22

Ein lauter Knall ließ Kayla zusammenfahren. Sie sah erschrocken auf. Keine der anderen Frauen in der Scheune schien etwas bemerkt zu haben. Alle machten weiter, als wäre nichts gewesen.

»Habt ihr das nicht gehört?«, fragte sie.

Tante Immi sah überrascht auf. »Meinst du den Schuss?«

»Das war ein Schuss? Wer schießt denn hier?«

»Das gehört zur Tradition«, sagte sie. »Die Nachbarn holen das Brautpaar ab, um die beiden zur Kirche zu fahren.«

»Mit einem Gewehr?«, fragte sie verständnislos.

»Richtig. Morgens um sechs wird das Brautpaar von den Nachbarn geweckt, und mittags wird es zur Kirche abgeholt.«

Ein weiterer Schuss ertönte. Obwohl Kayla nun vorbereitet war, zuckte sie erneut zusammen. Sie verließ die Scheune, trat an das Wiesengatter und lugte neugierig zum Bauernhaus hinüber.

Dort stand eine offene Pferdekutsche, ein Zweigespann aus schwarz lackiertem Holz, das mit Blumen geschmückt war. Ein paar Männer aus der Nachbarschaft standen drumherum und redeten miteinander. Einige hatte Kayla eben noch bei der Arbeit gesehen, doch jetzt waren sie alle herausgeputzt und in Festgarderobe. Unter ihnen stand auch der Schütze, der in diesem Moment sein Luftgewehr hob und einen weiteren Schuss abgab. Die Pferde wurden unruhig, und der Kutscher nahm sie am Geschirr und flüsterte beruhigend auf sie ein.

»Das ist die Kutsche vom Reiterverein«, erklärte Immi, die neben Kayla mit Helga am Gatter aufgetaucht war. »Damit wird das Brautpaar zur Kirche gebracht.«

Kayla wollte etwas erwidern, doch da machte sich Lutz hinter ihr bemerkbar.

»Kayla, die Torte ist fertig«, sagte er.

Sie drehte sich um. »Tatsächlich? Wo ist sie?«

»Na, mach mal die Augen auf. Sie steht vorm Zelteingang. Da vorne auf dem Rollwagen.«

Und jetzt sah Kayla sie ebenfalls. Ein Traum in Weiß und Pink. Lutz hatte ganze Arbeit geleistet. Von den Streuselschnitten war nichts mehr zu erkennen. Er hatte den Blechkuchen so zurechtgeschnitten, dass sich eine Pyramide daraus bilden ließ. Dann war unter dem Einsatz von Zuckerguss und Puderzucker alles geweißt worden. Pinkfarbene Marzipanschleifen und Zuckergussverzierungen erledigten den Rest. Das Brautpaar auf der Spitze war noch vom ursprünglichen Kuchen, ebenso die Schleifen.

»Sie sieht großartig aus, Lutz, wirklich.«

»Ein einziger Traum«, sagte Immi.

»Besser hätten wir es auch nicht machen können«, stimmte Helga zu.

»Das ändert aber nichts daran, dass sie wie Blechkuchen schmeckt«, sagte er, »das wisst ihr hoffentlich.«

»Darum geht es doch gar nicht. Vielen Dank.«

Lutz verneigte sich und machte sich daran, die Torte ins Büfettzelt zu schieben. Kayla wandte sich wieder zum Gatter und spähte zu der Pferdekutsche hinüber. Christian kam aus dem Haus, gefolgt von Silke in ihrem schneeweißen Hochzeitskleid. Sie stöckelte eilig auf die Kutsche zu, der Schleier flog hinter ihr im Wind. Christian half ihr beim Einsteigen. Da hielten sie kurz inne und sahen sich an. Sie lächelten auf eine Weise, die selbst Kayla nicht kaltließ. Dann nahmen sie Platz, und die Fahrt ging los.

Als die Kutsche fort war, fuhren dunkle Limousinen vor. Die erste war für Tante Ebba und Onkel Ewald gedacht. Ebba war in dunkles Violett gekleidet, sehr elegant, mit schwarzen Stickereien an Kragen und Ärmeln. Onkel Ewald dagegen trug einen schlichten Anzug. Kayla lächelte. Obwohl der Anzug wie angegossen passte und sicher nicht ganz billig gewesen war, wirkte Ewald dennoch wie ein alter Bauer in seinem Sonntagsanzug. Ihm fehlte einfach die Eleganz. Die beiden stiegen ein und verschwanden.

