Klara
August 194 9
Es war ein schöner Spätsommerabend Anfang August, als Klara ihren Arbeitsplatz im Wirtschaftsministerium verließ und sich auf den Heimweg machte. Auch vier Jahre nach Kriegsende lag München noch in Trümmern. Überall Ruinen, die sie kaum noch wahrnahm, so vertraut war ihr der Anblick geworden. Man gewöhnte sich an so vieles. Immerhin begann der Wiederaufbau langsam, seit es die D-Mark gab.
Seit vor zwei Wochen Klaras Rad gestohlen worden war, ging sie zu Fuß nach Hause. Von der Ludwigstraße aus wäre die Strecke bedeutend kürzer, doch das Ministerium war ausgebombt und provisorisch in einem Gebäude in der Prinzregentenstraße untergekommen. Von dort bis zum Schwanenhaus waren es knapp vier Kilometer. Überall hingen Plakate für die erste Wahl in der neu gegründeten Bundesrepublik, die in zehn Tagen stattfinden würde, und Klara überlegte noch, wen sie wählen sollte. Vielleicht die CSU , wie ihre Mutter Cosima es ihr riet, oder doch die SPD ? Wie viele Parteien es plötzlich gab .
Bald wurde Klara fünfundzwanzig. Seit einigen Jahren arbeitete sie als Sekretärin bei der Bayerischen Regierung, denn für das Abitur hätten ihre Leistungen nicht ausgereicht. Deshalb hatten ihre Eltern sie mit fünfzehn vom Gymnasium genommen und in die Realschule bei den Englischen Fräulein gesteckt. Sie hatte den mittleren Bildungsabschluss gemacht und eine Ausbildung zur Sekretärin. Der Beruf lag ihr. Sie war die schnellste Stenografin Bayerns und die Zweitschnellste im Maschinenschreiben. Die Urkunden hingen im Schreibbüro des Ministeriums an der Wand, und ihre Mutter war stolz auf sie. Klara verdiente ihr eigenes Geld, und darauf kam es an. »Mach dich unabhängig von einem Mann. Das ist wichtig. Hätte ich nur die Möglichkeit gehabt.«
Doch auch Cosima hatte eine Aufgabe gefunden. Wie durch ein Wunder war das Schwanenhaus von Bomben verschont geblieben. Während beim Luftangriff der Amerikaner im April 1945 der Straßenzug gegenüber von Phosphorbomben getroffen wurde und Minuten später alles lichterloh gebrannt hatte, war das Schwanenhaus glimpflich davongekommen. Bis auf die Fensterscheiben. Alle waren bei den Detonationen zerborsten.
Die meisten Fenster waren auch heute noch, vier Jahre nach Kriegsende, mit Sperrholz und Pappen abgedichtet. So viel Glas, wie in dieser Stadt benötigt wurde, gab es einfach nicht. Ihre Mutter ließ die Scheiben nach und nach einbauen, wann immer sie einen Glaser auftrieb, der Material hatte. Das Haus quoll mit Flüchtlingen aus dem Osten über. Die Wohnungen waren doppelt und dreifach belegt. Die vom Amt verfügten Unterbringungen hatte Cosima erst zähneknirschend hingenommen, dann aber hatte sie aus der Not eine Tugend gemacht. Sie vermietete zimmerweise, was sich, unter dem Strich betrachtet, auszahlte. Stillschweigend hatte sie ihrem Mann nach und nach die Verwaltung des Hauses abgenommen, und er hatte sie sich abnehmen lassen.
Klara ging am Haus der Kunst vorbei, einem Nazibau, der unbeschadet den Krieg überstanden hatte. Aus den wahnsinnigen Plänen Hitlers war nichts geworden. Er hatte Deutschland in einen Abgrund gestürzt, genau wie Mirjams Vater es vorhergesehen hatte. Doch aus der geplanten Rückkehr der Familie Roth war nichts geworden. Sie waren tot. Unwillkürlich legte Klara bei diesem Gedanken die Hand an den Mund. Mirjam nicht. Hoffentlich nicht. Ihre Eltern waren im KZ gestorben. Aber Mirjam hatte nur den Kontakt abgebrochen. Seit fünf Jahren kein Lebenszeichen. Den letzten Brief hatte sie kurz nach ihrer Hochzeit mit Rafal Jablonski 1944 geschrieben. Dann nichts mehr. Auf Klaras Briefe kamen keine Antworten. Irgendwann hatte ein Schreiben von Thomas und Fiona Scott im Briefkasten gelegen. Eine Kollegin von Papa im Amtsgericht sprach Englisch. Ihr hatte Klara den Brief zu lesen gegeben und so erfahren, dass Rafal von den Deutschen bei der Invasion in der Normandie über dem Ärmelkanal abgeschossen worden war. Nur vier Wochen war Mirjam Ehefrau gewesen. Jetzt war sie Witwe und Mutter eines kleinen Jungen. Er hieß Timon, nach Rafals Vater, so wie er sich das gewünscht hätte. Leider, schrieben die Scotts, hätten sie Mirjam nicht länger bei sich wohnen lassen können. Ihre Tochter war krank geworden, sie pflegten sie bei sich zu Hause und benötigten das Zimmer. Mirjam war mit Timon zu einer Verwandten von Rafal nach Southwark gezogen. Doch dort hatte es offenbar Streit gegeben, und Mirjam hatte ihre Sachen und den Jungen gepackt und war gegangen. Wo sie nun ist, wissen wir nicht, schrieben die Scotts, und baten um Nachricht, falls Mirjam sich bei Klara melden sollte, was die Scotts allerdings nicht glaubten. Mirjam habe nach Rafals Tod einen abgrundtiefen Hass auf die Deutschen entwickelt. Keinen Fuß wollte sie je wieder auf deutschen Boden setzen und nie wieder ein Wort in dieser Sprache sprechen. Das hatte sie sich geschworen. Die Deutschen hatten ihr alles genommen.
