glaubte Toni schon, Silke wäre aufgetaucht. Doch bei näherem Hinsehen erkannte er: Das war ein anderer Traktor, nicht der von Onkel Ewald.
»Das ist Siegbert«, sagte Christian.
»Siegbert? Was will der denn hier?«, fragte Toni, obwohl er schon einen Verdacht hatte.
Siegbert kletterte aus dem Führerhäuschen und sprang auf die Straße. Er klopfte sich die Hände an den Arbeitshosen ab und ging ihnen entgegen. Mit seinem trägen Blick und dem Dackelgesicht steuerte er direkt auf Toni zu.
»Da bist du ja«, sagte er zu ihm. »Die Frauen haben gesagt, dass ich dich hier finde.«
»Was gibt es denn? Ist was passiert?«
»Nein, gar nicht. Sie haben nur gesagt, ich soll in den Wald gehen und Grün schlagen. Gestern ist ja alles verbrannt. Da brauche ich einen, der hilft, habe ich gesagt. Und diese Kayla … du weißt schon, deine Freundin aus Berlin, die meinte, du hättest Zeit und könntest helfen. Jemand anderen kann sie nicht entbehren, sagt sie, nur dich.«
Toni musste lächeln. Kayla, diese Schlange. Er konnte ihr unverschämtes Grinsen quasi vor sich sehen. Natürlich war es für sie ein Spaß, dieses blöde Spiel der Tanten lustvoll mitzuspielen.
»Dann seh ich dich später, Toni«, sagte Christian und steuerte den Jeep an. »Ich werde noch mal ein paar von Silkes Freundinnen abfahren. Vielleicht ist sie inzwischen aufgetaucht.«
Er grüßte und stieg in den Jeep. Dann heulten die Motoren auf, und er fuhr davon.
Siegbert räusperte sich, er schien etwas unsicher zu sein. Der Arme, dachte Toni. Er wird genauso von den Tanten benutzt wie ich. Nur kann er nicht darüber lachen.
»Also gut«, sagte Toni und schenkte ihm ein Lächeln. »Dann lass uns mal.«