Dann folgten die Eltern des Bräutigams. Ludger Everding, der griesgrämige Polizist, trug einen edlen dunkelblauen Anzug, der einiges hermachte. Sein Problem war nur, dass oben sein schlecht gelauntes Krötengesicht herausragte und das Gesamtbild ruinierte. Seine Frau folgte ihm mit Trippelschritten. Sie war klein und unauffällig und trug ein lachsfarbenes Kostüm. Die beiden nahmen in der zweiten Limousine Platz. Es folgten die Nachbarn, die sich auf die umliegenden Autos am Straßenrand verteilten. Alle Wagen zusammen bildeten eine Karawane, die dem Zweigespann im Schritttempo zur Kirche folgte.

Das Schießen, die Kutsche, das ganze Drum und Dran. Kayla fühlte sich, als würde sie das Verhalten eines seltsamen Urwaldstammes studieren. Es war beeindruckend.

»Wollt ihr da nicht lieber mitfahren?«, fragte sie die Schwestern. »Ich finde, ihr habt es euch verdient!«

»Nein, wir bleiben hier!«, sagte Immi.

»Natürlich bleiben wir hier!«, stimmte Helga zu. »Das macht Spaß! So viel Aufregung wie heute hatte ich schon lange nicht mehr. Und wir schaffen das doch, Kayla, oder?«

Kayla blickte sich um. Es gab noch einiges zu tun.

»Das hoffe ich jedenfalls«, sagte sie vorsichtig und deutete zur Scheune. »Wir sollten als Nächstes die Tische fertig machen. Mit den Schmuckbändern und den Obstdekorationen. Tischkarten haben wir auch wieder, oder? Dann sollten wir …«

Ein Lieferwagen fuhr vor und hielt am Gatter. Ein Mann kurbelte das Fenster herunter und schob sich die Sonnenbrille ins Haar.

»Guten Tag, die Damen!«, sagte er und grinste übers ganze Gesicht. »Ich schätze, ich bin heute der begehrteste Mann im Dorf?«

»Bernhard!«, rief Helga. »Da bist du ja! Wir können dir gar nicht sagen, wie wir uns freuen!«

Kayla betrachtete skeptisch den Firmenzug, der quer auf dem Lieferwagen prangte: Riedel-Ballonstoffe. Das also war Bernhard Riedel, der das Betonsilo für die Hochzeit in einen luftigen Pavillon verzaubern sollte.

»Sie bringen den Nylonstoff, richtig?«, fragte sie.

»So ist es, junge Frau! Weiße und silberne Stoffbahnen, erstklassige Ware.«

»Aber wird der auch reichen? Das Silo ist ziemlich groß.«

»Ich sag dir eins, Liebes: Mit dem Stoff kannst du den Berliner Reichstag einhüllen, wenn du willst!«

Sie grinste. »Dann sind wir im Geschäft.«

»Das will ich doch meinen! Also, wo kann ich meinen Wagen abstellen?«

Helga erklärte ihm den Weg. Als er fort war, strahlte sie ihre Schwester an. »Also, jetzt würde ich sagen: Es klappt ganz sicher! Oder was meinst du?«

»Das denke ich auch!« Immi wandte sich an Kayla. »Wir werden es hinkriegen, Kayla! Und weißt du was? Ohne deine Hilfe hätten wir das nie geschafft!«

»Das meine ich auch, Kayla. Vielen Dank für alles!«

»Ach, das war doch gar nichts.« Kayla zwinkerte ironisch. »Außerdem gehöre ich doch quasi zur Familie, oder?«

»Und ob du das tust! Natürlich!«

Die Schwestern lachten und kehrten zurück zur Scheune. Kayla blieb zurück und ließ ihren Blick zufrieden über die Festwiese wandern. Kayla Barnes hatte es also tatsächlich geschafft, eine Bauernhochzeit zu organisieren. In Berlin würde ihr das keiner glauben.

Ebba rutschte auf die Rückbank der Limousine. Ewald nahm ihre Handtasche und sagte dem Fahrer, es könne losgehen. Dann lehnte er sich zurück und fiel in Schweigen. Ebba warf ihrem Mann einen Blick zu und dachte an das, was er morgens zu ihr gesagt hatte. Dass es damals für ihn der schönste Tag im Leben gewesen sei, weil er die Frau geheiratet habe, die er liebte.

Sie nahm seine Hand. »Danke, Ewald.«

Er schien sofort zu wissen, woran sie dabei dachte. Ein liebevolles Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf.

»Auch wenn ich an die Umstände unserer Hochzeit nicht gerne zurückdenke«, sagte Ebba, »gilt für mich das Gleiche. An diesem Tag habe ich das Beste in meinem Leben bekommen.«

»Ich weiß, Ebba«, sagte er.

