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Toni trat in die gläserne Halle des Berliner Hauptbahnhofs. Überall waren Menschen. Er zupfte an seinem T-Shirt herum, das etwas zu eng war und unter den Armen kniff. Es war Bestandteil seines Gefängniskostüms. Er hatte nämlich nicht mehr genügend Zeit gehabt, sich umzuziehen. Seit seinem Engagement bei »Aufruhr im Männerknast« hatte er bereits drei Kilo zugenommen. Das Catering war einfach zu gut. Zwischen den Szenen gab es viele Wartezeiten, und immer standen irgendwo Servierwagen voller Kekse und Törtchen herum, mit dem Ergebnis, dass er ständig etwas in sich hineinstopfte, um die Zeit zu überbrücken: Cremeschnitten, Minzplätzchen, Schokodonuts. Und ständig hatte er ein klebriges überzuckertes Gefühl bei der Arbeit.

Er fand ja, es wäre keine große Sache gewesen, seine Kostüme einfach in einer Nummer größer zu beschaffen. Aber sein Maskenbildner, ein kleiner grimmiger Mann mit falschem Lächeln, wusste das zu verhindern. Wahrscheinlich wollte er ihn dezent darauf hinweisen, dass er langsam zu fett wurde.

Mit der Tasche auf dem Rücken steuerte Toni die Rolltreppen an. Er hatte heute keine Sonnenbrille dabei, hinter der er sich verstecken konnte, wie er es sonst gerne tat, wenn er in der Öffentlichkeit war. Er hoffte einfach, in der Menge nicht erkannt zu werden. Schließlich herrschte überall Hektik, und die Leute waren mit anderen Dingen beschäftigt, als sich die Gesichter der Mitreisenden genauer anzusehen.

»Hey, Willi!«, dröhnte es durch die Halle. »Was machst du denn hier? Hast du Freigang?«

Ein Besoffener mit einer Bierflasche in der Hand. Die Leute wurden auf ihn aufmerksam.

»Haben die dich etwa aus dem Knast gelassen?«, rief er und lachte dreckig. »Wen willst du hier betrügen?«

Jetzt wurde getuschelt, man zeigte mit dem Finger auf Toni. Sie erkannten ihn, natürlich, die Serie hatte sagenhafte Einschaltquoten. Er versuchte, all das zu ignorieren.

Da trat ihm eine Frau in den Weg. Ende zwanzig und mit Hornbrille. Sie richtete ihr Handy wie eine Waffe auf ihn. Offenbar filmte sie ihn dabei, wie er sich nervös zwinkernd und mit hochgezogenen Schultern den Weg durch die Menge bahnte. Toni fühlte sich zunehmend wie ein Tier im Zoo.

»Das ist er wirklich!«, sagte sie aufgeregt ins Handy. »Ich schick dir gleich den Film!«

Er versuchte, zu seinem Gleis zu gelangen, doch die Frau ließ ihn nicht vorbei.

»Wenn ich es dir doch sage! Der steht direkt vor mir! Toni Müller! Du weißt schon, Willi! Ja, doch!«

Ehe sich Toni versah, hatte er das Handy am Ohr.

»Sagen Sie doch mal was!«, forderte die Frau ihn auf. »Das ist meine Freundin, die glaubt das nicht.«

»Ähm … hallo?«, stotterte er.

Erschrockene Stille am anderen Ende. Die Frau riss ihm das Handy wieder aus der Hand.

»Siehst du? Sag ich doch! Der ist das!«

Toni entdeckte einen Sonnenbrillenständer. Er floh in den Laden und kaufte ein Modell mit großen verspiegelten Gläsern. Erst danach traute er sich wieder in die Bahnhofshalle. Doch es funktionierte. Jetzt war er wieder unsichtbar.

Der Intercity stand bereits auf dem Gleis. Glücklicherweise war der Zug nur halb voll. Toni entschied sich für einen Zweisitzer, stellte seine Tasche demonstrativ auf den freien Platz neben sich und zog sein Handy hervor. Martin Wels hatte ihm seine Handynummer gegeben. Die Sache ließ Toni nicht los, und er wollte einfach sichergehen, dass dieses leidige Thema mit dem Bräutigam nicht gesendet wurde.

