Talia
Ich sitze zusammengesunken auf einem klebrigen Plastikstuhl in der Notaufnahme, während Bran die beiden mürrischen Krankenschwestern am Empfang bittet, mich als Nächste dranzunehmen, obwohl wir erst vor zehn Minuten angekommen sind. Ich rücke die Brille mit dem dicken schwarzen Rahmen auf meiner Nase zurecht, dieses hässliche Teil im Buddy-Holly-Style, das ich immer in der Tasche habe, falls mich meine Kontaktlinsen mal im Stich lassen. Ihn noch irgendwie beeindrucken zu wollen habe ich aufgegeben. Immerhin habe ich ihm gerade erst auf die Füße gekotzt.
Der antiseptische Krankenhausgeruch drängt sich in meine Nase und verstärkt meine ohnehin schon gewaltigen Kopfschmerzen. Bran setzt ein bezauberndes Lächeln auf, und ich könnte schwören, dass eine der Frauen daraufhin beinahe selbst in Ohnmacht fällt. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn er will, kann er mit seinem Lächeln Brände entfachen. Ich frage mich, ob ihm das überhaupt klar ist. Vermutlich schon – Bescheidenheit ist nicht gerade seine Stärke. Er dreht sich um und schlendert über den grünen Linoleumboden zu mir zurück. Du lieber Gott, seine Haut schimmert selbst im grellen Neonlicht noch golden. Er ist echt höllisch sexy.
Und ich bin eine Lumpenpuppe frisch aus dem Schleudergang.
»Die Schwestern sagen, wir sollen schon mal nach hinten durchgehen und dort warten. Gerade ist ein Bett freigeworden. Du kannst dich also hinlegen.«
Ich würde gerne nicken, aber das tut weh. »Klingt super.«
Er hilft mir auf. Während ich durch die labyrinthartigen Gänge des Krankenhauses schlurfe, hält er meinen Arm fest umklammert. Ich lehne mich an ihn, und er legt mir schützend den Arm um die Hüfte. So erreichen wir schließlich das versprochene Krankenhausbett, dessen Vorhang er hinter uns zuzieht. Es ist ein seltsames und gleichzeitig angenehm intimes Gefühl, wenn sich jemand so um einen kümmert.
Ich klettere auf die Matratze und lasse mich vorsichtig in das flache Kissen sinken. Mein Blick fällt auf den Riss in einer der Deckenfliesen. Pippa war an einem Ort wie diesem gefangen. Viel zu lang, beinahe ein ganzes Jahr. Dann kam der Tag, an dem Dad, Mom und ich eng aneinandergeschmiegt zusahen, wie eine Krankenschwester das Beatmungsgerät abschaltete. Der Arzt kaute Kaugummi, während er die Schläuche zog. Sein Schmatzen war das Einzige, was ich hörte, nachdem die Geräte verstummt waren.
Meine Wadenmuskeln verkrampfen, während auf meinem Bauch kalter Schweiß ausbricht.
Ein Stuhl schleift über den Boden. Bran setzt sich und nimmt meine Hand.
Ich schrecke auf, als er seine Finger mit meinen verschränkt. Diese Berührung kam vollkommen unerwartet. »Wenn du das machst, habe ich das Gefühl, dass ich gleich sterben muss.«
Er massiert meine Knöchel. »Du bist ganz kalt. Das macht mir Sorgen.«
»Wie kommt es, dass du so warm bist?«
»Ich bin ein menschlicher Kachelofen.«
»Heiß.« Ich versuche ein Lächeln, aber das Ergebnis ist kaum der Rede wert. Also schließe ich stattdessen die Augen. Wenn ich liege, sind die Kopfschmerzen nicht ganz so schlimm.
»Bist du zum ersten Mal im Krankenhaus?«
Langsam atme ich ein und wieder aus. Scheiße. Ich umklammere seine Hand mit aller Kraft.
