Kapitel 1

Bei Hausham, 29. 04., 00:45 Uhr

Am Abend hatte er sich auf die Bettkante gesetzt und die Klinge des Messers poliert. Sein Spiegelbild darin gesehen. Es bewundert. Heute würde er diese Klinge in einen warmen Hals rammen.

Der Frühling war endgültig da. Und damit das Leben. Es kroch die Hänge hinauf, fraß die letzten Schneefelder und gab den Geruch des Bodens wieder frei. Für die nächsten Tage waren hohe Temperaturen angesagt worden.

Toni hatte gewartet, bis seine Eltern eingeschlafen waren, hatte dann seine Ausrüstung überprüft und war um ein Uhr hinaus in die verregnete Nacht gegangen. Er überquerte den Wiesenweg, den am Morgen die Kühe hinuntertrabten, wenn der Bauer sie zur Weide trieb. Die Tropfen klopften an seine Kapuze, gaben ihm einen Laufrhythmus. Noch konnte Toni die Konturen der Bäume und des Waldwegs erkennen, der sich oberhalb der Wiesen befand. Er kannte den Weg, war ihn schon oft hinaufgelaufen. Auf den Berg, der so fest und breit über dem Hof zu liegen schien, der aber hohl und durchlöchert war von den Jahrzehnten des Bohrens, Grabens und Herausreißens. Bis hierher reichten die alten Flöze aus Hausham, dem ehemaligen Bergbaudorf.

Die Riemen seines Rucksacks drückten Toni in die Schultern. Er hatte alles eingepackt. Den Proviant, die Regenplane, die Trinkflasche – und das Nachtsichtgerät. Sein Ziel lag vier Kilometer Luftlinie entfernt. Es würde steil in den Huberspitz hineingehen, dann wieder hinunter durch das Tal und auf der anderen Seite erneut aufwärts. Aber Toni würde nicht die Wege mit dem hellen Kies betreten. Er wählte den Wald.

Er hatte schon mehrere Höhenmeter bewältigt und war dennoch kaum außer Atem. Sein tägliches Training hatte ihm die notwendige Kondition gegeben. Er schob seine Kapuze in den Nacken. Wie ein Hund hob er seine Nase, schnupperte in kurzen Abständen und schloss dabei die Augen. Er konzentrierte sich. Der Geruch der nassen Erde drang in seine Sinne. Die Tropfen plätscherten auf die Blätter der Buchen. Es war das einzige Geräusch. Sonst herrschte Stille. Er stellte sich unter die weiten Äste einer Fichte, schützte sich und das Nachtsichtgerät vor dem Regen und hörte in den Wald hinein. Der Wind kam von Südwesten. Kein Tier würde ihn riechen können.

Er schnallte sich die Gummihalterungen um, die denen einer Tauchermaske ähnelten, und schaltete das Nachtsichtgerät ein. Es summte für einen kurzen Augenblick, dann gab es den Blick auf eine grüne Fläche frei. Das Spiel konnte beginnen. Toni griff nach einer Tüte mit getrockneten Maiskörnern, öffnete sie, darauf achtend, dass er den Inhalt nicht berührte, und schüttete sie unter dem Baum aus. Er kletterte an den abgebrochenen Aststücken der Fichte hinauf und hängte seinen Rucksack neben sich. Dann wartete er.

Dieses Mal dauerte es lange, bis sie auftauchten. In einer Stunde würde es dämmern. Im Winter waren sie bis hinunter zum Dorf gekommen. Der Schnee hatte sie aus dem Wald getrieben. Aber jetzt fanden sie auch weiter oben wieder genug Nahrung. Der Frühling war seine Zeit. Weiter unten hatte man ihn einmal fast entdeckt. Er hatte es im Winter nicht länger ausgehalten, nicht weit hinter der großen Scheune auf die Tiere gewartet und dabei fast das Auto übersehen. Aber dann hatte er es doch noch rechtzeitig entdeckt. Und sich nur den mühsamen Fick eines Slowenen mit der Tochter eines Bauern ansehen müssen. Danach war der Winter für ihn tabu.

