Talia
Ich bin mit Bran auf einen Kaffee auf dem Wochenmarkt im Abbotsford Convent, einem ehemaligen Nonnenkloster, das in ein Kunst- und Kulturzentrum umgewandelt wurde, verabredet, und ich bin spät dran. Seit den Osterferien haben wir uns jeden Tag gesehen. Das Bean Counter meiden wir im Moment allerdings, auch wenn sich Bella inzwischen jemand Neues geangelt hat, einen Fahrradkurier. Trotz dieser Entwicklung treffen wir uns meistens in meinem schmucklosen kleinen Zimmer, was in erster Linie daran liegt, dass bei mir nicht rund um die Uhr irgendwelche bekifften Türsteher auf dem Sofa herumlungern. Wir küssen uns, wir erkunden unsere Körper, aber mehr kommt für uns nicht infrage.
Oder besser gesagt: kommt für ihn nicht infrage.
Keine Ahnung, warum, aber er scheint nicht sonderlich erpicht darauf, mit mir zu schlafen. Er sagt zwar, er müsse sich erst über einiges klar werden, aber was, wenn er einfach nicht auf mich steht? Mir bleibt nichts anderes übrig, als Nacht für Nacht Leora hervorzuholen. Aber selbst meiner treuen vibrierenden Freundin gelingt es kaum, das dauergeile Äffchen in mir zu besänftigen. Ich bin ein Junkie, und Bran ist meine Droge.
Mein Handy summt. Bran. Die Nachricht ist typisch für ihn – kurz und auf den Punkt.
?
Sorry, schon unterwegs! Konnte mein Portemonnaie nicht finden.
»Ping«, macht mein Computer. Mist. Mom ruft über Skype an. Perfektes Timing, wie immer.
Ich spiele kurz mit dem Gedanken, sie einfach zu ignorieren. Allerdings gehe ich ihr jetzt schon seit einigen Wochen aus dem Weg, und wenn ich wieder nicht rangehe, laufe ich Gefahr, dass demnächst die Polizei vor der Tür steht, um meinen mumifizierten Leichnam zu bergen. Mom kann sich nach außen so entspannt geben, wie sie will: Ich kenne die Wahrheit.
Tief in unserem Innersten sind wir beide nervliche Wracks.
Also klicke ich auf das rote »Anruf annehmen«-Symbol. »Hey, Mom.«
»Oh, sieh an, du bist ja tatsächlich mal zu Hause. Aloha.« Ihr Bild wird sichtbar. Auweia – angesichts ihres Gewichtsverlustes bleibt mir fast das Herz stehen. Ihre Wangenknochen stechen hervor, ihr Lächeln wirkt brüchig. Sie wiegt allerhöchstens noch fünfzig Kilo. Bildschön ist sie immer noch, aber sie wirkt wie ein Gespenst. Was zur Hölle ist da los?
Sie beugt sich vor. »Kannst du mich sehen?«
»Ja.« Besser, als mir lieb ist. Ich ringe die Hände in meinem Schoß. Atme aus. Ich kann nur kontrollieren, was in meiner Kontrolle liegt. Und jetzt gerade ist das mein nächster Atemzug.
Die riesige weiße Blüte hinter ihrem linken Ohr kann nicht von den tiefen dunklen Ringen unter ihren Augen ablenken. Sie ist sichtlich erschöpft.
»Talia!« Ihre Nase berührt beinahe den Bildschirm. »Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
»Gefällt’s dir?« Ich wuschle durch meine Locken. Marti hat mir vor Kurzem ein paar rötliche Strähnen gefärbt.
»Es sieht anders aus.« Sie nimmt einen langen Schluck aus ihrer allzeit präsenten Teetasse.
Es gefällt ihr nicht.
Ich flehe die himmlischen Mächte um eine Portion Geduld an. »Erzähl mal, wie geht’s dir? Was machst du so?«
»Ich komme gerade von Logan. Wir haben erst Tai Chi gemacht und dann zusammen Mittag gegessen.«
Richtiges Essen oder bloß eine große, leckere Schüssel voll tropischer Luft?
»Wie läuft’s in Australien?«, fragt sie.
