Talia
Ich stolpere ins Haus, als die Uhr in der Diele gerade zehn schlägt. In meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander, dass man das Summen darin wahrscheinlich noch in anderthalb Meter Entfernung hören kann. So leise wie möglich schließe ich die Tür und schleiche auf Zehenspitzen in Richtung Treppe. Ich bin müde, hungrig und sehr viel betrunkener, als ich eigentlich geplant hatte. Das ist mal wieder typisch: Wer außer mir würde sich wohl mit einem sechzig Jahre alten Geschichtsprofessor besaufen? Oh ja, ich bin die ideale Kandidatin für eine Folge Girls Gone Wild: Auslandssemester.
»Guten Abend, Liebes.«
Beim Klang von Onkel Chris’ leiser Stimme springe ich vor Schreck fast an die Decke. Als ich mich umdrehe, entdecke ich ihn im fahlen Licht eines Laptops. Er trägt einen roten Seidenpyjama. Ohne seine Perücke sieht er aus wie ein eleganter älterer Herr. Einer von denen, die mit einer Zeitung unter dem in Tweed gehüllten Arm ihren kleinen flauschigen Hund ausführen.
»Hey«, sage ich, während ich versuche zu fokussieren. Es kostet mich alle Mühe, mich so weit zusammenzureißen, dass ich nicht gleich auf den ersten Blick wie die launische Freundin erscheine, die sich davongestohlen hat, um sich volllaufen zu lassen.
Chris hält mir ein kleines Porzellantellerchen mit Schokoplätzchen entgegen. »Komm, setz dich. Nimm dir ein Tim Tam.«
Mir bleibt keine Wahl. Das Angebot auszuschlagen wäre der Gipfel der Unhöflichkeit.
»Danke.« Ich angle mir ein Plätzchen und knabbere vorsichtig daran. Holla. Mein Magen meldet sich lautstark zu Wort und fordert vehement Nachschub ein. Ich zwinge mich, mir nicht den ganzen Keks auf einmal in den Mund zu schieben. »Und, woran arbeiten Sie gerade?«
»Ich versuche, mein Tagespensum zu absolvieren, Liebes.« Er lächelt. »Als Autor mit einem Vollzeitjob komme ich nur nachts zum Schreiben.«
»Klingt hart.«
»Meine Charaktere quatschen sowieso die ganze Zeit vor sich hin. Ich geselle mich einfach dazu und lausche.«
»Sie hören also Stimmen in Ihrem Kopf?«
»Und kriege auch noch Geld dafür, dass ich sie aufschreibe.« Mit einem jungenhaften Grinsen nimmt er sich noch einen Keks. »Ist das nicht wundervoll?«
»Kein schlechter Deal.« Zu dumm, dass meine Verrücktheiten weder kreativ noch lukrativ sind. In meinem Kopf gibt es nur eine Stimme, und zwar meine, die nichts anderes auf den Kasten hat als »Was wäre, wenn?« und »Vorsicht, sonst …« sowie sämtliche Variationen der ewig gleichen langweiligen Furcht.
»Wie ich sehe, warst du aus.« Chris’ Tonfall ist nicht anzumerken, wie er darüber denkt. Diese spezielle Kunstfertigkeit hat er mit seinem Neffen gemein.
Ich rutsche auf meinem Platz herum und wickle die Troddel eines Sofakissens um meinen Finger. »Ich wollte ein bisschen die Gegend erkunden.«
»Brandon hat mir von eurem kleinen Zwist erzählt.« Der Laptop wirft ein gespenstisches Licht auf Chris’ Gesicht, das jedoch nichts als freundliche Besorgnis ausdrückt.
»Ach ja?«, flüstere ich.
»Na ja, nicht direkt. Aber ich habe gehört, wie du gegangen bist, und als du zum Abendessen nicht zurück warst, kamen Fragen auf.«
»Sie müssen mich für eine verzogene Göre halten.«
»Keineswegs.« Chris reicht mir den Teller. Ich stibitze gleich zwei Plätzchen. »Brandon kann manchmal wie sein Vater sein.«
Ich verschlucke mich an meinem Bissen.