Weder sahen sie ihn, noch konnten sie seine Witterung aufnehmen. Es war ein Bock mit zwei Ricken. Er konnte sie schon nach Bucheckern und frischen Samen scharren hören, noch ehe er sie sah. Sie waren jetzt vielleicht zehn Meter von ihm entfernt, kamen Schritt für Schritt näher. Er zog vorsichtig das Messer aus dem Seitenfach des Rucksacks, sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu erzeugen. Rotwild sieht schlecht, riecht gut und hört noch besser. Er hielt das schwere Werkzeug in seinen Händen. Immer wieder hatte er das geübt. War hinaufgeklettert, auf eine Attrappe hinabgesprungen, hatte den Winkel des Messers variiert, die beste Position für das eigene Gewicht gesucht. Er atmete flach. Der Bock hatte schon zum Sommerfell gewechselt. Dieses war dünner und weniger struppig. Der Spiegel, das Hinterteil, hatte seine weiße Winterfarbe verloren. Die Ricken waren trächtig. Es war ungewöhnlich, dass sie sich so eng mit einem Bock zeigten. Der wiederum rieb seinen Kopf an einer Fichte. Damit markierte er sein Revier. Jetzt hob er den Kopf und sah in Tonis Richtung. Drehte der Wind? Hatte das Tier ihn gerochen? Es reckte seinen langen Hals.

Nach einer zähen Minute drehte der Bock sich zu den Ricken und trabte dann weiter nach vorn – zu Toni mit dem Messer. Es waren noch drei Meter. Toni schloss die Augen, hielt die Luft an. Er würde sich fallen lassen, wenn der Bock direkt unter ihm äste. Dann würde sein Gewicht das Tier auf den Boden drücken, und noch ehe es reagieren konnte, wäre das Messer in seinen Hals gefahren.

Aber etwas anderes geschah.

Der Vogel hatte ihn von Weitem gesehen und mit einem Tier verwechselt. Lautlos war er zwischen den Bäumen entlanggeglitten und erst wenige Zentimeter vor Tonis Gesicht abgedreht. Es war eine Eule, die ihn erschreckte, aufschreien ließ und vom Ast beförderte. Der Bock war daraufhin mit großen Sprüngen hinauf in Richtung Bergkuppe verschwunden – die Ricken im Gefolge. Toni hatte sich abgerollt, war dabei auf einen Fichtenast gefallen. Ein stechender Schmerz schien seinen Kopf explodieren zu lassen. Sein Zorn war übermächtig. Ruckartig sprang er auf, trat gegen den Baum, riss sich das Nachtsichtgerät ab und schrie. Dann atmete er durch. Aber auch nach mehrfachem Schnaufen verließ ihn die Wut nicht. Er musste etwas tun. Etwas mit Blut. Und Schmerz. Und Schreien.

Kapitel 2

Bad Wiessee, Tegernsee, 29. 04., 06:35 Uhr

Es war Max Querchers letzter Urlaubstag. Und die ganze Nacht hatte dieser Sauschratz geschrien. Morgen würde seine Arbeit als Ermittler beim Landeskriminalamt in München wieder beginnen. Der Trott, die Mühle würde ihn wieder aufnehmen. Heute wollte er noch einmal seine Ruhe haben. Aber dieser vier Monate alte Scheißer machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

Wie die meisten Männer konnte Quercher mit Säuglingen nichts anfangen. Sie schrien, schissen und aßen und schrien … Nie würde heutzutage ein Mann zugeben, dass Kinder in diesem Alter, wenn es gut lief, bedeutungslos, schlimmstenfalls aber nervtötend waren, dachte er gallig. Bis auf die Volltrottel, die mit dem Wickeltuch und dem Nachwuchs darin glückselig wie ein besoffenes Kaninchen durch den Biosupermarkt schlappten.

Quercher drückte das Kopfkissen auf sein Ohr. Aber das Geschrei aus der Küche im Erdgeschoss drang durch Stoff und Daunen, gelangte in sein noch vom wenigen Schlaf müdes Hirn und trampelte auf allen Nervenbahnen herum. Es war eben nicht sein Kind. Es war das Kind seiner Kollegin Arzu.

