Mona
Juli 201
9
Mona saß in ihrer neuen Wohnung in Haidhausen am Schreibtisch und versuchte, sich aufs Manuskript zu konzentrieren. Seit April lebte sie nun hier. Ihr ging es blendend. Dank der zehn Prozent vom Hausverkauf führte sie noch immer ein sorgenfreies Leben. Sie war zufrieden. Genau genommen, war sie glücklich. Ganz ohne Bernd und ohne Charlie
. Und ohne Job als Bauzeichnerin. Endlich tat sie, was sie schon immer tun wollte. Sie schrieb, und das machte ihr große Freude.
Die Wunde an der Brust war verheilt. Geblieben war eine Narbe, die sie an die Attacke ihrer Schwester erinnerte. Noch immer erschrak sie, wenn sie daran dachte, wie sehr Heike sie hasste. Ab Oktober musste sie sich vor Gericht wegen versuchten Mordes verantworten, und Mona fragte sich, womit sie diesen Hass heraufbeschworen hatte, obwohl sie die Antwort kannte. Neid. Gier. Wegen des Geldes hätte sie sterben sollen. Es war nicht zu verstehen. Natürlich musste sie als Zeugin aussagen, und ihr graute davor. Wie gut, dass Oliver ihr beistand. Seit sie gemeinsam
die Wand zur Abstellkammer durchbrochen hatten, war er zu einem guten Freund geworden.
Mit ihrer Familie hatte sie endgültig gebrochen. Nach dem Anruf ihres Vaters, der ihr die Schuld an allem gab, hatte sie einen Schlussstrich gezogen. Wie Charlie gesagt hatte: Egal was sie tat, ihre Eltern und Geschwister würden sie immer ablehnen. Also war es sinnlos, es weiter zu versuchen. Diese Erkenntnis war das einzig Gute, das bei ihrer Beziehung zu Charlie herausgekommen war.
Nach dem Termin beim Notar hatte er ihr dann doch noch einmal einen Brief geschrieben, und sie hatte ihn geöffnet und gelesen und war zuerst ein wenig in Sorge gewesen, dass er ihr vormachen würde, er hätte sich wirklich in sie verliebt.
Doch dieser Brief war eine Ernüchterung gewesen. Zwischen den Zeilen zeigte Charlie sein wahres Gesicht. Es ging nur um ihn. Um sein Schicksal. Um seine Gefühle. Wie es ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, als er erfuhr, dass sein Vater eine andere Abstammung hatte, als er immer geglaubt hatte. Wer war er? Worauf war sein Leben gebaut? Auf Sand?
Wie er dann von Annegret einen Teil der Wahrheit erfahren hatte und von seiner Oma Erika den anderen. Wie er nach München gefahren war und die Spur von Marija Jablonski aufnahm. Wie er auf der Suche nach Informationen auf die Familie Hacker und die Roths und ihre Tochter Mirjam gestoßen war und die Tatsache, dass dieser Familie das Haus gehört hatte, zu dem Marija Jablonski damals gewollt hatte. Da hatte er die Vermutung gehabt, dass Marija und Mirjam ein und dieselbe Person waren, was sich dann ja bestätigt hatte
.
Er schrieb von seiner Erschütterung und nicht, wieso er den Plan gefasst hatte, Mona auszunehmen. Er schrieb von seinem Vater, der ihn unfairerweise enterbt hatte, und nicht, weshalb er Mona Liebe vorgespielt hatte. Mit kaum einem Wort erwähnte er sie. Mit keiner Silbe fragte er sich, was er ihr angetan hatte. Mit keinem Wort bat er um Verzeihung. Die letzte Seite hatte Mona nur überflogen, den Brief dann zusammengeknüllt und weggeworfen. Keinen Gedanken wollte sie mehr an ihn oder seine Schwester verschwenden. An Sabine, die es dann doch nicht hatte lassen können und Mona einen Artikel der Hamburger Morgenpost
geschickt hatte. Demzufolge hatte Charlie, als er im Februar angeblich beruflich für einige Tage in Hamburg gewesen war, in Wahrheit vor Gericht gestanden. Ein Verfahren wegen Anlagebetrugs und ein Freispruch aus Mangel an Beweisen. Was für eine Familie!