Doch es sprang nur die Mailbox an. Frisch und heiter erklang die Stimme von Martin Wels: »Schön, dass Sie sich bei mir melden! Auch wenn Sie mich nicht persönlich erreichen. Ich freue mich, Ihre Anfrage zu beantworten. Hinterlassen Sie einfach Name und Telefonnummer, dann rufe ich so schnell wie möglich zurück. Also, bye-bye. Ihr Martin Wels.«

Toni konnte förmlich sehen, wie er ihm zuzwinkerte und sein schleimiges Lächeln zeigte. Der perfekte Versicherungsvertreter. Er konnte nicht fassen, wie er sich ihm hatte anvertrauen können. Irgendwie war er nicht bei Verstand gewesen. Martin Wels war es gelungen, ihn völlig für sich einzunehmen, und Toni hatte alle Vorsicht vergessen. Ein Piepsen ertönte, und er beschloss, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Ja … ähem … hallo, Martin? Hier ist Toni, Toni Müller. Du weißt schon, wegen dem Interview. Ich wollte einfach nur fragen, ob … na ja, ob …«

Fass dich kurz! Du machst dich sonst nur lächerlich. Doch wie sollte er das Thema ansprechen? Das musste auf sensible Art und Weise passieren, am besten ohne dass Martin Wels etwas bemerkte, sonst leckte er am Ende noch Blut. Toni seufzte.

»Könntest du mich vielleicht noch mal zurückrufen? Das wäre super. Vielen Dank.«

Er trennte die Verbindung und steckte das Handy zurück in die Tasche. Es wird schon gut gehen, sagte er sich. Sophia hat recht, so interessant ist die Sache für RTL sicher nicht.

Er rutschte tief in den Sitz und sah aus dem Fenster. Mit der Zeit veränderte sich die Landschaft. Seine alte Heimat näherte sich. In Osnabrück stieg er in den Regionalzug, und kurz darauf war da die vertraute Emsländer Moorlandschaft. Weite Flächen, endlose Wiesen, ein tief hängender Himmel. In Papenburg nahm er seine Tasche, schwang sie über die Schulter und verließ das Abteil.

Drei weitere Fahrgäste stiegen hier aus. Sie trotteten in verschiedene Richtungen davon, während sich der Zug langsam wieder in Bewegung setzte. Was für ein Kontrast zu dem hektischen Treiben in Berlin! Unentschlossen blieb er auf dem Bahnsteig stehen. Er sah sich um.

Ein lautes Hupen ertönte. Auf dem Parkplatz entdeckte er einen riesigen Jeep, ein Gefährt wie fürs australische Outback gemacht. Der Wagen von Tante Ebba. Sie betrieb mit ihrem Mann einen Bauernhof mit hundertzwanzig Milchkühen und einer Biogasanlage. Da fiel eben alles ein bisschen größer aus.

Doch hinterm Steuer saß nicht Ebba, sondern Tante Kamilla, ihre jüngere Schwester. Füllig wie eine Emsländer Walküre strahlte sie ihm entgegen. Großzügig aufgetragenes Make-up, leuchtend blaue Augen, ein Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung.

»Toooni!«, flötete sie und öffnete die Tür. »Hier bin ich! Auf dem Parkplatz!«

Er trat näher und umarmte sie. Im Anschluss stellte Tante Kamilla mit einem raschen Blick sicher, dass er keine Flecken auf ihrer Kleidung hinterlassen hatte. Er betrachtete sie eingehend. Hinter ihrer Fröhlichkeit lag immer ein leicht nervöser Zug, das kannte er bereits, aber heute schien eine besondere Anspannung unter der Oberfläche zu lauern.

»Ich dachte, Tante Ebba holt mich ab«, sagte er.

»Sie ist beschäftigt. Die Vorbereitungen für den Polterabend, du weißt schon. Übermorgen ist dann die Hochzeit. Da muss noch unendlich viel erledigt werden. Sie hat mich geschickt, um dich abzuholen.«

Toni warf die Reisetasche auf den Rücksitz und schwang sich in das riesige Auto. Tante Kamilla setzte sich hinters Steuer, zog Einweghandschuhe über und startete den Motor. Toni nahm sich vor, nichts zu sagen, doch Tante Kamilla hatte seinen Blick längst bemerkt.

