Mona
Weihnachten 201 8
Bis Mona und Tim sich angezogen hatten und zum Haupthaus marschiert waren, war es halb sieben und der Aperitif an der Feuerschale ging gerade zu Ende. Anja lächelte Mona zu, als wisse sie genau, weshalb sie zu spät kamen. Sie stellte die Gäste einander vor. Ausschließlich Paare unterschiedlichen Alters. Vom Pärchen Ende zwanzig bis zu einem Ehepaar aus Stuttgart, das seit zehn Jahren immer wieder hier Urlaub machte und seinen fünfunddreißigsten Hochzeitstag feierte. Alle setzten sich an den Tisch wie eine große Familie, und Mona genoss den Abend. Nach dem Dessert begann die Gruppe sich aufzulösen, und Tim fragte, ob sie sich nicht ein gemütliches Feuer im Kamin machen sollten. Sie gingen zurück zum Häuschen. In der Luft lag der Geruch nach Schnee, und der Nordwind riss ihre Atemfahnen mit sich. Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein, dachte Mona. Vielleicht würde es ja weiße Weihnachten geben.
Tim feuerte den Kamin an. Bald prasselte das Feuer darin, und sie liebten sich noch einmal. Nicht nur sie schien ausgehungert zu sein, auch er. Schon vor über einem Jahr hatte seine Freundin mit ihm Schluss gemacht. Hatte er seither keinen Sex gehabt? Eigentlich unvorstellbar, so gut wie er aussah, so charmant und eloquent er war. Und ausgerechnet sie hatte er sich ausgesucht. Mona konnte es nicht richtig glauben. Obwohl es ja unzweifelhaft war.
»Einen Euro für deine Gedanken.« Tim gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Du siehst so ernst aus.«
»Die sind keinen Euro wert.« Sie konnte ihm schlecht sagen, was sie gerade gedacht hatte.
»Dann fünfzig Cent?« Ein Lächeln zog über sein Gesicht.
»Rate doch.«
»Gut.« Er stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete sie. »Diese steile Falte an der Stirn …« Er strich darüber. »Es ist also wirklich etwas Ernstes. Du fragst dich, ob du etwa das Bügeleisen in deiner Wohnung angelassen hast und wir jetzt zurückfahren müssen, um nachzusehen.« Mona lachte. »Falsch. Noch zwei Versuche.«
»Okay.« Tim legte nachdenklich einen Zeigefinger ans Kinn. »Ich glaube, ich weiß es. Deine Mutter verfolgt dich bis hierher. Du überlegst, ob du ihr das Bild nicht doch schenkst.«
»Wieder falsch. Wobei ich schon ab und zu darüber nachdenke. Aber jetzt grad nicht. Mir gefällt es nicht, und ich werde es nicht behalten.«
»Es ist doch ein sehr schönes Gemälde. Ich würde es nehmen«, sagte Tim. »Jetzt habe ich also noch einen Versuch. Was bekomme ich, wenn ich richtigliege?«
»Einen Kuss?«
»Oder den Corinth?«, schlug Tim vor .
»Einverstanden. Du errätst es nämlich nicht.«
»Du musst aber ehrlich sein, wenn ich es errate.«
»Ich bin fast immer ehrlich und sollte dich dringend vor mir warnen. Ich gehöre zu dieser schrecklichen Spezies der sogenannten Gutmenschen.«
»Ja, wenn das so ist …« Wieder überlegte Tim. Diesmal ziemlich lange. »Ich glaube, jetzt habe ich es. Gesine und das Ergebnis ihrer Recherche. Das macht dir Sorgen.«
»Stimmt. Aber daran habe ich heute noch nicht gedacht.«
»Schade.« Tim ließ sich zurückfallen. »Chance vertan. Aber wenn du das Bild wirklich verkaufen willst, ein Freund von mir ist Galerist. Er könnte den Verkauf für dich abwickeln.«
»Mal sehen. Einen Trostpreis bekommst du trotzdem.« Mona beugte sich über ihn und gab ihm einen langen Kuss. Er zog sie an sich, und sie hörte das Herz in seiner Brust schlagen. So ruhig und kräftig und eine unbändige Freude stieg in ihr auf. Sie war so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Natürlich lagen ihr die Umstände des Hauskaufs im Magen. Die unbeantwortete Frage, ob Ernst-Friedrich Jakob Roth erst über den Tisch gezogen und dann vielleicht bei der Gestapo denunziert hatte. Diese Sorge erklärte sie nun Tim. Woraufhin er sie warnte, dass auch er schrecklich ehrlich wäre, und ihr riet, dieses Problem pragmatisch und analytisch anzugehen. »Lass das nicht zu nah an