Wigginton, 12. Dezember 1938
Meine liebe Klara,
sicher wartest du schon ungeduldig auf eine Nachricht von mir. Du willst wissen, wie es mir geht, und es scheint, dass ich es gut getroffen habe. Einerseits. Andererseits habe ich schreckliches Heimweh. Ich sehne mich so sehr nach meinen Eltern, dass es wehtut. Nach dem Schwanenhaus. Nach meinem Bett und meinen Büchern, nach Mamas Klavierspiel und Papis Witzen, über die er selbst am meisten lacht. Nach dem Duft des Mandelbrots, das Mamusch an den Festtagen bäckt. Doch das alles gibt es nicht mehr. Es ist so furchtbar, sich die leere Wohnung vorzustellen. So ohne uns. So ohne unsere Möbel und Bücher, ohne den Flügel. Alles auseinandergerissen und in alle Winde zerstreut. Ich muss mich zusammennehmen, um nicht zu weinen.
Und natürlich habe ich auch Sehnsucht nach dir. Nach dem Klang der deutschen Sprache. Englisch ist so effizient kurz. Aber es lernt sich leicht. Habt ihr Neuigkeiten von meinen Eltern? Ich habe auch ihnen geschrieben, weiß aber nicht, ob sie meinen Brief erhalten werden.
Oje. Jetzt habe ich gelesen, was ich bisher geschrieben habe. Ein schreckliches Durcheinander und so wenig aufmunternd. Also beginne ich noch mal von vorne.
Es scheint, dass ich es gut getroffen habe. Ich bin bei Paul und Betty Harris in Wigginton untergekommen.
Das ist ein kleines Dorf nordwestlich von London. Paul und Betty betreiben die Bäckerei im Ort. Ihre Kinder Margret und John sind schon erwachsen und aus dem Haus. Ein Glück für mich, denn ich habe Margrets Zimmer bekommen. Es ist so, wie man sich ein englisches Mädchenzimmer vorstellt. Sehr geblümt und plüschig. Sehr gemütlich. Betty ist kugelrund, weil sie zu viel von ihrem Gebäck nascht, und Paul ist das Gegenteil. Ein hagerer Mann, aus dem ich nicht schlau werde. Er redet nicht viel und sieht mich manchmal komisch an. Eigentlich ist er mir ein wenig unheimlich. Aber ich habe nicht viel mit ihm zu tun. Er steht mitten in der Nacht auf und geht hinunter in die Backstube, damit morgens um sieben, wenn Betty die Bäckerei öffnet, die Wiggintoner frisches Brot kaufen können. Wie gesagt, ich weiß noch nicht so recht, was ich von ihm halten soll. Manchmal mustert er mich, als ob er überlegt, ob ich ihm irgendwann die Haare vom Kopf fressen werde. Betty hingegen ist ein herzensguter Mensch. Sie hat mich aus Nächstenliebe aufgenommen, die bei Paul an zweiter Stelle kommt. Vorher kommt das Geld.
Dafür ist Duffy so nett. Duffy ist ein Mischlingshund und gehört eigentlich Margret. Sie arbeitet in Brighton in einem Hotel und konnte ihn nicht mitnehmen. Duffy hat mich sofort adoptiert. Wir gehen jeden Tag Gassi, und ich werfe Stöckchen, die er apportiert.
Na, das klingt doch schon besser.
Wobei das Wetter hier ganz scheußlich ist. Grau
und nass und trist. Verregnete Weihnachten stehen uns bevor. An den Feiertagen werde ich Margret und John kennenlernen.
So, jetzt muss ich Schluss machen, denn ich muss noch einen Aufsatz schreiben. Ach! Ich habe ganz vergessen, von der Schule zu berichten. Beim nächsten Mal. Die Post schließt in zehn Minuten. Ich muss mich sputen.
Ich umarme dich ganz fest. Grüße deine Eltern von mir und bitte deinen Vater, dass er meinen Eltern, wenn er sie sieht, tausend Küsse und Umarmungen von mir gibt. Sinnbildlich versteht sich. Obwohl es lustig wäre, wenn er das wirklich tun würde. Ich stelle mir das gerade vor und möchte gleichzeitig lachen und weinen.
Alles wird gut werden, meine liebe Freundin. Ich glaube ganz fest daran.
Wir sehen uns in München, im Schwanenhaus, wenn das alles vorbei ist. Schreib mir bald.
Deine Freundin Mirjam