»Es ist wegen dem Auto«, verteidigte sie sich. »Da fühl ich mich mit den Handschuhen einfach besser. Nichts gegen deine Tante Ebba, versteh mich nicht falsch. Aber auf dem Bauernhof … du weißt schon, der Kuhstall …«

Tante Kamilla mochte es gerne sauber. So war jedenfalls die Lesart in der Familie. Sie hatte eine Leidenschaft fürs Putzen. Da gab es Schlimmeres. Zwar trug sie ständig ein Desinfektionsset mit sich herum, doch wen störte das? Außerdem zählte sie gern. Einmachgläser, Geschirrtücher, Kühe, Geländerstreben, Wildgänse, eben alles, was sich zählen ließ. Mit dem Zählen brachte sie Ordnung in ihre Welt. Sie übersetzte alles in Zahlen, um damit Raster bilden zu können. Oder Quersummen. Gleichungen. Sie brauchte das, um sich wohlzufühlen. Keiner in der Familie wollte ihr da einen Vorwurf machen.

»Im Kuhstall gibt es so viel …« Sie zupfte geziert an den Einweghandschuhen. Ihr Blick wirkte hilflos.

»Ich verstehe schon«, sagte Toni. »Tante Ebba und Onkel Ewald sind da eben viel abgehärteter als normale Menschen.«

Sie warf ihm ein dankbares Lächeln zu. »Ja, so ist es.«

Vorsichtig steuerte sie den schweren Wagen vom Parkplatz.

»Du bist also alleine gekommen?«, fragte sie.

Toni war nicht als Einziger aus Berlin zur Hochzeit eingeladen worden. Seine Freunde hatten ebenfalls kommen sollen. Tante Ebba und ihre Schwestern waren im vergangenen Sommer in Berlin gewesen, im Rahmen eines Ausflugs der Papenburger Landfrauen. Dabei hatten sie seinen Mitbewohner Lutz und seine Nachbarin Kayla kennengelernt – und gleich ins Herz geschlossen. Als Folge war auch an sie eine Einladung gegangen. Den Brief für Lutz hatte Toni einfach aus der Post geklaut, der hatte nie etwas von der Hochzeit erfahren. Bei Kayla war das schon komplizierter gewesen. Aber auch sie hatte am Ende versprochen, die Einladung nicht anzunehmen.

So weit kommt es noch!, dachte er und erinnerte sich daran, wie sie sich immer über ihn lustig machten, weil er auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Als wäre die Provinz ein Hort von hirnlosen Barbaren. Das wollte Toni seinen Tanten nicht zumuten. Sie mochten seine Freunde in Berlin, natürlich. Aber er wusste genau, wie verletzt sie wären, wenn Kayla und Lutz in ihrer Gegenwart ihre Witze über die Provinz machten.

Er wollte während seines Besuchs nicht nur damit beschäftigt sein, darauf zu achten, dass die beiden keinen Schaden anrichteten. Zwei Großstadtpflanzen bei einer Hochzeit auf dem platten Land. Es wäre zwangsläufig zur Katastrophe gekommen.

»Leider haben Kayla und Lutz in Berlin zu tun«, sagte er.

»Wie schade. Die beiden waren so reizend. Es hätte ihnen bestimmt bei uns gefallen.«

»Ja, ich find’s auch schade, aber so ist es nun mal.«

»Es liegt doch nicht etwa an uns?«, hakte Tante Kamilla besorgt nach. »Wollen sie mit uns alten Frauen nichts zu tun haben?«

»Nein, Unsinn. Sie müssen einfach arbeiten, beide.« Dabei wollte er es belassen. »Heute Abend wird also gepoltert«, wechselte er das Thema.

»Ja, es geht gleich los. Die ersten Gäste dürften bald eintreffen. Im Moment herrscht noch ein bisschen Unruhe auf dem Hof. Die Vorbereitungen … du weißt schon. Alle sind angespannt. Aber das legt sich bestimmt wieder.«

Toni runzelte die Stirn. Es hörte sich beinahe an, als wolle Tante Kamilla ihn vorwarnen.

»Aber alle freuen sich, dass du kommst!«, schob sie mit einem strahlenden Lächeln hinterher.