Vor einem halben Jahr hatte Arzu Nishali ihr Kind unter spektakulären Umständen zur Welt gebracht. Es war ein gesunder Junge. Ihre türkische Familie überschüttete Arzu mit Wärme, Fürsorge und permanenter Anwesenheit. Ein Glück? Arzu war mit der Mutterrolle völlig überfordert gewesen. Vor wenigen Wochen hatte sie Quercher weinend angerufen und gebeten, ihr zu helfen. Er war widerwillig zu ihr gefahren. Ein Chaos hatte ihn begrüßt. Inmitten von Windeln, unbenutzten und benutzten, hatte die heulende LKA-Polizistin und Computerexpertin Arzu gestanden. In seiner Not rief er damals seine Schwester in seinem Heimatort Bad Wiessee am Tegernsee an und fragte um Rat. Zwei Stunden später hatte er Arzu und den Jungen in seinen alten Benz gepackt und war mit den beiden dorthin gefahren.

Er war in einem Anfall von Sentimentalität in das verwaiste Elternhaus gezogen. Es hatte leer gestanden, seit seine Mutter gestorben war. Jeder hatte ihm abgeraten, das Erbe anzutreten. Das Haus war viel zu groß für einen alleinstehenden Mann. Auch wenn die Schwester gleich nebenan lebte. Und es lag zudem sehr einsam am Westhang des Tals. Schien auf der anderen Seite des Sees schon längst die Sonne, war es hier im Winter schattig und mit Schnee ›gesegnet‹ – Wiessee-Sibirien eben.

Aber Quercher war nach der Beerdigung im Tegernseer Tal geblieben, hatte nach und nach seine wenigen Sachen aus der Wohnung in München geholt und sich in seinem Elternhaus eingerichtet. Für seinen Hund, die Schweißhunddame Lumpi, war das ein Glücksfall. Er musste nur die Tür aufreißen und schon eröffnete sich für sie ein einzigartiges Schnüffelparadies in Form des nahen Bergwalds.

Bad Wiessee, dort wo ihn jeder kannte, erst recht nach den Ereignissen vor Weihnachten, war für ihn kein unproblematischer Ort. Hier wurde man seltener von Babygeschrei denn durch das Quietschen eines Rollators geweckt. Er hatte das Tal lange als Gottes Warteraum verspottet. Sein letzter Fall hatte ihn hier in eine Lawine und andere Unannehmlichkeiten gebracht. Dazu gehörten auch ein kompliziert gebrochenes Bein und eine lädierte Hüfte. Die Ärzte in der Rehaklinik unten am See hatten ein künstliches Hüftgelenk empfohlen. Quercher glaubte ihnen kein Wort. Er hatte stattdessen seinen Freund und Arzt Manfred Appel um Rat gefragt.

»Quercher, die zweite Halbzeit läuft für dich schon länger. Du bist eben nicht mehr jung. Ab jetzt heißt es, viel schwimmen und Rad fahren – aber mit einem hohen Lenker. Ist besser für dein Kreuz. Mach die OP. Dann hast du für ein paar Jahre Ruhe – bis entweder ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall kommt.«

»Schon einmal über eine Nebentätigkeit als Kassandra nachgedacht?«, hatte er trotzig entgegnet.

Künstliches Hüftgelenk klang für ihn wie Seniorenwindel. Er war noch nicht so weit. Also blieben die Schmerzen und das Humpeln. Das versuchte er zu verbergen, so gut es ging. Er rauchte regelmäßig Cannabis, denn irgendwann hatten keine der von Manfred verordneten Schmerzmittel mehr gewirkt. Hinzu kam, dass sein Elternhaus scheinbar nur aus engen Stiegen und ebenso engen Räumen zu bestehen schien. Jeder Gang ins Bett war ein persönlicher Weg nach Golgatha – schmerzvoll und langwierig.

Mit der Zeit genoss er die Stille des Elternhauses. Und als ihm der Schnee zu viel geworden war, hatte er die Zeit mit einem Aufenthalt in seinem Haus auf der Insel Salina abgekürzt. Die Wärme dort hatte ihm gutgetan. Kaum war er jedoch wieder zurück, hatte Arzu angerufen.