Vielleicht war Mirjam nach Palästina gegangen, überlegte Klara. Besser gesagt, in den neu gegründeten Staat Israel.
Fünf Jahre war das nun her, und Klara rechnete nicht mehr damit, jemals wieder von ihrer Freundin aus Kindertagen zu hören. Es stimmte sie traurig, aber nicht bitter. So war es nun einmal. Auch Freundschaften gingen zu Bruch oder lösten sich. Man musste sich ins Unabänderliche fügen, wie Mutter immer sagte. Dass Mirjam sie, Klara, in ihren verständlichen Hass auf die Deutschen mit einschloss, nahm sie ihr allerdings übel. Sie hatte ihr nun wirklich nichts getan, und auch ihre Eltern nicht.
Klara ging die Königinstraße entlang, überquerte die Leopoldstraße und bog in die Adalbertsraße ein. Der Kolonialwarenladen an der Ecke hatte wieder eröffnet. Seit es das neue Geld gab, gab es lange nicht gesehene Sachen zu kaufen. Über Nacht waren die Schaufenster plötzlich voll damit gewesen. Bohnenkaffee. Schokolade. Kondensmilch. In der Auslage stand ein dekorierter Korb mit Ananas und Bananen. Es war nicht zu fassen.
Klaras Weg führte sie weiter in die Elisabethstraße und am ehemaligen Schuhhaus Meyer vorbei. Die Meyers und ihre Tochter Ruth waren im Oktober 1941 von den Nazis abgeholt worden. Über ihr Schicksal konnte Klara nur Vermutungen anstellen. Sie überquerte die Straße und steuerte auf das Schwanenhaus zu. In der Elisabeth-Parfümerie war alles beim Alten. Alfons Wagner hatte sich den Führerbart abrasiert. Gerda hatte abgenommen, wie alle. Ihr Haar war noch immer weißblond. Sogar in der schlechten Zeit hatte sie irgendwoher das Wasserstoffperoxid bekommen, um es zu bleichen. Beide lernten Englisch, damit sie die neue Kundschaft beraten konnten. Die Amerikaner.
Im Treppenhaus roch es seit Jahren nach gekochtem Kohl und Zwiebeln, denn es gab neben Kartoffeln kaum etwas anderes. Klara stieg die Treppe hinauf in die vierte Etage. Aus den Wohnungen drangen Gesprächsfetzen und Radiomusik. In der zweiten Etage ging es bei den Zieglers hoch her. Erst vor vier Monaten war Herr Ziegler aus der Gefangenschaft heimgekommen, und nun stritt er ständig mit seiner Frau, statt sich zu freuen, dass er am Leben war. In der dritten Etage übte die Pianistin Sophia Winter eine Etüde von Brahms auf einem heruntergekommenen Klavier. Sie war aus Dresden nach München geflohen. Immer wenn Klara sie spielen hörte, musste sie an Esther Roth und ihren Flügel denken. Es war zum Heulen. Doch es brachte ja nichts, sich mit all dem Elend zu belasten. Die Zeit schritt unaufhörlich voran, alles änderte sich. Jazzmusik in den Nachtklubs. Fesche amerikanische Soldaten prägten das Stadtbild. Kaugummi und Nylonstrümpfe. Sie lebten jetzt in einer Demokratie und mussten erst noch lernen, wie das ging. Es war eine aufregende Zeit. Klara war jung und wollte nach vorne sehen und nicht zurück. Ihre Kollegin Mathilde traf sich mit einem amerikanischen Soldaten, während Klara ein Auge auf einen Referendar im Ministerium geworfen hatte. Hans Breuer. Wenn sie ihn sah, schlug ihr Herz schneller. Heute hatte er ihr zugelächelt, und sie schwebte beinahe über dem Boden, wenn sie daran dachte.