»Gut. Prima.« Wo soll ich anfangen? Bei der Uni? Dem Wetter? Marti? Auf keinen Fall Bran – das geht sie definitiv nichts an.
»Okay, wunderbar. Super.« Sie zupft an ihrem Spliss.
»Mhm.« Wie’s aussieht, brauche ich nirgends anzufangen. Sie interessiert sich nicht für mein Leben. Dafür, was ich hier mache. Vermutlich hat sie in ihrem Kalender irgendwo zwischen Reikikursen und Ausdruckstanz den Eintrag »Einzigen noch lebenden Sprössling kontaktieren« reingequetscht.
Mom bildet sich ein, sie könne die Sache mit der Trauer einfach überspringen. Sie will sich nicht die Hände schmutzig machen, indem sie endlos im Schmerz über Pippas sinnlosen Tod herumwühlt. Soll sie sich doch die Zunge fusslig reden mit all diesem Gewäsch über Reisen zum Ich und das kosmische Gesetz der Anziehung. Das ändert auch nichts.
Die Wahrheit ist: Wir alle müssen irgendwann sterben. Punkt. Das ist so simpel wie beängstigend.
»Heute Nachmittag backe ich noch einen Ananaskuchen für Logan. Er hat morgen Geburtstag.«
Aber wirst du ihn dann auch essen? Das ist es, was ich eigentlich gerne wissen möchte. Stattdessen frage ich: »Wie alt wird er denn?«
Weiß der König des Schwengels, dass sie jeden einzelnen Bissen wieder auskotzen wird? Obwohl sie jedes Mal die Dusche aufgedreht hat, um die Würgegeräusche zu übertönen, konnte ich früher immer hören, wenn sie sich mal wieder den Finger in den Hals gesteckt hat. Offensichtlich hat sie diesen Bockmist immer noch nicht aufgegeben, sonst würde sie mit ihren frischgepflückten Blumen und indischen Wallegewändern nicht aussehen wie ein regenbogenbuntes Gespenst.
Ich würde ihr so gerne sagen, dass sie mit mir reden kann, dass es okay ist, sich zu öffnen. Dass ich für sie da sein werde. Aber mir hat sie sich eigentlich noch nie anvertraut; dafür war Pippa immer da.
Merkt Logan eigentlich, wie dünn Mom ist? Oder sieht er in ihr bloß eine attraktive, wohlhabende ältere Frau? Mom bräuchte jemanden, der sie wieder aufpäppelt – in jeder erdenklichen Hinsicht. Aber den wird sie in dieser Beziehung nicht finden. Mist. Ich will mich nicht auch noch um sie sorgen müssen. Dad beißt sich daran schon seit Jahren die Zähne aus, und was hat es ihm gebracht? Er hat sie wie eine Königin behandelt, und sie hat ihn einfach fallen gelassen, als sei er für sie lediglich der Hofnarr gewesen.
Sie nimmt, was sie kriegen kann, und ich habe nicht viel zu geben.
Meine Frage hat sie auch noch nicht beantwortet.
»Mom? Wie alt ist Logan?«
»Ach ja, sorry.« Sie nippt erneut an ihrer Tasse, hält sich die Hand vor den Mund und hustet: »Achtundzwanzig.«
Wenn ich die Augen noch ein bisschen weiter aufreiße, fallen sie mir aus dem Kopf. Mom ist siebenundvierzig. »Heilige Scheiße, Mom, ist das dein Ernst? Ich wusste ja gar nicht, dass du so eine Raubkatze bist.« Du meine Güte, Logan ist eher in meinem Alter als in ihrem.
»Achte auf deine Wortwahl, Natalia.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du dir einen Toyboy hältst …«
»Sei nicht so grausam. Offenbar bist du doch noch nicht so reif und erwachsen, wie ich gehofft hatte. Pass auf, dass du nicht total verspießerst.« Ihr Stirnrunzeln gräbt sich tief in ihre Haut. Jetzt zieht sie wieder diese »Seht her, wie tapfer ich mein Leid ertrage«-Nummer ab, mit der sie Dad immer in die Knie gezwungen hat.
Dass ich nicht verspießere? Ich beiße mir auf die Zunge. Dieses Miststück. Grausam war es, Dad und mich im Stich zu lassen. Wir hätten sie gebraucht, aber sie hat uns weggeworfen wie eine Packung Taschentücher nach überstandener Erkältung.