dich heran. Es ist besser, wenn du das wie eine unbeteiligte Fremde betrachtest. Also nur die Fakten: Ernst-Friedrich Hacker war Staatsanwalt während des Dritten Reichs. Mit ziemlicher Sicherheit war er ein linientreuer Nazi, worauf ja auch die Belobigung hinweist, die du in seinem Schreibtisch gefunden hast. Trotzdem ist das eine Vermutung, und die sollest du daher ausklammern. Eine weitere Tatsache ist der Kaufvertrag mit dem zu niedrigen Kaufpreis. Während Adeles Aussage, Ernst-Friedrich wäre mit Roth befreundet gewesen und habe ihm und seiner Familie bei der Ausreise geholfen, keine Tatsache ist, sondern die Nacherzählung einer Erzählung von Klara, die nicht stimmt, wie du bereits herausgefunden hast.«
Tim hatte ja recht. »Und Gesine vermutet ebenfalls nur, dass der Kaufpreis ein Freundschaftspreis für Hacker war, möglicherweise mit der unausgesprochenen Erwartung, das Haus zurückzugeben, falls die Roths zurückkehren würden. Aber auch das ist nur Spekulation, mehr nicht.«
»Hacker war Jurist«, sagte Tim. »Falls er eine derartige Vereinbarung mit seinem Vermieter getroffen haben sollte, hätten die beiden das im Kaufvertrag festgehalten. Auch Roth hätte darauf bestanden, er war schließlich Kaufmann. Und du weißt auch nicht, ob sie Freunde waren. Vermieter ist Fakt, Freund ist Hörensagen. Und wenn es um Geld geht, ist mit der Freundschaft bekanntlich schnell Schluss.«
Es klang so schrecklich logisch und gleichzeitig so deprimierend.
»Die Fakten sprechen dafür, dass Hacker die Gunst der Stunde «, Tim malte Gänsefüßchen in die Luft, »genutzt hat, um das Haus zu einem Spottpreis zu kaufen. Das ist nicht schön. Aber er war damals nicht der Einzige. Es ist lange her und sollte dich nicht belasten.«
»Das tut es aber. Ich weiß nicht, ob ich ein Haus besitzen will, das durch Unrecht erlangt wurde. Schon gar nicht, falls es Ernst-Friedrich war, der die Roths anonym angezeigt hat. Hoffentlich findet Gesine heraus, wer das getan hat. Wenn es Ernst-Friedrich war … Dann weiß ich wirklich nicht, was ich tun soll.«
»Er war nicht der Denunziant«, sagte Tim. »Er hatte keinen Grund. Nur im Fall einer Rückübertragungsklausel im Kaufvertrag hätte es für ihn Sinn gemacht, die Roths ans Messer zu liefern.«
»Und wenn sie nun nicht im Vertrag stand und lediglich ein Ehrenwort unter Männern war? Vermutlich wäre das damals sogar sinnvoll gewesen, um keinen Ärger zu bekommen.«
»Vor Gericht hätte eine mündliche Vereinbarung keinen Bestand gehabt. Dann hätte Aussage gegen Aussage gestanden. Jetzt mach dir deswegen nicht zu viele Gedanken.« Er strich ihr übers Haar. »Alles ist gut. Es ist so lange her, und alle Ansprüche wären längst verjährt. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass es Verjährungsfristen für Restitutionsansprüche gibt. Außerdem wäre es keine Frage einer Frist, sondern eine von Anstand und hätte natürlich etwas mit mir zu tun. Ich habe einen moralischen Kompass , wie Tante Klara das genannt hat – ich habe dich gewarnt, Gutmensch und so. Sieht so aus, als hätte ich mir mit dem Haus eine Verantwortung aufgehalst. Klara meinte nämlich, ich würde das Richtige damit tun. Wenn sie nun genau das damit gemeint hat? Dass ich nachforschen und dann entsprechend handeln soll?«
»Verstehe ich nicht«, sagte Tim. »Das klingt reichlich kompliziert. Wenn das ihr Wille war, hätte sie das ins Testament geschrieben oder dir einen Brief hinterlassen.«
»Hat sie aber nicht. «
»Na, siehst du. Wenn es ihr wichtig gewesen wäre, hätte sie selbst Nachforschungen über die Familie Roth anstellen können. Gibt es denn überhaupt Nachfahren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und jetzt verderben wir uns nicht länger den schönen Abend damit. Einverstanden?«
Da war Mona ganz einer Meinung mit ihm und fragte sich, wie sie überhaupt auf dieses Thema gekommen waren. Das Gefühl von Leichtigkeit war vorerst verschwunden.