Das Frühjahr war spät, aber dann mit Macht ins Tal gekommen. Und jetzt war alles laut und chaotisch, wenn Quercher zu Hause war. Diese WG war eine Notlösung, die nun schon fast vier Wochen andauerte. Und mittlerweile war Arzu mit ihrem Mutterglück nicht mehr über-, sondern eindeutig unterfordert. Aber sollte er sie vor die Tür setzen? Die Falle, so fand er jetzt, hatte er sich selbst gebaut. Jetzt suchte Quercher sehnsüchtig die Ruhe. Er konzentrierte sich auf ferne Geräusche, genoss deren Ausklingen. Stille, nur das Pochen des eigenen Blutes im Ohr, war ihm eine Freude.

Er schwang sich stöhnend aus dem Bett, wo ihn schon sein Hund begrüßte. Lumpi bekam das Maximale an Nähe von Quercher, dem notorischen Einzelgänger. Mit ihren acht Jahren auch nicht mehr taufrisch, drückte sie, weise, wie alte Hunde sind, ihr Kreuz durch.

»Danke für den Hinweis, Mäuschen. Versteh schon. Sportstunde.«

Er zog sich eine verschossene Trainingshose und ein T-Shirt an und kraulte den Hund. Dann legte er sich langsam auf den Teppich neben dem Bett und begann mit seinen Yogaübungen. Er ließ das lang gezogene ›Om‹ aus, weil an dieser Stelle Lumpi zu bellen pflegte.

Unten in der Küche fiel etwas um und zerbrach laut.

Er hörte Arzu fluchen, dehnte aber weiter seine Schulterpartie. Er hatte diesen, wie er einst sagte, esoterischen Yogamist immer abgelehnt. Aber in der Klinik hatte ihm eine junge, schöne Therapeutin diese Philosophie nahegebracht. Seither war es für ihn fast eine Sucht, sich jeden Morgen aus der Versteifung und dem Schmerz der Nacht zu lösen. Nach einer halben Stunde auf dem Teppich duschte er, zog sich an und stieg die Treppe hinab – hinein in ein Inferno aus Kreischen und Weinen.

»Guten Morgen.«

Arzu stand an die Kochzeile gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Vor ihr saß der Junge in einem Hochstuhl, in dem schon Max Quercher vor über vierzig Jahren gesessen hatte. Der Kleine schrie. Überall auf dem Boden und dem Tisch war gelblicher, nach Karotte riechender Brei verteilt.

Arzu öffnete die Augen. »Es tut mir leid, Max. Aber er will nichts essen. Er spuckt immer wieder alles aus. Das ist so eine neue Marotte von ihm.«

Quercher nickte nur, rieb sich die Augen und machte sich daran, seine italienische Kaffeemaschine in Gang zu bringen. Kaum pfiff und brummte der Automat, verstummte der kleine Ali. Gebannt sah er auf den Dampf, der aus der Maschine schoss – und lachte.

Arzu spürte, dass sie mit ihrem Kind in Querchers Idylle eingedrungen war. Aber sie wollte nicht nach München zurück. Dort wo ihre Familie lebte und nur begierig darauf wartete, aus dem Jungen einen der ihr so verhassten türkischen Prinzen machen zu können.

»Was willst du heute noch machen?«, fragte sie vorsichtig.

Quercher hatte sich die Tegernseer Stimme auf seinem Tablet aufgerufen und las.

Er hatte es ihr mehrfach gesagt. Bis Ende der Lektüre wollte er nicht sprechen. Es waren einfache Regeln. Mit all seinen Mitbewohnern hatte es bislang geklappt. Zuletzt hatte er im Münchner Glockenbachviertel mit einem schwulen Barbesitzer zusammengewohnt. Alles war einfach gewesen. Wer kaufte ein? Quercher, weil er gern kochte. Wer putzte? Der Barbesitzer, weil er einen ausgeprägten Hygienefimmel hatte. Und wie lange durften Gäste bleiben? Eine Nacht, männliche wie weibliche. Das Leben konnte unkompliziert sein. Aber nicht mit Arzu, Mutter und Türkin. Da war immer alles komplex.