Mom liebt mich. Theoretisch zumindest. Aber wir passen einfach nicht zusammen. Wir sind wie ein Stock, der in der Mitte durchgebrochen ist und dessen Enden sich nun beim besten Willen nicht mehr zusammenfügen lassen. So sehr sie und Pippa sich auch optisch geähnelt haben, ihre ängstliche Art hat sie mir vererbt. Ich stehe vielleicht nicht unbedingt an der Grenze zur Magersucht, aber genau wie ihr fällt es mir schwer, mich fallen zu lassen, und genau wie sie komme ich mit Ungewissheit nicht klar.
Scheiß drauf. Das hier ist meine Mutter. Ich schulde es ihr, etwas zu sagen, selbst wenn das für uns beide jetzt total unangenehm wird. Ich spanne die Wadenmuskeln an, bis kurz vorm Krampf. Das hier ist wie Alarmstufe Gelb: Extreme Vorsicht ist angesagt, sonst explodiert sie oder sie fühlt sich auf den Schlips getreten und macht dicht.
»Mom …«
»Egal, ich habe jedenfalls über dein kleines Abenteuer nachgedacht. Klingt perfekt.«
»Ist das nicht das Gleiche, was du in Hawaii machst?« Ich bereue meine Worte, kaum dass sie mir über die Lippen gekommen sind. Eigentlich wollte ich es behutsam angehen, aber stattdessen breche ich wie eine Gerölllawine aus aufgestautem Ärger über sie herein.
Ihr Lächeln verblasst. »Kauai ist kein Abenteuer, Talia. Hier geht es um Heilung.«
»Ach ja, richtig.« Heilung. Hinter diesem Wort versteckt sie sich und macht es mir damit unmöglich, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren. Wenn das hier Heilung ist, warum sieht sie dann aus, als würde sie sich langsam in Luft auflösen? Bei dem Gedanken kommt mir die Galle hoch. Das Bild, wie Pippa im Krankenhaus dahinsiecht, weicht der Vorstellung, wie meine Mutter millimeterweise vor sich hinstirbt. Der einzige Unterschied ist, dass sie sich in einem tropischen Inselparadies befindet, in Gesellschaft eines Mannes, der zwar fröhlich Gesundheit und Wellness predigt, gleichzeitig aber ungerührt zusieht, wie sie dahinwelkt, weil er sich letzten Endes einen feuchten Dreck um sie schert.
»Logan und ich kommen nach Australien.«
Mit einem schmerzhaften Ruck bleibt mein Herz stehen. »Wie bitte?«
»In Byron Bay, nördlich von Sydney, findet in ein paar Wochen ein Festival der spirituellen Einkehr statt, wo wir unsere früheren und zukünftigen Leben erkunden wollen.«
»Ihr? Kommt hierher? Nach Australien?« Ein Felsblock löst sich aus der Gerölllawine und donnert auf mich zu, während ich wie angewurzelt dastehe und in Zeitlupe »Neeeeiiiiinnnnn!« schreie.
»Wir brauchen beide mal eine Auszeit. Durch das neue Buch hatte Logan in letzter Zeit unheimlich viel Stress, und ich weiß, dass ein Tapetenwechsel genau das Richtige ist, um das Feuer wieder zum Lodern zu bringen.«
»Ich schätze, auf Kauai ist auch nicht alles perfekt?«
»Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«
Darauf weiß ich ehrlich gesagt keine Antwort. »Du hast mich ganz schön überfallen damit. Ich meine – ich versuche, hier irgendwie so ein bisschen mein eigenes Ding durchzuziehen.« Ich würde Mom ja wirklich gerne helfen, aber ich komme doch selbst kaum zurecht. Was, wenn sie mir das kleine Stück Boden unter den Füßen, das ich mir so mühsam erarbeitet habe, gleich wieder wegreißt?