Gertrud war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Mutter saß im Salon und nähte. Das war ihre neue Leidenschaft. Sie hatte sich eine Nähmaschine besorgt. Die Schnitte fand sie in der Zeitschrift Elfi Moden . Häufig trennte sie aus der Mode gekommene Kleidung auf, um sich etwas neues zu nähen, manchmal kaufte sie den Stoff dafür auch auf dem Schwarzmarkt. Ihre Mutter ließ sich nie gehen. Sie war immer gut angezogen, sogar als nachts die Bomben gefallen waren, hatte Mama noch rasch ein Kleid übergestreift, während die Nachbarn in Schlafanzügen und Morgenmänteln in den Luftschutzbunker gerannt waren. Am Tag als der Führer gefallen war, trug Mutter ein Kostüm und am 8. Mai die Nachricht mit Fassung, dass das Deutsche Reich untergegangen war. Sie wechselte die Überzeugung und war plötzlich nie eine Anhängerin dieses Verrückten und seiner Ideen gewesen. Man muss sich in das Unabänderliche fügen . Das war noch immer ihr Motto. Sie schwamm mit dem Strom und hatte gute Kontakte zu den Amerikanern. Zurzeit überlegte sie, es wie die Wagners zu machen und Englisch zu lernen.
Nach wie vor bewohnte die Familie Hacker die große Wohnung allein. Mutter hatte sich zwar verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen im Haus unterzubringen, doch wie sie die verteilte, war ihr überlassen geblieben. Natürlich mussten die Mieter enger zusammenrücken, denn Mutter war nicht bereit, sich einzuschränken. Klara verstand das nur zu gut. Auch sie wollte die Wohnung nicht mit Fremden teilen.
Sie setzte sich zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. »Guten Abend, Mama.«
»Grüß dich, Klara. Wie war dein Tag?«
Klara erzählte von Hans Breuer und dass er sie endlich bemerkt habe. Dieses Lächeln. Ein Referendar mit blendenden Aussichten. Ihrer Mutter gefiel das nicht wirklich. »Ein Referendar, Liebes. Ich bitte dich. Du hast etwas Besseres verdient.«
Klara ließ sie reden, doch plötzlich erschien ihr Hans’ Lächeln nicht mehr ganz so strahlend. Auf dem Esstisch lag die Zeitung. Sie griff danach. Oberbürgermeister Thomas Wimmer rief die Münchner zum großen Schuttwegräumen auf. Klara überlegte, ob sie dabei mitmachen sollte. Eigentlich war das Männerarbeit. Auch wenn die Münchner Trümmerfrauen zeigten, dass auch sie das konnten.
Kurz vor sechs kam ihr Vater vom Gericht nach Hause. Die Amerikaner hatten ihn schon vor drei Jahren als Richter am Amtsgericht eingesetzt. Das Entnazifizierungsverfahren hatte er mit Bravour überstanden. Mama und Klara hatten ja keine Ahnung gehabt, dass er einigen jüdischen Familien bei der Ausreise geholfen hatte. Nur bei den Roths war er gescheitert, weil die anonyme Anzeige ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Seit Wagner Klara als Fräulein Nasehoch bezeichnet und ihr geraten hatte, die Denunzianten ganz oben in der vierten Etage zu suchen, hatte Klara hin und wieder ihren Vater in Verdacht gehabt. Wegen des günstig erworbenen Hauses. Doch das konnte nun nicht sein.
Bei seiner Beförderung zum Richter hatte Mama zwischen Begeisterung und Entsetzen geschwankt. Ihr Mann war Richter, und das war natürlich wunderbar. Mit geradem Rücken und herausgereckter Brust ging sie einkaufen, ließ sich mit »Frau Richter« ansprechen und erzählte stolz von seinen Heldentaten. Doch sie hatte nicht gewusst, in welche Gefahr ihr Mann sie und Klara während der Nazizeit mit seiner Hilfe für die Juden gebracht hatte. Und das fand Cosima nachträglich furchtbar und machte ihm Vorhaltungen, während Klara stolz auf ihn war, das aber nicht sagte, denn sie wollte ihre Mutter nicht kränken, die das als Parteinahme gegen sich werten würde.
Er sah kurz herein und wünschte seinen Damen einen guten Abend. Dann verschwand er mit der Post in seinem Studierzimmer.
Klara sah ihn erst beim Abendessen wieder. Er war gut gelaunt und erklärte den Grund dafür. Heute war ein Brief von der Detektei aus London gekommen, die er mit der Suche nach Mirjam beauftragt hatte. Sein letzter Versuch. Zuvor hatte er immer wieder Anzeigen in englische Zeitungen setzen lassen mit der Bitte an Mirjam, sich zu melden.
Die Detektei schrieb, dass Mirjam nicht mehr in Großbritannien lebte und nach Deutschland ausgereist war. Schon vor einem halben Jahr. Eine Anschrift war nicht in Erfahrung zu bringen gewesen.
»Sie lebt also, und sie ist wieder hier«, sagte ihr Vater. Klara war über diese Nachricht ebenso erleichtert wie er. Nur ihre Mutter verzog das Gesicht. »Wunderbar. Dann weißt du das und kannst endlich Frieden geben.«