»Die Schwestern meinten, ich soll mit dir reden, bis der Arzt kommt.«
»Nein.«
»Ich muss dafür sorgen, dass du nicht einschläfst, Captain.«
»Sorry. Nein, ich bin nicht zum ersten Mal im Krankenhaus.«
»Ich auch nicht.« Er bemüht sich um einen möglichst unbeschwerten Tonfall, eine Art Plauderton. »Als ich fünf war, hab ich mir ein Bonbon in die Nase gesteckt.«
»Oh Gott.« Sein Geständnis holt mich mit einem Ruck zurück ins Hier und Jetzt. »Was?«
»Ich kann mich noch an den Untersuchungstisch und das raschelnde Papier darauf erinnern. Meine Schwester hat mich hingebracht. Muss irgendwann kurz vor Weihnachten gewesen sein, weil ein Besoffener mit Nikolausmütze versucht hat, einen der Ärzte zu verprügeln.«
»Wo waren deine Eltern?«
»Keine Ahnung. In Frankfurt vielleicht … oder Hongkong? Dad arbeitet im Finanzsektor. Mom begleitet ihn überallhin.«
Ich lasse das einen Moment sacken. »Sie haben dich und deine Schwester über die Feiertage allein gelassen?«
»Gaby ist um Einiges älter als ich.« Er mustert mein Gesicht. Zweifelsohne bemerkt er, wie bleich ich bin und dass ich die ganze Zeit auf der Innenseite meiner Wange herumkaue. »Mal sehen, was gibt es noch zu erzählen? Mom war beinahe dreiundvierzig, als ich um die Ecke gekommen bin. Von dem Schreck hat sie sich nie erholt. Als ich zehn war, haben sich mich in ein Internat auf der anderen Seite der Bucht abgeschoben. Dort, auf der Geelong Grammar, habe ich unseren gemeinsamen Freund kennengelernt – Jasper Bartholomew Kingston, den Dritten.«
»Jasp… Sekunde mal: Jazza?«
»Höchstpersönlich. Unsere Väter spielen zusammen Golf.«
»Siehst du deine Familie oft?« Ich folge seinen Worten wie einer Spur Brotkrumen, in der Hoffnung, dass sie mich von der aufsteigenden Panik weglotsen.
»Nö. Der Familiensitz befindet sich in Portsea – auf der Mornington-Halbinsel –, aber zurzeit sind sie in Singapur.«
»Klingt einsam.«
»Ich kenne es nicht anders.«
»Und deine Schwester …«
»Genug von meiner langweiligen Familie. Was ist mit dir? Gibt’s auch eine Schwester mit übertriebenem Beschützerinstinkt? Oder miese Eltern?«
»Mein Dad ist super. Meine Mom nervt.«
»Einzelkind?«
»Ich hatte eine Schwester.« Ich zupfe an einem losen Faden, der aus dem Saum der Bettdecke ragt. »Pippa. Sie war fast auf den Tag genau ein Jahr älter als ich.« Ich lecke mir über die trockenen Lippen. »Sie ist vor einiger Zeit gestorben.« Meine Stimme klingt, als würde ich aufzählen, was es heute zum Frühstück gab. Etwas Rührei, eine halbe Tasse Kaffee, eine tote Schwester. Kann mir mal jemand die Milch reichen?
Ich bin kein bisschen besser als dieser beschissene Kaugummi kauende Arzt.
»Das tut mir leid.«
Alle beteuern immer, wie leid es ihnen tut. Ich bin im Mitleid anderer Leute schier ertrunken. Doch als Bran mir sein Beileid ausspricht, fühlt es sich an wie eine Rettungsinsel, an die ich mich für einen Moment klammern kann, um den Kopf über Wasser zu halten.
»Mir auch.« Unwillkürlich zittert mein Kinn.
Seine Hand lässt meine nicht los. Ich mag die Berührung. Dadurch fühle ich mich irgendwie mehr wie ein Mensch und nicht wie eine leere Hülle.