Am Weihnachtsmorgen wachte Mona neben Tim auf und war für einen Augenblick verwundert, beinahe erstaunt, dass es kein Traum war. Dabei hatte sie geglaubt, noch lange nicht für eine neue Beziehung bereit zu sein. So konnte man sich täuschen. Sie beobachtete Tim eine Weile beim Schlafen, dann ging sie leise hinüber ins Wohnzimmer und stellte sich ans Panoramafenster. Über Nacht hatte es tatsächlich geschneit. Eine dünne Schneeschicht bedeckte das Schilf und den Steg, die Dächer der Häuschen und Felder und Wiesen jenseits der Hecke. Der Wind hatte die Wolken vertrieben. Der Himmel war wieder so blau wie am Vortag.
An diesem Vormittag unternahmen sie eine ausgedehnte Wanderung, hinunter ins Tal, durch kleine Dörfer und den Hügel hinauf zurück zum Hofgut. Am frühen Nachmittag traten sie wieder durchs Tor. Im Innenhof brannte wie gestern ein Feuer in der Schale, um das sich etliche Gäste versammelt hatten. Es gab Glühwein, Früchtetee und Kaffee und dazu Weihnachtsgebäck. Eine entspannte Runde mit netten Gesprächen.
Als sie nach Einbruch der Dunkelheit zum Häuschen zurückkehrten, war der Tisch festlich gedeckt, im Kamin brannte ein Feuer, und vor dem Panoramafenster stand ein geschmückter Baum auf der Terrasse. Rote Äpfel, Strohsterne und elektrische Lichter. »Die Heinzelmännchen waren hier«, sagte Mona lachend. Was für ein Luxus. Sie zog sich für das Essen um und entdeckte dabei wieder das Kuvert. Nicht heute und auch nicht morgen, entschied sie.
Tim kam herein und fragte, was sie da habe. »Es sind Briefe von Mirjam an Klara.«
»Und was steht drin?«
»Weiß ich noch nicht. Als ich Klaras Schmuck geholt habe, sind sie mir im wahrsten Sinn des Wortes in die Hände gefallen. Ich hätte sie gar nicht erst mitnehmen sollen. Wenn wir zurück in München sind, lese ich sie. Sonst verderben sie uns vielleicht noch das Wochenende.«
Ein Schatten huschte über Tims Gesicht, und Mona ärgerte sich, dass sie das Kuvert überhaupt eingepackt hatte. Natürlich dachte Tim jetzt an Marija Jablonski. Sie strich ihm über den Oberarm, wie man das bei einem Kind tat. Denn so wirkte er im Moment auf sie. Wie ein trauriger Junge. »Vielleicht finde ich ja bald einen Hinweis auf deine Großmutter in Klaras Sachen.«
Er zog die Schultern hoch. »Gut möglich, dass ich mir falsche Hoffnungen mache. Ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie wichtig mir diese Suche ist. Es ist, als ob ich auf dünnem Eis stünde, das bereits unter meinen Füßen knackt. So fühlt sich das an, wenn man nicht weiß, woher man kommt. Was falsch an einem ist.«
Dieses Gefühl kannte Mona leider nur zu gut. »An dir ist nichts falsch. Du bist ein wunderbarer Mensch.«
Tim schüttelte kurz den Kopf, als würde er es nicht glauben. Auch das kannte Mona von sich. »Du auch«, sagte Tim. »Du bist der wunderbarste Mensch, dem ich je begegnet bin. Und ich habe mich sofort in dich verliebt. Als du da so wütend vor mir gestanden bist, mit dem Saftfleck auf der Weste. Aber ich habe mich lange nicht getraut, dir das zu zeigen.« Er zog sie an sich, und sie küssten sich und wären ganz sicher im Bett gelandet, wenn nicht das Essen gebracht worden wäre. Zwei Mitarbeiterinnen des Hofguts hatten sich Engelsflügel angelegt und stellten die Vorspeise auf den Tisch, den Hauptgang im Topf in den Ofen zum Warmhalten und das Dessert in den Kühlschrank zu den Getränken. Es wurde ein schöner Weihnachtsabend.
Die Feiertage vergingen schnell, obwohl die Zeit an diesem Ort stillzustehen schien. Sie verbrachten viele Stunden im Bett und in der Sternwarte, sie liebten sich wie Ausgehungerte, besuchten die Sauna, stiegen mutig in den eiskalten Badeteich und machten lange Spaziergänge. Am Mittwochvormittag hieß es packen. Tim absolvierte noch einen letzten Saunagang. Mona war es zu früh dafür. Sie begann, ihre Sachen zusammenzusuchen. Wieder fiel ihr das Kuvert in die Hände, und diesmal siegte die Neugier. Sie nahm die Briefe heraus und begann zu lesen. Danach war ihr übel.