»Ach herrje, brauchst du eine Tasse warme Milch, Liebes?«
Ich bringe ein Kopfschütteln zustande. »Nein, ich habe bloß nicht die vorteilhaftesten Dinge über Brans Eltern gehört, das ist alles.«
»Mein Bruder Bryce kann ein wahrer Mistkerl sein, wenn er will. Hat Brandon dir von ihm erzählt?«
»Nur wenig. Es klingt nicht, als stünden sie sich besonders nahe.«
»Die beiden neigen dazu, die Welt in klar festgelegten Kategorien zu betrachten. Schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch. Zugegeben, ihre Ansichten stehen sich diametral gegenüber, aber es sind doch zwei Seiten derselben Medaille. Die beiden sind die größten Sturköpfe, die ich kenne. Sie bringen es im Leben nicht über sich, einen Fehler einzugestehen, selbst wenn sie genau wissen, dass sie falschliegen.«
»Hmmmm«, brumme ich so nichtssagend wie möglich. Chris kann gerne über seinen Neffen schimpfen, soviel er will, aber ich habe keine Lust, hier mitten in ein Familiendrama zu geraten. Mein eigenes ist mir bereits mehr als genug.
»Ich bin überrascht, dass er dich mitgebracht hat. Nach dem ganzen Schlamassel damals in Dänemark.«
»Ja.« Schlagartig lichtet sich der Nebel in meinem Kopf, und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Natürlich weiß Chris über Dänemark Bescheid. Und über das Mädchen, das Bran um ein Haar geheiratet hätte, als er praktisch noch in die Windeln gemacht hat. »Adie Lind?«
»So ein fürchterlicher Schlamassel.« Mit abwesendem Blick lehnt sich Chris in seinem Stuhl zurück. »Und die ganze Sache mit der Schwangerschaft – ich kann Brandon die miese Laune wirklich nicht verdenken, die er das ganze Jahr schon mit sich rumschleppt.«
Mit der was?
»Und vielleicht sollte ich Adie auch keine Vorwürfe machen. Aber Brandon ist mein einziger Neffe. Für mich ist er wie ein Sohn. Wenn ich ehrlich bin, ist er der Sohn, den ich nie hatte. Ich bin also nicht ganz objektiv. Und deswegen mache ich ihr Vorwürfe. Ich werfe ihr vor, dass sie dem armen Jungen das Herz gebrochen hat.« Er beugt sich vor und tätschelt mein Knie. »Aber es freut mich über alle Maßen, dass es offenbar wieder geheilt ist.«
»Ja, ja, die Schwangerschaft. Wirklich schlimm.« Ich nehme mir noch ein Plätzchen, obwohl sich mir beim Gedanken an Essen gerade der Magen umdreht. Ich will nicht, dass das Gespräch hier endet.
Natalia Stolfi, hiermit erkläre ich dich zur miesesten Schnüfflerin und Heuchlerin aller Zeiten.
Bran ahnt nicht mal, dass ich Adies Namen kenne. Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt etwas über diese mysteriöse Geschichte weiß, ist diese verdammte Hochzeitsanzeige. Es war zwar nicht meine Absicht, ihn auszuspionieren, aber ich habe es trotzdem getan, und jetzt kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Das schlechte Gewissen, das sich in meine Eingeweide bohrt, habe ich vollauf verdient.
Trotzdem kann ich nicht aufstehen, bevor ich weitere Einzelheiten kenne.
»Nach Adies Abtreibung dachte ich anfangs, die Dinge würden sich schon von alleine regeln. Er war doch noch so jung. Sie beide waren es. Aber den armen Brandon hat die ganze Sache schwer mitgenommen.«
Ich schaffe es, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, sodass Chris nicht merkt, dass das alles neu für mich ist. Heilige Scheiße, Bran hat ein Mädchen geschwängert und ihr daraufhin einen Antrag gemacht? Mein Magen, der schon über die abendliche Zwangsernährung mit größeren Mengen Alkohol nicht allzu glücklich war, beginnt, sich zu verkrampfen. Meine Hände werden feucht.
Ich werde nicht in Onkel Chris’ gute Stube reihern.