Über uns rattert die Klimaanlage.
»Was ist dein Lieblingsfilm?«, fragt Bran.
»Ist das dein Ernst?« Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.
»Ich habe nicht vor, dich über deine tote Schwester auszufragen. Außer natürlich, du möchtest darüber reden.«
»Nein.« Ich entspanne mich ein wenig. »Zumindest nicht jetzt. Nicht hier.«
»Das Imperium schlägt zurück. Das ist mein Lieblingsfilm.«
»Ein Klassiker.«
»Ich sehe mir nicht viel von den neuen Sachen an.«
»Eine ausgezeichnete Wahl, abgesehen von der Stelle, wo Yoda von der dunklen Seite anfängt. Die fand ich als Kind so gruselig, dass ich Albträume davon bekommen habe.«
Bran bleibt der Mund einen Spaltbreit offen stehen. Ich erhasche einen Blick auf seine Zunge und einen leicht schräg stehenden Schneidezahn. Ich kann nicht aufhören, diese kleinen Details zu sammeln – wie ein Kind auf der Jagd nach sträußeweise Löwenzahn. Mein Herz beginnt zu rasen, und die überraschende Wärme jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Mein Körper ist im Umgang mit diesem Typen genauso verwirrt wie mein Geist.
»Es gibt nur zwei Sorten von Menschen auf dieser Welt.« Ich halte inne und räuspere mich. »Menschen, die Star Wars lieben, und Idioten.«
»Wo hast du nur mein ganzes Leben lang gesteckt?« Er beugt sich vor. Dadurch kommt er mir so nahe, dass ich genau erkennen kann, wo unter seinem Kinn die Bartstoppeln aufhören.
Ich ziehe den Kopf ein. Dabei wird mir bewusst, dass ich instinktiv die Oberschenkelmuskeln angespannt habe. »Sorry, Tiger. Han Solo und ich haben da diese Sache am Laufen – hinter Prinzessin Leias Rücken, versteht sich. Das ist meine Bestimmung.«
Der Vorhang wird unsanft beiseitegeschoben. Vor uns steht ein Arzt mit einem Bart, bei dessen Anblick selbst Chewbacca vor Neid erblassen würde. Er mustert mich von Kopf bis Fuß, wirft einen Blick auf meine Patientenakte, und wendet sich dann an Bran. »Wie geht es Ihrer Frau? Surfunfall?«
Seiner Frau? Ist das sein Ernst? Ich erleide einen hysterischen Anfall. Bohrende Kopfschmerzen treiben mir die Tränen in die Augen, während ich gleichzeitig versuche, einen Schluckauf zu unterdrücken. Die Kombination aus Schlafmangel und Krankenhausphobie bringt mich an den Rand eines kapitalen Nervenzusammenbruchs.
»Ja, meine Frau, Natalia«, erwidert Bran todernst. Dann beschreibt er ungerührt den Unfall und meine Symptome.
Der Arzt unterzieht mich einer schnellen Untersuchung, überprüft mein Kurzzeitgedächtnis und reinigt die Wunde an meiner Schläfe. »Was die Gehirnerschütterung angeht, hatten Sie vermutlich recht«, lautet seine Diagnose. »Hierbleiben muss sie aber wohl nicht. Ich schlage vor, Sie nehmen sie mit nach Hause und behalten sie die nächsten vierundzwanzig Stunden im Auge.«
Nach Hause.
Mit Bran.
Vierundzwanzig Stunden.
Dieser Rechenaufwand ist zu viel für mein Hirn. Es erleidet einen Kurzschluss. Ist der Arzt sicher, dass ich keine Computertomografie brauche?