»Tante Ebba organisiert doch alles, oder?«

Tante Ebba war in der Familie der Fels in der Brandung. Zäh und energisch und durchsetzungsstark. Ein Feldwebel mit Kittelschürze und Putzlappen. Wenn sie die Vorbereitungen in die Hand genommen hatte, würde die ganze Hochzeit so perfekt laufen wie ein Schweizer Uhrwerk, das war sicher.

»Doch, das schon«, sagte Kamilla. »Sie ist nur …«

Toni lauschte gespannt. Wollte sie etwa andeuten, Tante Ebba könnte überfordert sein?

»Sie ist … Sie …«

Tante Kamillas Aufmerksamkeit driftete davon. Neben der Fahrbahn befand sich eine Kuhweide. An einer Reihe von Holzpflöcken war der Elektrozaun montiert, und Toni begriff, dass sie begonnen hatte, im Vorbeifahren die Pflöcke zu zählen. Aus Erfahrung wusste er, es wäre besser, sie nicht dabei zu stören. Er würde sich gleich selbst ein Bild von der Lage auf dem Hof machen können.

Jenseits der Windschutzscheibe lag die vertraute Landschaft seiner Kindheit. Die endlosen Wiesen, die Entwässerungsgräben, die einsamen Bauernhöfe. Hier war er aufgewachsen. Nachdem seine Mutter bereits in jungen Jahren gestorben war, hatte Toni den größten Teil seiner Kindheit bei seinen Tanten verbracht. Insbesondere Ebba hatte sich um den Jungen gekümmert. Der Bauernhof war ihm so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Irgendwie war ihm immer klar gewesen, dass Ebba unter ihrer ruppigen Schale ein Herz aus Gold besaß. Trotzdem hatte er bisweilen ein bisschen Angst vor ihr gehabt.

Vor ihnen tauchte der Bauernhof auf. Das Wohnhaus, die Scheune, die Stallungen. Und überall Menschen, die emsig bei der Arbeit waren: Die Scheunentore wurden abgewaschen, Kabel am Boden verlegt, Birkenzweige aufgehängt. Ein Junge war damit beschäftigt, den Hof zu fegen. Toni betrachtete die Leute. In einigen erkannte er ehemalige Nachbarn, andere hatte er noch nie gesehen. Tante Kamilla steuerte den Jeep direkt vor die Haustür.

Da entdeckte er Tante Ebba. Sie stand mit ein paar Männern neben einem Traktor, der einen Toilettenwagen im Schlepptau hatte. Mit erhobenem Zeigefinger redete sie auf sie ein und erteilte Befehle. Das machte sie offenbar in ihrer ganz eigenen Art, denn die Männer – obwohl allesamt erwachsen und einen Kopf größer als sie – standen da wie kleine Schuljungen, denen eine Standpauke gehalten wird. Sobald Tante Ebba den Jeep sah, ging sie eilig auf Toni zu, der gerade seine Reisetasche von der Rückbank nahm.

»Gut, dass du da bist, Junge!«, sagte sie und packte ihn am Arm. »Die ersten Gäste treffen gleich ein.«

Ihr Griff war stählern. Sie zog Toni zum Wohnhaus.

»Alle fragen nach dir. Ich hätte nie gedacht, dass die diesen Unsinn auf RTL gucken, wo du mitspielst. Anscheinend bist du berühmt! Wenn man den Leuten zuhört, mag man gar nicht glauben, dass hier eigentlich eine Hochzeit gefeiert wird. Aber egal, es kommt mir gut zupass. Wir sind mit den Vorbereitungen in Verzug, musst du wissen. Du kannst uns also ein bisschen Zeit verschaffen. Keiner wird sich fragen, wo die Häppchen bleiben, wenn sie einen Schauspieler aus dieser blöden RTL-Serie leibhaftig zu Gesicht bekommen.«

Was sollte Toni darauf erwidern? Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Tante Ebba? Seine Tante war nie verschwenderisch mit Gefühlsbekundungen gewesen, das wusste er ja. Trotzdem hatte er sich etwas anderes erhofft. Schließlich hatten sie sich seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, blieb sie stehen und fixierte ihn. »Du bist nicht mehr mit Micha zusammen, wie mir zu Ohren gekommen ist.« Tante Ebba hatte ihn während ihres Besuchs in Berlin kennengelernt. »Das war doch ein netter Bursche! Was hast du denn schon wieder getan, dass dieser Micha einfach auf und davon ist?«