»Ich bin ihr nur einmal begegnet, bei einem ihrer Auftritte in Melbourne. Sie hat die erste Geige gespielt, und das wunderschön. Trotzdem hat Brandon viel zu viel aufgegeben, um zu ihr nach Dänemark zu ziehen. Eine wahre Schande. Dabei habe ich es damals schon kommen sehen; sie war eine Einzelgängerin, nicht bereit, für irgendjemanden Kompromisse einzugehen. Sie war eine Getriebene, die nur ein Ziel vor Augen hatte. Etwas anderes ist wohl auch gar nicht möglich, wenn man eine Karriere als Profimusikerin anstrebt. Oh, ich bezweifle nicht, dass ihr etwas an Bran lag. Aber ihm lag mehr an ihr als umgekehrt. Ich wusste das, ich habe ihn gewarnt, er solle es sich gut überlegen und nicht gleich die Uni hinschmeißen, um ihr um die halbe Welt nachzureisen. Aber er wollte nichts davon hören. Er war Hals über Kopf in sie verliebt.«
Er war in sie verliebt.
Fünf Minuten später stehe ich im Gästebad und spucke Zahnpasta in das winzige Emailwaschbecken. Die Tür zu Brans Zimmer – zu unserem Zimmer – ist geschlossen, kein Lichtstrahl kommt darunter hervor. Ich drehe das Wasser auf, beuge mich vor und trinke direkt aus dem Hahn.
Zum hundertsten Mal innerhalb der letzten Minuten gehe ich die Fakten durch, soweit sie mir bekannt sind. Bran war verliebt. Er hat ein Mädchen geschwängert. Er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat Ja gesagt. Sie hat abgetrieben. Dann haben sie sich getrennt. Bran muss gerade auf dem Heimweg gewesen sein, als sein Flugzeug diese Panne hatte und er fast gestorben wäre.
Das ist es also, was er das ganze letzte Jahr über zu vergessen versucht hat.
Ich kann es ihm fast nicht verdenken, dass er mir nichts davon erzählt hat. Aber nur fast.
Ich betrete das Zimmer und schlüpfe ins Bett. Brans Atem geht leicht, ganz anders als die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge eines Schlafenden. Als ich mich in die Decke wickle, dreht er sich auf die Seite, weg von mir. Sein Rücken ist eine Festungsmauer, sie zu durchbrechen ist aussichtslos.
Ich habe ihm so viele meiner peinlichen und schmerzhaften Geheimnisse anvertraut, habe sie mir förmlich aus der Seele gerissen und ihm den erbärmlichen Haufen Sondermüll hingehalten, damit er sein Urteil darüber fällen konnte. Und was habe ich im Gegenzug bekommen? Nichts. Rein gar nichts. Ich teile meine Geheimnisse, er hält seine zurück. Das ist keine stabile Grundlage für eine Beziehung.
Für jede Erinnerung legt unser Gehirn neue Synapsen an, aber nicht alle sind von Dauer. Manche verblassen zu nebulösen Schemen, deren Einzelheiten kaum noch auszumachen sind; zurück bleiben eher Gefühle als Tatsachen. Andere verschwinden ganz, wie chinesische Papierlaternen, die für einige magische Minuten in den Himmel aufsteigen, bevor sie in der Dunkelheit verlöschen.
Ich würde gerne meine Erinnerungen an die letzte Nacht auslöschen. An die fiebrigen Stunden, in denen mich seine Hände zum Lodern gebracht haben und ich tatsächlich geglaubt habe, das zwischen uns wäre etwas Echtes. Wie dumm ich doch war. Ich habe mir eingeredet, Bran würde mich für etwas Besonderes halten, für jemanden, dem er vertrauen kann. Dabei habe ich geflissentlich all die Gegenbeweise ignoriert, die sich hinter ihm zu schwindelerregenden Höhen auftürmten.
Aber wer wünscht sich nicht, besonders zu sein? Perfekt für einen anderen Menschen? Wichtig?
Tränen strömen über meine Wangen, rinnen an meinem Hals herab und sickern ins Kissen. Aber ich mache keinen Mucks.