Wobei ihre ja nicht wesentlich besser war. Mona bereute ihre Entscheidung nicht, ganz mit ihr zu brechen.
Dadurch war die Antwort ihrer Mutter auf die noch offene Frage unwichtig geworden. Es war egal, ob sie die Schwangerschaft zu spät bemerkt hatte oder sich bewusst entschieden hatte, dieses Kind auszutragen, das durch einen Akt der Gewalt entstanden war. Es würde nichts ändern. Mona war kein Kind mehr. Sie musste selbst mit ihrem Leben klarkommen. Und das tat sie.
Manchmal fragte sie sich, was Klaras Erbe ihr gebracht hatte. Eine Menge, wie sie erkannte. Es hatte ihr Leben umgekrempelt. Ohne Klaras Letzten Willen säße sie jetzt nicht hier und würde an ihrem ersten Roman schreiben. Ohne Klara hätte sie nie den Mut besessen, sich endgültig von ihrer Familie zu lösen
.
Es war ein heißer und sonniger Tag. Im Baum vor dem Fenster landete eine Elster und äugte in Monas Wohn- und Arbeitszimmer. Jenseits der Straße und eines Grünstreifens floss die Isar gemächlich gen Norden. Sonnenreflexe tanzten auf dem entfernten Wasser, so wie auf der polierten Statue der Tänzerin auf dem Fensterbrett. Ein paar Zentimeter weiter links und Sie lägen jetzt in der Rechtsmedizin.
Mit der Hand fuhr Mona über den polierten Sockel der Statuette. Langsam wurde das zur Gewohnheit. Diese Figur hatte ihr das Leben gerettet. Immer wenn sie an Heikes Angriff dachte und wie sie ihn abgewehrt hatte, suchten ihre Finger nach dieser Vergewisserung, dass alles gut war.
Eigentlich wollte sie schreiben, doch sie konnte sich heute nicht recht konzentrieren. In einer halben Stunde hatte sie einen Telefontermin mit ihrem Literaturagenten. Was er wohl mit ihr besprechen wollte? Insgeheim hoffte sie natürlich, dass er einen Verlag für ihren Roman gefunden hatte, von dem es bisher allerdings erst ein Exposé und achtzig Seiten Leseprobe gab. Unwahrscheinlich, dass man damit als Debütantin bei einem Verlag unterkam. Üblicherweise musste man sich mit einem fertigen Projekt bewerben. Das hatte ihr Agent ihr erklärt. Doch er war so angetan von dem Stoff und ihrem Talent, diese Geschichte zu erzählen, dass er es dennoch in diesem Stadium versuchen wollte.
Die Schultern waren vom Starren auf den Monitor verspannt. Mona stand auf und ging in die kleine Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Einrichtung stammte von Ikea. Sie hatte sie vom Vormieter übernommen. Designerküchen wurden überbewertet
.
Mit dem Wasser kehrte sie zurück. Auf dem Couchtisch stand der Karton mit den Unterlagen für ihren Roman. Sie setzte sich damit ins Ungetüm und blätterte darin. Klaras und Mirjams Briefe. Die Vereinbarung der Freunde. Die Mappe mit Gesines Bericht zum Schicksal der Familie Roth. Die Kopien der Tagebucheinträge von Erika Gombrowski und deren Übersetzung. Der Inhalt aus Mirjams Handtasche. Das Foto vom kleinen Timon. Fotos der Familie Roth. Das Poesiealbum. Fotoalben der Familie Hacker. Der Kaufvertrag von Juli 1938. Die Traueranzeige für Ernst-Friedrich. Aber auch die Presseartikel über den Fund von Mirjams Leiche, über Heikes Mordanschlag und über die Rückgabe des Hauses an die Erben von Jakob und Esther Roth. Nicht nur Melissa Wittock vom Münchner Blick
hatte darüber berichtet. Nach dem Mordversuch hatte eine mediale Welle eingesetzt. Was für eine Story! Natürlich hatte man versucht, aus ihr die Klischeefigur eines Gutmenschen zu machen. Was sollte das eigentlich sein? Ein Gutmensch. Doch wohl ein Mensch, der in guter Absicht handelte. Was war eigentlich passiert, dass dieser Begriff abwertend und gemein verwendet wurde? Wann war aus dem Guten ein Schimpfwort geworden?