»Was meinst du, Süße?« Brans Mund verzieht sich zur Andeutung eines Lächelns. Sein weicher Akzent ist unfassbar verführerisch. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
Ich betrete meine chaotische Studentenbude, dicht gefolgt von Bran. Auf der Fahrt vom Krankenhaus hierher habe ich versucht, ihn von sämtlichen Verpflichtungen zu befreien. Er hat mich schlichtweg ignoriert. Auch ein Weg, mir zu zeigen, dass er vorhat, eine Weile bei mir zu bleiben. Wäre ich nicht so erschöpft, wäre ich darüber völlig aus dem Häuschen.
»Mir gefällt dein Einrichtungsstil.« Bran lässt den Blick über meine nackten beigefarbenen Wände schweifen, während er meine Reisetasche, die er aus Jazzas Haus geholt hat, neben dem Doppelbett abstellt. Außer einer billigen Kommode ist es das einzige Möbelstück im Raum.
»Ich versuche, mich hier nicht allzu oft aufzuhalten.«
Er atmet tief ein. »Riecht nach dir.«
Wie bitte? Ich erstarre und schlucke laut. »Ist das gut oder schlecht?«
»Süß.«
»Oh, ach so, das ist nur meine Körperlotion …« Meine Zunge stolpert über das Wort Körper. Das Zimmer, ohnehin kaum größer als ein Schuhkarton, scheint zu schrumpfen, während Brans Präsenz den restlichen Raum ausfüllt wie Alice im Wunderland, nachdem sie den Wachstumskuchen gegessen hat.
»Warum legst du dich nicht ins Bett?«
Mit trockenem Mund zupfe ich an dem Bikiniträger unter meinem Tanktop. »Ich muss raus aus diesen Klamotten.«
Brans Adamsapfel hüpft, und er hustet in seine Faust.
Es kostet mich alle Mühe, mein Gesicht nicht auf der Stelle in meinem Kissen zu vergraben. Warum habe ich keine eingebaute Notbremse für den Fall, dass ich unbedingt sofort die Klappe halten muss?
So wie meine Wangen glühen, muss mein Gesicht die Farbe eines Feuerwehrautos haben. Ein Look, der wirklich niemandem steht. Ich drehe mich um, ziehe mit fahrigen Händen die Schublade meiner Kommode auf und schnappe mir das Erstbeste, was ich in die Finger bekomme – Yogapants und einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift »Santa Cruz«. Ich werfe mir die schlabbrigen Klamotten über die Schulter, wobei ich mir wünsche, ich würde über so etwas wie angeborene Sexyness verfügen. Dabei besitze ich nicht mal Spitzenunterwäsche.
Bran zieht die Vorhänge zurück und sieht durch mein schmutziges Fenster auf den Straßenverkehr hinaus. »Ich wohne gleich um die Ecke, gegenüber vom Bean Counter.«
»Oh, das kenne ich. Sieht cool aus.« Schön, jetzt wo ich das weiß, scheint es mir unvermeidlich, dass ich wieder anfange, mein Körpergewicht in Kaffee zu vertilgen.
»Ja, die machen da guten …« Sein Blick fällt auf meine Brüste. Die Wohnheimverwaltung geht – milde gesagt – echt großzügig mit der Klimaanlage um. Es fühlt sich an, als würden wir für eine Expedition in die arktische Tundra trainieren. Dementsprechend reagieren meine Nippel.
Huhu!, scheinen die Zwillinge zu rufen. Hier sind wir!
Ich ziehe die Schultern hoch. »Ich renn mal schnell in den Waschraum rüber und zieh mich um.«
»Nein.«
Ich erstarre mitten in der Bewegung. Er will, dass ich mich hier ausziehe? Vor ihm? Unsichtbare Alarmsirenen schrillen los. Hitze schießt mir in die Wangen und breitet sich bis in meinen Nacken aus, während in meinem Bauch ein Feuer auflodert.
»Ich gehe.« Er greift nach seinem Rucksack und bringt eine Wasserflasche zum Vorschein. »Und fülle die hier auf. Viel trinken hilft gegen die anhaltenden Kopfschmerzen. Bis ich dir die nächste Paracetamol geben darf, dauert es noch eine Stunde.« Das ist das einzige Schmerzmittel, das der Arzt uns empfohlen hat.