Natürlich gab sie erst einmal ihm die Schuld. Das war schon früher so gewesen, wenn Tante Ebba ihn von der Schule abgeholt und ein Lehrer Kritik an ihm geübt hatte. Da war nie lange gefragt worden, ob die überhaupt berechtigt war. Tante Ebba hatte nur mit aufeinandergepressten Lippen dagestanden und geflüstert: Warte nur, bis wir zu Hause sind.

»Er ist fremdgegangen!«, verteidigte er sich. »Mit einem Arbeitskollegen von mir. Während ich auf dem Dreh war.«

Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn skeptisch, als müsse sie den Wahrheitsgehalt seiner Aussage prüfen.

»So war es, Tante Ebba! Er hat mich betrogen!«

Es folgte ein missmutiges Brummen, dann wandte sie sich ab. Sie schien ihm zu glauben, denn sonst hätte sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen.

Auf dem Weg nach drinnen kamen sie an einem Mann vorbei, der unterhalb der Fenster ein Stromkabel befestigte.

»Passt auf, dass ihr mir die Wand nicht kaputtmacht!«, fuhr Tante Ebba ihn an. »Muss das denn sein, dass das Kabel hier entlanggeht?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie weiter. Dann überlegte sie es sich anders und drehte sich noch mal zu dem Mann um.

»Geh lieber zum Hof, und hilf den anderen, den Toilettenwagen aufzubauen!« An Toni gewandt meinte sie: »Herrgott, wenn man nicht alles selber macht!«

An der Haustür ging es zu wie in einem Bienenstock. Helfer schwirrten ein und aus. Die Landfrauen aus der Umgebung trugen Kuchenbleche, Kochgeschirr, Windkerzen, Papierdecken und andere zweifellos wichtige Utensilien rein und raus.

»Ebba, wir können die Blumendeko auf den Tischen erst aufbauen, wenn die Musikanlage aufgestellt ist.« Helene Bruns war neben ihnen aufgetaucht, die Chefin der örtlichen Landfrauengruppe. »Wir wissen ja noch gar nicht, ob die Tische überhaupt so stehen bleiben können!«

»Manfreds Ältester macht die Musik. Und Manfred ist am Toilettenwagen. Sag ihm, er soll seinen Sohnemann gefälligst herzitieren!«

Da erkannte Helene Bruns, wer da mit seiner Reisetasche neben Ebba stand, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Hallo, Toni! Schön, dich zu sehen. Wie geht’s in Berlin? Mein Bernhard und ich, wir sehen dich ja jeden Mittwochabend im Fernsehen …«

Doch Tante Ebba hatte ihn bereits weitergezogen.

»Mit Helene Bruns kannst du dich später unterhalten«, sagte sie. »Ich bring dich schnell zu deinen restlichen Tanten, damit du Guten Tag sagen kannst. Und danach sage ich dir, wo die Gäste ankommen, damit du sie ablenken kannst, bis wir so weit sind.«

In der großen Bauernhausdiele trafen sie auf Silke, die gerade den Fußboden wischte. Keiner wäre wohl auf die Idee gekommen, bei diesem Aschenputtel könnte es sich um die Braut handeln. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, das Sweatshirt war fleckig, die Mundwinkel nach unten gezogen.

»Hey, Toni. Willkommen im Irrenhaus.«

Sie sagte das ohne ein Lächeln und ohne Ironie. Dann wandte sie sich ab und wischte den Boden weiter. Toni wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Silke und er waren früher fast so etwas wie Geschwister gewesen. Auch heute gab es noch eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen, sonst hätte Silke ihn niemals so unhöflich begrüßt, sondern sich zusammengerissen. Trotzdem war es nicht das, was er sich erhofft hatte. Schließlich war es eine Ewigkeit her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Beeil dich jetzt, Silke, du musst dich umziehen!«, blaffte Tante Ebba. »Die Gäste kommen.«