»Du bist mir nicht böse, oder? Wegen dieser ganzen Hochzeitssache? Ich wollte damit nie sagen, dass unsere Hochzeit nichts wert war. Ich hatte mir nur gewünscht …«

»Das weiß ich doch, Ebba«, sagte er und strich ihr über die Wange. »Ich weiß.«

Sie legte den Kopf an seine Schulter. Händchen haltend und mit einem Lächeln im Gesicht saßen die beiden in der Limousine, bis sie den Kirchplatz erreicht hatte. Vor dem Eingangsportal warteten bereits zahllose festlich gekleidete Menschen. Sie standen in Grüppchen beisammen und plauderten. Die Glocken läuteten durchdringend, und nach und nach zogen die Leute in die Kirche, um in den Bänken Platz zu nehmen.

Ebba und Ewald war die erste Reihe zugewiesen. Auf dem Weg durch den Hauptgang warf Ebba glückliche Blicke auf die Moosherzen, die wirklich wunderschön waren. Auch der Chorraum war phantastisch geschmückt. Überall Rosen und Lilien in üppigen Gestecken. Es war genau so, wie sie es geplant hatte.

Sie saßen noch nicht lange, da begann die Orgel zu spielen: »Nun jauchzt dem Herren alle Welt«. Die gewaltigen Klänge erfüllten das gesamte Kirchenschiff. Pfarrer, Messdiener und das Hochzeitspaar zogen von hinten in die Kirche ein. Ebba warf einen Blick über die Schulter und erhaschte einen Blick auf ihre Tochter. Sie wirkte ziemlich aufgeregt. Und dennoch sehr erwachsen.

Vor dem Chorraum stand eine schmale Kirchenbank, passend für zwei Personen. Dorthin führte der Pfarrer das Brautpaar. Silke und Christian nahmen Platz. Beide sahen so wunderschön aus. Ebba konnte es nicht fassen: Ihre kleine Tochter würde heiraten. Ein Seufzer entfuhr ihr, dann spürte sie bereits die ersten Tränen kullern. Ewald bemerkte es und nahm ihre Hand.

Der Gottesdienst folgte der üblichen Liturgie bis zu dem Moment, an dem die eigentliche Trauung beginnen sollte. Der Pfarrer trat nach vorne. Ebba nahm vorsichtshalber ihre Handtasche auf den Schoß, um ausreichend Papiertaschentücher in der Nähe zu haben.

»Bevor wir jetzt zur Trauung unseres Brautpaars kommen«, wandte sich der Pfarrer an die Gemeinde, »möchte ich ein anderes Paar aus unserer Gemeinde hervorheben. Sie werden die beiden alle kennen. Es sind Ewald und Ebba Müller.«

Ebba traute ihren Ohren nicht. Verwundert blickte sie zu ihrem Mann, doch auch er schien nicht zu wissen, was geplant war. Sie sah ratlos in alle Richtungen – und traf auf Silkes Blick. Ihre Tochter lächelte spitzbübisch und zwinkerte ihr zu. Sie wusste also Bescheid. Offenbar hatte sie mit dem Pfarrer zusammen irgendwas ausgeheckt.

»Die Liebe zwischen zwei Menschen ist ein Geschenk Gottes, der die Menschen geschaffen hat«, sagte der Pfarrer. »Ihr beiden, Ewald und Ebba, ihr habt dieses Geschenk empfangen. Ihr haltet seit vielen Jahren zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten. An eurer erfolgreichen Ehe können sich viele Menschen ein Beispiel nehmen. Deshalb hat es mich gefreut zu hören, dass ihr heute zusammen mit Silke und Christian, die in den Stand der Ehe treten werden, euer Ehegelöbnis erneuern wollt.«

Ewald warf ihr einen erstaunten Blick zu. Er war also tatsächlich genauso ahnungslos wie Ebba. Doch ihm schien die Sache zu gefallen. Ein jungenhaftes Lächeln tauchte in seinem Gesicht auf.

Auf einmal verstand Ebba, was Silke vorhatte. Sie wollte ihr etwas geben, was Ebba an ihrem Hochzeitstag nicht bekommen hatte. Anerkennung. Es war fast so etwas wie eine Doppelhochzeit. Wenigstens symbolisch wollte Silke das Drama von damals ungeschehen machen. Denn diesmal schämte sich keiner für die Verbindung zwischen ihr und Ewald, ganz im Gegenteil: Sie würden von allen gefeiert werden, genau wie Silke und Christian.

Der Pfarrer näherte sich dem alten Ehepaar, nahm ihre Hände, legte sie übereinander und umschloss sie mit einem Band.