»Byron Bay ist nicht mal ansatzweise in der Nähe von Melbourne. Wir hätten natürlich mal kurz bei dir vorbeigeschaut, aber wenn du lieber einen auf Little Miss Unabhängig machen willst …«
»Verdammt noch mal, Mom, jetzt komm schon! Ich bin keine sechs mehr.«
»So, wie du dich benimmst, merke ich aber nichts davon.«
»Ich würde mich freuen, dich zu sehen«, erwidere ich. Unwillkürlich halte ich mir dabei die Hand vor den Mund, als wollte mein Körper die Lüge zurückhalten. Die Wahrheit zu sagen kommt jedoch nicht infrage. Und so verlockend ein veritabler Wutanfall gerade auch sein mag: Mom bezahlt meinen Aufenthalt hier, ich schulde ihr also was, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ehrlich, ich würde mich freuen, dich zu sehen«, wiederhole ich mit etwas mehr Nachdruck. Sie wirkt nämlich nicht sonderlich überzeugt. »Schick mir doch einfach eure Reisedaten, dann können wir planen. Ich spiele den Reiseführer. Melbourne ist eine coole Stadt, hier kann man viel unternehmen.« Im Kopf lege ich mir bereits eine Strategie zurecht, um zu vermeiden, dass Bran und Mom einander begegnen. Er gehört ganz allein mir. Ich verspüre plötzlich ein überwältigendes Gefühl von Besitzanspruch. Ich habe keine Lust, mir endlose Kommentare über seinen Charakter anzuhören, mit denen sie unter Garantie nicht hinterm Berg halten wird. Und wehe, sie kommt auch nur auf die Idee, ihn mit dem ach-so-perfekten Tanner zu vergleichen, dem ach-so-perfekten Gegenstück zur ach-so-perfekten Pippa.
Bran ist nicht perfekt. Aber das bin ich auch nicht. Und das ist vielleicht auch okay so.
Vielleicht sogar besser als okay. Wir sind perfekt füreinander, und das reicht.
»Ich muss los. Du hast sicher noch andere Dinge zu tun, und ich komme zu spät zu meiner Verabredung. Ich freue mich darauf, dich zu sehen … das wird super.« Ich schaffe es immerhin, enthusiastischer zu klingen als ein Büffel, der im Treibsand untergeht.
»Na gut.« Ihre Stimme wirkt schleppend. Ich frage mich, ob das in ihrer schicken Tasse wirklich Tee ist. »Hab dich lieb, mein kleiner Marienkäfer.« Alles klar. Den Spitznamen holt sie nur raus, wenn sie sich irgendwo im Übergang zwischen beschwipst und sturzbetrunken befindet. Sobald sie diese Schwelle einmal überschritten hat, weicht ihre liebevolle Seite rasend schnell offener Gehässigkeit.
»Okay, Mom. Ich dich auch. Wir sehen uns.« Wenn bis dahin noch was von dir übrig ist. Ich melde mich ab. Sekunden später stehe ich vor meiner Kommode und stopfe Vitamintabletten in mich rein wie Süßigkeiten – Vitamin B, Vitamin C, Vitamin D und E. Ich verschlinge das gesamte beschissene Alphabet.
Keine Ahnung, ob das überhaupt etwas bringt, aber meine Nerven stehen kurz vorm Durchschmoren. Das ganze Kortisol, das mein Hirn während dieser Unterhaltung ausgeschüttet hat, breitet sich explosionsartig in meinem Körper aus und bringt sämtliche Drähte zum Glühen.
»Vergiss es, vergiss es, vergiss es«, singe ich mantraartig vor mich hin. Wenn Mom nur über den Computer schon so eine Wirkung auf mich hat, was passiert dann erst, wenn wir uns im selben Raum aufhalten?
Ich trommle mit den Fingern meinen speziellen Rhythmus, bis ich mich langsam etwas besser fühle. Viel hilft es nicht gerade, aber ich nehme, was ich kriegen kann. Auf der anderen Seite des Zimmers lugt mein Portemonnaie unter meinem Kopfkissen hervor. Weiß der Geier, wie es da hingekommen ist. Ich werfe es zusammen mit Sonnenmilch und Lipgloss in meine Tasche.
Bevor ich gehe, überprüfe ich sämtliche Steckdosen. Alles ausgestöpselt. Ich bin schon fast zur Tür raus, aber auf einmal rühren sich meine Füße nicht mehr vom Fleck. Ich muss erst noch einmal trommeln. Dann kann ich gehen, und das tue ich auch. Und zwar schnell, als wären mir Dreizack schwingende Dämonen dicht auf den Fersen.