Jedenfalls hatte sie sich nicht öffentlich gerechtfertigt, weshalb sie das Haus Roths Nachfahren übertrug. Es war schwer zu verstehen, und viele würden es auch nicht verstehen wollen. Also hatte sie sich im Gegensatz zu Sabine Gombrowski nicht dazu geäußert.
Noch zehn Minuten bis zum Telefontermin. Plötzlich war sie nervös. Wenn das Exposé nun durchgefallen war und ihre Leseprobe den Erwartungen nicht genügte? Sicher würde ihr Agent ihr sagen, dass es doch keine Extrawurst
für sie gab. Dass sie den Roman über Mirjams Leben erst einmal fertig schreiben sollte, wie das von Debütautoren erwartet wurde. Je näher der Termin rückte, umso unruhiger wurde sie. Der Roman bedeutete ihr so viel. Sie wollte Mirjams Schicksal lebendig werden lassen, und auch das ihres Sohnes. Sie wollte die beiden dem Vergessen entreißen. Das war alles, was sie für sie tun konnte. Ihr Leben aufzeichnen. Wobei sie für ihren zweiten Roman über Timons Leben nichts außer der Idee hatte. Konnte man überhaupt ein falsches Leben führen? Diese Frage beschäftigte sie nach wie vor. Für dieses Projekt würde sie die Hilfe von Sabine und Charlie Gombrowski brauchen. Da galt es, über einen Schatten zu springen. Aber nicht heute und nicht morgen. Einen Schritt nach dem anderen. Erst war Mirjam an der Reihe.
Pünktlich auf die Minute klingelte das Telefon. Ihr Agent meldete sich. »Grüße Sie, Frau Lang. Gibt’s einen Feinkostladen in Ihrer Nähe?«
»Ja. Wieso?«
»Na, dann laufen Sie mal schnell hinüber und kaufen etwas, bei dem Sie den Korken knallen lassen können. Sie haben Grund zu feiern.«
Mona musste sich setzen. Ihr Agent sprach von einem renommierten Verlag, dem ihr Projekt gefiel. Es wäre ein toller Stoff und sie eine talentierte Autorin. Man sah ihr Potenzial und bot ihr einen Vertrag an und dazu ein angemessenes Honorar für eine Anfängerin. Ihr Agent gratulierte ihr. Der Vertragsentwurf würde ihr in den nächsten Tagen zugehen.
Eine talentierte Autorin! Hatte man Worte! Mona rief Oliver an. Sie brauchte jetzt jemanden zum Mitfreuen. Er
meinte, das müssten sie feiern, und schlug das Alfredos vor. Mona lud noch Adele und Steffi ein. Am Abend saßen sie dort zu viert am selben Tisch, wie Mona damals im Oktober bei ihrem ersten Besuch des Restaurants. Sie stießen an, und Oliver zwinkerte ihr zu. »Auf Klara?«
»Auf Klara.«
»Weißt du was? Ich glaube, dein wahres Erbe sind die Geschichten, die sie dir hinterlassen hat. Die Geschichte von Mirjam, ihren Eltern und einer wahren Freundschaft zwischen zwei Männern. Auf deinen Roman.«
»Und auf das Leben.«