Als er zurückkommt, liege ich bereits eingekuschelt unter meiner Decke. Wortlos reicht er mir das Wasser, hält den Blick jedoch die ganze Zeit auf meinen Mund gerichtet, während ich trinke.
Unsicher tupfe ich mir die Lippen ab. »Lust auf einen Film oder so?«
»Mmmmmh … wenn ich es mir aussuchen darf, nehme ich oder so.«
»Was?« Meine Stimme klingt auf einmal ganz schrill.
Er hakt seine Daumen in die Hosentaschen, und ein kurzes Grinsen huscht über sein Gesicht. »Ein Film ist okay, Captain.«
Brans Geständnis, dass er keine aktuellen Filme kennt, war keine Übertreibung. Ich durfte von meinem iPad auswählen, was ich wollte. Jetzt veranstalten wir unser eigenes kleines Filmfestival: Juno, Garden State und (500) Days of Summer. Nur gut, dass ich diese Filme alle schon mindestens hundertmal gesehen habe, denn die Tatsache, dass Bran keine zehn Zentimeter von mir entfernt sitzt, lenkt mich mehr als nur ein bisschen ab. Ich registriere jede noch so winzige Bewegung.
Irgendwann bin ich von dieser dauerhaften Wachsamkeit so erschöpft, dass mir die Augen zufallen und ich laut gähnen muss.
»Hübsche Mandeln.« Er stößt meinen Fuß mit seinem an.
»Klappe!« Ich trete zurück. »Ich bin total erledigt.«
Er zieht die Decke hoch und steckt sie um meine Schultern fest. Diese sanfte Geste trifft mich vollkommen unvorbereitet. Wieder verspüre ich dieses wunderschöne, etwas schräge Gefühl, wie es ist, wenn sich jemand um mich kümmert. Mich beschützt. Ich meine, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen – na ja, mehr oder weniger –, aber es ist trotzdem schön, dass er sich um mich sorgt. Wirklich schön. Wenn es doch immer so sein könnte …
Er scheint meine Anspannung zu spüren. »Schlaf ein bisschen, okay? Alles ist in bester Ordnung. Ich halte so lange Wache und lese ein bisschen.« Er schnappt sich das Buch neben meinem Bett. »Überwachen und Strafen?«
»Ich besuche ein Seminar über Foucault«, nuschle ich in mein Kissen. Die Matratze quietscht, als er es sich neben mir gemütlich macht. Ich zwinge mich, gelassen zu bleiben, so als wäre es vollkommen alltäglich, dass ich einen süßen Typen in meinem Schlafzimmer habe. Das Doppelbett ist ziemlich schmal, daher drehe ich mich mit dem Gesicht zur Wand, um etwas Platz zu machen – und die Tatsache zu verbergen, dass mir das Herz bis zum Hals schlägt. Sein Brustkorb streift meinen Rücken. Das fühlt sich gut an, ja, fast schon normal.
So nahe mir Bran auch ist: Der Tag war lang. Der Schlaf streckt seine Tentakel aus und zieht mich in die Umnachtung. Ich träume. Und was für ein schöner Traum das ist. Darin legt mir Bran eine Hand auf die Hüfte und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar.
Ich wache auf, weil er mich sanft an der Schulter rüttelt. »Hey, aufwachen.«
»Mmmmmrf«, schnaube ich mit pelziger Zunge und verklebten Augen. Das waren doch höchstens fünf Minuten.
»Du hast fast zwei Stunden geschlafen. Wird Zeit, dass du mal was isst.«
Ich wühle mich wieder in mein Kissen. »Keinen Hunger. Will schlafen.«
Er piekt mich in die Rippen.
»Würdest du diese Hand gerne behalten?«, knurre ich, immer noch nicht ganz bei mir.