Sein Telefon klingelte. Er nahm ab, sagte dreimal »Ja«, legte auf und las weiter.

»Ich hatte dich etwas gefragt«, kam es von Arzu.

Quercher sah von der Zeitung auf, atmete durch, blickte in das kreisrunde Gesicht des Babys und sagte: »Ich bin gleich weg.« Er stand auf, schloss eine Schublade auf, nahm seine Dienstpistole heraus und schnipste nach Lumpi. Dann sah er noch einmal zu Arzu und lächelte. »Einfach weg.«

Kapitel 3

München, 29. 04., 08:10 Uhr

Zwischen der Moschee des Islamischen Zentrums und der Fußballarena der beiden Münchner Vereine befand sich die Kläranlage Freimann. Und all das wurde vom Trümmerberg mit einem gigantischen Windrad überragt.

Quercher humpelte immer noch, als er von seinem alten Mercedes auf den Eingang der Kläranlage zulief. Nachdem er sich ausgewiesen hatte, begleitete ihn der Pförtner zum ›Rechen‹. Der städtische Angestellte, ein älterer Mann griechischer Herkunft, schien gute Laune zu haben und sich darüber zu freuen, jemandem die Anlage zu erklären. Quercher hatte nicht gefrühstückt und war sich nicht sicher, ob er an Details über eine Kläranlage interessiert war. »In der sogenannten Rechenanlage leiten wir das Abwasser aus München durch einen Rechen. Sehen Sie, da vorn. Das große Teil, das sich dreht. Haben Sie bestimmt schon einmal von der Autobahn gesehen und …«

Quercher nickte. Der Geruch wurde jetzt intensiver.

»Im Rechen bleiben die groben Verschmutzungen hängen.« Der Grieche lachte, als er das verzerrte Gesicht seines Gastes sah. »Damenbinden, Präservative, Steine, aber auch Laub und tote Tiere. So etwas eben. Wissen Sie, das Zeug würde die Pumpen der Kläranlage verstopfen.«

Wie recht er hatte. Nur war es dieses Mal keine Monatsbinde, sondern ein Mann, der vom Rechen durch das große Becken gezogen worden war.

Quercher wurde, aller sonstigen Revierkämpfe zum Trotz, von den Kollegen des Kriminaldauerdienstes und der Mordkommission freundlich frotzelnd begrüßt.

»Tut mir leid, dass ich dich heute Morgen angerufen habe. Ich weiß, du bist noch krankgeschrieben. Aber wir brauchten einen Experten. Scheißjob, was, Max?«, fragte ein dürrer Kollege mit Schnauzbart und schwerer Akne im Gesicht.

»Der Hubi! Bist jetzt hier Abschmecker?«, fragte Quercher genauso rüde zurück und gab ihm die Hand. »Passt schon. Bin nicht mehr krank, aber hatte noch Urlaub. Was haben wir denn?«

Der Dürre zeigte auf einen Körper, der, bis zwei Kollegen von der Spurensicherung ihn herausgezogen hatten, in der trüben Brühe getrieben hatte. Jetzt lag die Leiche auf der Wiese neben dem begehbaren Rechen. Mit Mühe konnte Quercher erkennen, dass die Hände des Leichnams auf dem Rücken gefesselt waren. Hüftabwärts war er nackt. Lediglich am Oberkörper klebte eine verschmierte Lederjacke. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen, der Mund geöffnet. Der Kopf war kahl rasiert.

Hubi erklärte, während seine Kollegen weiter nach Hinweisen und Zeugen suchten: »Mann, circa dreißig, Nationalität unklar, eher deutsch. Grob geschätzter Todeseintritt zwischen ein Uhr und vier Uhr. Keine Schuss-, Hieb- oder Stichverletzungen. Eine Tätowierung an der Brust: das Wort Dirle und darunter in altdeutscher Schrift Bruderschaft. Die Frühschicht fand ihn bei einem Kontrollgang. Die Herren werden gerade vernommen. Der Typ scheint noch gelebt zu haben, als man ihn in das Klärbecken geworfen hat. Näheres wie immer von der Rechtsmedizin. Wir haben etwas gefunden, das auf einen islamistischen Hintergrund hindeutet. Sonst hätte ich dich ja nicht so früh aus dem Bett geholt. Du wohnst nicht mehr in München, oder?«

Quercher nickte, schwieg aber. Ihm war die übliche Kameradschaft suspekt. Und wie sollte er jemandem wie Hubi erklären, dass er jetzt mit Arzu und ihrem Kind zusammenlebte, sie aber keine Liebesbeziehung hatten?