Auf meiner Flucht durch den Hausflur komme ich an Martis Zimmer vorbei. Ein donnerndes Gitarrenriff dröhnt durch die Tür und untermalt die Textzeile: »When the world is gone, all you need to do is set yourself alight.«
Vor dem Aufzug wartet ein anderes Mädchen. Sie bemerkt, wie atemlos ich bin, und wirft mir einen befremdeten Blick zu. »Welche Richtung?«, fragt sie, den Finger bereits auf der Taste.
»Abwärts«, keuche ich. Und meine damit nicht nur den Aufzug, sondern mein gesamtes Leben.
»Hey, hey, schöne Frau.« Bran hält mir von hinten die Augen zu und bringt mich damit zum Lächeln.
»Selber hey.« Er trägt eine Mütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hat, sodass seine Haare an den Ohren abstehen. Ich lächle, er lächelt, und für einen kurzen Moment hört alles andere auf zu existieren.
Für diesen einen Moment bin ich wieder ein normales Mädchen, kein Freak, der es nur mit Mühe und Not aus dem Zimmer geschafft hat.
»Was ist los?« Er verschränkt seine Finger mit meinen und zieht mich an sich.
»Nichts.«
»Hübsche kleine Lügnerin.« Sein Griff wird etwas fester, während er mein Gesicht mit einem forschenden Blick mustert. »Na los, lass uns ein bisschen spazieren gehen.«
Ich bin dankbar, dass er nicht nachbohrt.
»Ist das okay?« Er schwingt meinen Arm vor und zurück. »Händchen halten, meine ich?«
»Ich glaube nicht, dass uns deshalb jemand wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangen kann«, antworte ich mit einem Lachen.
»Ich führe gerade ein Experiment durch.«
»Und ich bin das Versuchskaninchen?«
»Ein wirklich süßes.« Bran beugt sich zu mir herüber, küsst mich hinters Ohr und flüstert: »Ich überprüfe die Theorie, dass ich ein besserer Mensch werden kann.«
»Und Händchen halten hilft dir dabei?«
»Mit dir vielleicht.«
Diese Antwort trifft mich mitten ins Herz. Für einen kurzen Augenblick lässt er mich tatsächlich an sich heran, und dieses Gefühl ist so schön, dass ich auf der Stelle süchtig danach bin. Wie ein Kind mit einem großen Eis möchte ich es bis auf den letzten Tropfen genießen.
Wir kommen an allen möglichen Leuten vorbei: Familien mit Kindern, langsamen alten Ehepaaren, dürren Typen auf Fahrrädern, hübschen Mädchen in Sommerkleidchen mit Spaghettiträgern. Sie alle kommen mir vor wie in einem altmodischen Film. Obwohl die Sonne strahlt, wirken sie verblasst, sepiafarben. Bran ist der Einzige in Farbe, und ich schwebe neben ihm her der Sonne entgegen.
»Ich verlasse nächste Woche die Stadt.«
Ich bin Ikarus. Krachend schlage ich auf dem Boden auf.
»Oh.«
Er bleibt stehen und dreht mich zu sich um. »Nicht für immer. Meine Güte, du solltest mal dein Gesicht sehen.«
Ich lege meine Hand – die, die er nicht festhält – an meine Wange.
»Ich würde mich ja geschmeichelt fühlen, dass dich das so trifft, nur siehst du gerade aus, als hätte ich deinen Hundewelpen als Fußball benutzt.«
»Ich bin bloß überrumpelt, das ist alles. Wo geht’s denn hin?« Klang das jetzt unaufgeregt genug?
»Tassie.« Er bemerkt meinen ratlosen Blick. »Tasmanien, schon vergessen? Ein persönliches Vorstellungsgespräch, damit ich meine ehemalige Doktormutter überreden kann, mir eine zweite Chance zu geben. Außerdem will ich sichergehen, dass ich mein derzeitiges Forschungsprojekt auch wirklich für meine Doktorarbeit nutzen kann. In der akademischen Nahrungskette befinde ich mich gerade irgendwo zwischen Amöbe und Protozoon, ich muss also schon selbst die Initiative ergreifen. Willst du mitkommen?«
Ich stehe einfach nur da, sprachlos. Habe ich das gerade richtig verstanden? Nein, vermutlich nicht.