Silke funkelte ihre Mutter auf eine Weise an, die Mordgelüste vermuten ließ. Dann pfefferte sie den Wischmopp in die Ecke. »Ich hab gleich gesagt, das ist viel zu viel Aufwand für so einen blöden Polterabend!«

»Ich glaube nicht, dass du dich jetzt mit mir streiten möchtest«, sagte Tante Ebba scharf. »Den Boden kann jemand anderes wischen. Geh nach oben, und zieh dich um.«

In Silke brodelte es, das war nicht zu übersehen. Doch sie erwiderte nichts, schluckte scheinbar ihre Wut herunter und stapfte davon. Tonis Anwesenheit hatte sie nicht weiter kommentiert.

»Silke, warte!« Ebba lief ihr hinterher. »Wir müssen noch über die Musik sprechen …«

Und dann war Toni plötzlich allein in der Bauernhausdiele. Er atmete durch. Es war wirklich ein Irrenhaus. Drei Tage. Er fragte sich, wie er das Ganze überstehen sollte.

Gut, dass Kayla und Lutz nicht da sind, dachte er. Die hätten sich am Ende nur in ihren Vorurteilen bestätigt gesehen. Dabei konnte es hier auch ganz anders sein. Gastfreundlicher. Tante Ebba war manchmal etwas schwierig. Man musste Verständnis haben. So eine Hochzeit war eben eine gewisse Herausforderung.

Draußen tuckerte ein Traktor vorbei. Auf dem Frontlader waren Birkenzweige befestigt, mit denen sicherlich die Scheune geschmückt werden sollte. Toni wollte sich bereits abwenden, da sah er, wer da auf dem Traktor saß: Christian Everding, der Bräutigam.

Der Anblick nahm ihm den Atem. Christian Everding hatte sich kaum verändert. Er war damals der attraktivste Junge der ganzen Schule gewesen, und er sah immer noch umwerfend aus. Toni trat näher, doch da machte sich sein Handy mit einem Piepen bemerkbar.

Er zog es hervor. Eine Nachricht war auf der Mailbox eingegangen. Der Traktor verschwand aus seinem Sichtfeld. Also nahm er das Handy und hörte die Nachricht ab. Es war Martin Wels.

»Hallo, Toni. Ich sollte dich noch mal anrufen wegen der Sendung, richtig? Mach dir keine Sorgen, die wird toll. Wir haben alles im Kasten. Das wird schon morgen gesendet, wie’s aussieht. Also, schalte den Fernseher ein. Ach ja, und da gibt’s noch eine Überraschung. Wir bauen das mit der Hochzeit ein. Super, oder? Nur am Rande, aber ich dachte, das ist eine gute Idee. Also, mach’s gut. Bis bald.«

Toni ließ das Handy sinken. Die Hochzeit. Sie brachten es also doch. Sophia hatte leider nicht recht behalten. Er trat zur Haustür und blickte nach draußen. Der Traktor stand neben der Garage, und Christian Everding lud die Birkenzweige ab. Er entdeckte Toni in der Haustür und winkte ihm kurz zu.

Toni winkte zögernd zurück. Er fragte sich voller Unbehagen, was RTL aus der Geschichte machen würde. In diesem Boulevardmagazin wurden einfache Fakten ordentlich ausgeschmückt, damit sie auch spektakulär genug erschienen. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was da alles möglich war.

Vielleicht wäre es besser, Christian die Geschichte zu beichten, sagte er sich. Und Silke und Tante Ebba auch. Damit könnte er womöglich das Schlimmste verhindern.

Er beobachtete, wie der Bräutigam mit den anderen Männern die Birkenzweige an der Scheunenwand befestigte. Jemand brachte eine Kette mit bunten Glühbirnen und hängte sie dazu. Keiner achtete auf Toni.

Er brachte es nicht über sich. Die ganze Sache war ihm einfach zu peinlich. Es wird schon gut gehen, sagte er sich. Vielleicht sieht sich ja auch keiner die Sendung an. Hier hat doch sowieso keiner Zeit, den Fernseher einzuschalten. Also wandte er sich ab, um seine restlichen Tanten in der Küche zu begrüßen. Über Martin Wels und das RTL-Magazin wollte er lieber nicht mehr nachdenken.