»Du bist wie ein kleiner Brummbär, Captain.«
»Grrrrrr.« Ich werfe mich herum und lande halb auf ihm. Whoa, mir war nicht klar, dass er so nah war. Meine Hüften drücken gegen seine, und durch die dünne Baumwolle meiner Yogapants kann ich den rauen Stoff seiner Jeans fühlen. Seine Augen werden groß, und ich schnappe nach Luft, selbst überrascht von meiner impulsiven Aktion. Ich spüre, wie er unter mir hart wird, doch sein Gesicht bleibt starr. Sein Mund ist perfekt. Seine Hände streichen über meine Taille und wandern zu meiner Hüfte hinunter.
Jetzt geht’s los.
Sachte schiebt er mich von sich runter, dann schwingt er die Beine aus dem Bett. »Auf der anderen Straßenseite gibt es eine Milchbar.« Seine Stimme klingt rau.
»Milchbar?« Was zum Teufel passiert hier gerade?
Oder eher: was passiert nicht?
»So ein kleiner Eckladen. Dort gibt’s Lebensmittel, Zeitungen …«
»Milch. Schon verstanden.« Warum hast du mich nicht geküsst?
»Willst du einen Saft? Welche Sorte magst du am liebsten?«
»Apfelsaft.« Findest du mich abstoßend?
»Wie wär’s mit Nüssen? Schokolade?«
»Ein Müsliriegel wäre toll.« Offensichtlich sehr viel toller als ich.
»Okay, bin gleich zurück.«
Es gelingt mir, die Fassung zu bewahren, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und stoße das lauteste Stöhnen der Welt aus. Wie es sich für die größte Idiotin der Welt gehört.
Ein leises Summen ertönt, und ich wühle mich aus meinem Kokon, um auf mein Handy zu sehen. Moment mal, das ist nicht meins. Eine Nachricht erscheint auf seinem Display.
Bella: Hätte Lust auf einen Gutenachtkuss. Bist du wach?
Ich sitze auf der Bettkante, als Bran zurückkommt.
»Du kannst nach Hause gehen«, sage ich leise.
Er runzelt die Stirn. »Aber der Arzt meinte, ich soll die nächsten vierundzwanzig Stunden …«
»Ich hab meine Freundin Marti gefragt. Sie wohnt gleich nebenan und wird nach mir sehen.« Kommentarlos reiche ich ihm sein Handy.
Mit ausdruckslosem Gesicht liest er die Nachricht. »Also gut.« Er legt eine Flasche Apfelsaft und einen Müsliriegel neben mich aufs Bett, schiebt das Handy in die Hosentasche und setzt seinen Rucksack auf. »Talia.«
»Du schuldest mir keine Erklärung.« Jetzt gerade will ich einfach nur, dass Bran verschwindet. Ich brauche Raum zum Atmen. Er ist mir zu nahe, zu viel, zu verwirrend; seine Gegenwart drückt auf alle meine heimlichen Wunden. Ich will das mit uns nicht, wenn er noch mit einer anderen was am Laufen hat.
»Hör zu – ich bin mit niemandem zusammen. Nicht mehr.«
»Schön, wie du meinst. Geht mich ja nichts an. Ich bin echt müde, okay?« Und ich lasse mich auf keinen Fall auf einen Typen ein, der bis vor Kurzem noch in einer Beziehung gesteckt hat. Die wenigen alkoholgeschwängerten Stunden mit Tanner waren Folter genug für den Rest meines Lebens. Ich bin keine Masochistin; ich habe keine Lust, immer nur die Lückenbüßerin zu sein.
Für den Bruchteil einer Sekunde hat es den Anschein, als wolle er mir noch mehr erklären. Doch dann macht er die Schotten dicht. Sein Gesicht ist unbewegt wie eine Maske. »Also gut.« Die Stimme klingt ausdruckslos.
»Also gut«, wiederhole ich, während ich die kleine Stimme in meinem Kopf niederringe, die flüstert: Nicht gut, das ist nicht gut.