»Hey, jetzt flipp nicht gleich aus vor Begeisterung.« Sein Lächeln wirkt ein bisschen unsicher.
»Ich weiß nicht genau, was du meinst.«
»Willst du mit nach Tassie? Ist echt toll da.«
»Mitfahren? Mit dir? Wie Urlaub?« Ich klappe schnell den Mund zu, bevor ich endlos weiterfrage.
»Ich weiß, das kommt jetzt ziemlich plötzlich, und du musst eigentlich zur Uni. Ich will dich auch zu nichts zwingen. Ich muss da halt einfach hin und dachte, du möchtest vielleicht mitkommen. Dich mal ein bisschen umsehen. Bis jetzt bist du ja noch kaum aus Melbourne rausgekommen.«
»Die Uni hält mich auf Trab.« Ich zucke mit den Schultern.
»Oder ist das bloß eine Ausrede, weil du es lieber ein bisschen langsamer angehen möchtest?«, fragt er nach einer Weile.
Dieser Typ merkt einfach alles.
»Ganz ruhig, Captain. Kein Grund, gleich einen auf Wombat im Scheinwerferlicht zu machen. Denk nicht zu viel drüber nach.«
»Das kann ich leider nicht.« Ich falte die Hände, damit sie aufhören zu zittern.
»Wir können mein Auto nehmen, mit der Nachtfähre übersetzen und einmal quer über die Insel fahren. Hobart ist toll – ein nettes Städtchen. Für einen Geschichtsfreak wie dich ist das das Paradies. Ursprünglich war Hobart nämlich mal eine Strafkolonie, und viele der alten Gebäude sind immer noch gut in Schuss.«
»Wo würden wir dann übernachten?«
»Mein Onkel lebt dort, in einer alten Walfangstation in Battery Point. Chris ist total cool drauf. Und ich fänd’s schön, noch ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen, bevor …« Er bricht ab und streicht mir eine Strähne hinters Ohr.
»… bevor ich nach Hause fahre.« Mein Aufenthalt hier nähert sich rasant seinem Ende.
»Du verpasst eine Woche Uni, aber ich verspreche, ich werde dir ein paar umwerfende Orte zeigen. Und wenn ich sage: umwerfend, dann meine ich: eine glatte Zehn von zehn.«
»Hmmmm.« Meine Noten sind besser als gut. Abgabetermine gibt es nächste Woche auch nicht, es steht also nichts an, was ich nicht im Griff hätte.
»Heißt das ja oder nein?«
»Ich überlege noch.«
»Okay, ich gebe dir etwas Bedenkzeit.« Er tritt ein paar Zentimeter zurück und umkreist mich zweimal, bevor er sich hinter mich stellt und die Arme um meinen Bauch schlingt. »Und?« Seine Vorfreude ist ansteckend.
»Wir sind wohl ein kleines bisschen ungeduldig, was?« Lachend drehe ich mich zu ihm um.
»Wenn es um dich geht, dann offenbar schon.«
Die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern wild durcheinander. Als würde ich jemals Nein sagen. »Also gut. Von mir aus. Ja. Ich gebe dir hier und jetzt meine Zustimmung. Warum nicht?«
»Im Ernst?« Er zieht mich an sich. Sein Mund ist warm. Unsere Nasenspitzen berühren sich, und ich lege den Kopf in den Nacken, um den Kuss zu intensivieren. Seine Hände schieben sich in die Potaschen meiner Jeans. Er drückt mich noch enger an sich, und mein Körper schmiegt sich an seinen wie zwei Teile eines Puzzles.
Ich finde es schön, ihn zu küssen, mit ihm zu reden, ihn zu sehen. Es ist schöner als alles, was ich bisher kannte. Aber noch hat keiner von uns den großen Haken angesprochen, der in nicht allzu weiter Ferne lauert: dass ich Australien bald verlassen werde. Ich weiß, dass es das war, was Bran meinte. Dass Tasmanien unsere letzte Chance auf ein gemeinsames Abenteuer ist, bevor ich gehe.
Und ihn nie wiedersehe.