»Lasst uns beten, Brüder und Schwestern, zu Gott, unserem Vater, dass er Ewald und Ebba mit der Fülle seines Segens beschenke.«

Ebba hatte ihre Emotionen kaum unter Kontrolle. Der Pfarrer sprach vom Bund der Liebe als Quelle des Lebens, doch die meisten Worte rauschten an ihr vorbei. Sie kämpfte mit den Tränen. Hätte Silke sie vorher um Erlaubnis gefragt, dann hätte Ebba das niemals zugelassen. Es ist schließlich die Hochzeit meiner Tochter, hätte sie gesagt, und da will ich mich nicht in den Mittelpunkt drängen. Deshalb hatte Silke das heimlich gemacht. Und Ebba war in diesem Moment so glücklich wie lange nicht mehr.

Der Pfarrer löste das Band, und dann war es vorbei.

»Darf ich meine Braut jetzt küssen?«, fragte Ewald.

In den Reihen hinter ihnen wurde gelacht, auch der Pfarrer lächelte verschmitzt.

»Natürlich darfst du«, sagte er. »Nur zu.«

Und Ewald beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuss. Dann fasste er nach ihren Händen und ließ sie nicht mehr los.

Der Pfarrer war inzwischen wieder beim jungen Brautpaar. »Christian, ich frage dich: Bist du hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit deiner Braut Silke den Bund der Ehe zu schließen? Willst du sie lieben und achten und ihr die Treue halten alle Tage ihres Lebens?«

Ein heiseres und ersticktes Ja folgte. Christian nahm das Ganze offenbar doch nicht ganz so locker. Ebba erkannte erst jetzt, wie aufgeregt er war. Dann wandte sich der Pfarrer an Silke und fragte sie das Gleiche. Sie antwortete ebenfalls mit Ja, auch wenn ihre Stimme ein bisschen kräftiger war.

Anschließend wurden die Ringe gesegnet, und dann wurde es ernst. Die Vermählung folgte. Christian legte Silkes Hand in die seine, nahm den Ring und sagte, während er mit seiner Stimme kämpfte: »Ich verspreche dir die Treue in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis der Tod uns scheidet. Ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens.« Er steckte ihr den Ring an den Finger. Dann wiederholte Silke den Vermählungsspruch und steckte ihrem Zukünftigen ebenfalls den Ring an den Finger.

»Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen«, sagte der Pfarrer, und dann durften auch Silke und Christian sich küssen.

Die Orgel spielte auf, und die Gemeinde sang. Den Rest der Messe verfolgte Ebba durch einen Tränenschleier. Die Fürbitten, die Eucharistie, schließlich der Segen für die Gemeinde – das konnte sie alles nicht mehr richtig aufnehmen. Dann war die Messe vorüber, und alle drängten nach draußen auf den Kirchplatz.

Am Portal waren die Männer vom Schützenverein in Uniform aufgereiht. Mit ihren Fahnen bildeten sie ein Spalier, durch das die Hochzeitgäste hindurchmussten. Dazwischen standen Blumenmädchen, die Blütenblätter auf alle hinabregnen ließen. Der Spielmannszug formierte sich neben dem Portal und brachte ein Ständchen, und ein paar Kinder pusteten kräftig Seifenblasen in die Luft. Es war genau so, wie Ebba es sich immer vorgestellt hatte.

Sie blickte sich nach Silke um. Das Brautpaar hatte sich gegenüber vom Portal aufgestellt und nahm die Glückwünsche der Gäste entgegen. Ebba hätte ihr gerne für ihren schönen Einfall gedankt, doch von allen Seiten drängten die Gratulanten heran. Da war es unmöglich, zu ihr durchzudringen. Außerdem war das der Moment ihrer Tochter, da wollte sie nicht stören.

Ewald legte seinen Arm um sie. Ebba holte tief Luft und wischte sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel.

»Also gut, Ewald, dann wollen wir mal.«

Ihr Tonfall wurde wieder geschäftsmäßig. Der sentimentale Moment war vorüber, jetzt ging es darum, wieder die Organisation zu übernehmen. Schließlich war sie die Mutter der Braut.

»Komm, wir sehen schnell, ob für den Sektempfang alles bereit ist. Sonst müssen wir …«

Doch in diesem Moment packte sie jemand von hinten am Arm. Sie drehte sich verwundert um. Vor ihr stand Silke. Sie hatte sich offenbar von den Gratulanten losgerissen, um kurz zu ihr zu kommen.

»Das ist unser Tag, oder?«, meinte sie und lächelte ihre Mutter an. »Wir wir ihn uns vorgestellt haben.«

»Ja«, sagte Ebba, der wieder ein paar Tränen der Rührung über die Wange liefen. »Genau so haben wir es uns vorgestellt.« Sie schloss ihre Tochter stürmisch in ihre Arme. »Danke, mein Engel. Danke für alles.«