»Erst einmal brauchen wir seine Identität. Habt ihr was?«, rief Hubi den Kollegen zu, die sich mit der Leiche beschäftigten. Vorsichtig durchsuchten die Männer in den weißen Schutzanzügen die Jacke des Mannes. Kurze Zeit später sahen sie zu Quercher und dem Dürren und schüttelten den Kopf.

»Da sitzen wir aber in der Scheiße«, versuchte es Hubi mit dem nächsten dünnen Scherz.

Regenwände zogen vom Stadion über die Autobahn. Quercher blickte zu den Kolonnen des morgendlichen Berufsverkehrs. Auf vier Spuren stauten sich die Autos. Dann sah er wieder auf das Kläranlagengelände. Was für ein trostloser Ort zum Sterben. Der Rechen war weiträumig mit rotem Flatterband abgeriegelt worden. Die Spurensicherung arbeitete sich langsam um den Tatort herum.

»Und was kann ich jetzt für euch tun?«, fragte Quercher.

Der Dürre griff nach einer Tüte, in dem ein handtellergroßes Metallamulett lag. Es war beschriftet. »Kannst du das lesen? Das ist doch Arabisch, oder so?«

Quercher galt neben ein paar anderen Kollegen vom LKA als Spezialist für alles, was nach Arabern aussah. Er sprach fließend Arabisch, Türkisch und sogar ein wenig Farsi und hatte lange als verdeckter Ermittler im Islamistenmilieu gearbeitet – allerdings nicht hier in Bayern, sondern in Nordrhein-Westfalen.

Nach einem spektakulären Fall vor sechs Jahren, der ihn so ziemlich alle guten Kontakte gekostet hatte, war er hierher zurückgekommen. Dank seines alten Chefs Pollinger, den er nach diesem Termin auf der Krebsstation im Klinikum rechts der Isar besuchen wollte.

Quercher hielt die Tüte mit dem Amulett nah an sein Gesicht. Etwas Braunes befand sich am Rand des Schmuckstücks. Er wollte gar nicht wissen, was das war. Leise las er vor: »qul huwa ’llāhu ahad allāhu ’s-samad lam yalid wa-lam yūlad wa-lam yakun lahu kufuwan ahad.«

Hubi sah ihn verstört an. »Und das heißt?«

Quercher schüttelte den Kopf. »Nein, Hubi. Nicht was, sondern warum, ist die Frage. Das ist eine Sure, die Al-Ichlas, die hundertzwölfte Sure. Warum liegt die hier? Und warum trägt der Typ so etwas?« Quercher übersetzte den Text ins Deutsche. »Sprich: Allah ist einer. Ein ewig Reiner, hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner, und nicht ihm gleich ist einer.«

»Einige Araber nehmen diese Sure als Beschwörung, als gutes Omen und Talisman gegen den bösen Blick. Sie sprechen sehr gut, haben aber einen kleinen Akzent«, rügte eine milde Stimme hinter ihnen.

Quercher und Hubi drehten sich ruckartig um. Vor ihnen stand ein kleiner Mann mit einem roten Turban, der mit einem weißen Tuch umwickelt war. Der Mann schien Bosnier und ein Imam zu sein. Er begrüßte Quercher dennoch auf Arabisch.

Hubi war sich nicht sicher, ob das der Besuch war, den er unbedingt an einer Kläranlage erwartete. Etwas zu ruppig kartätschte er mit einer Frage an den Imam dazwischen. »Wer hat Sie denn hier hereingelassen?«, fragte er.

Der Imam stellte sich mit dem Namen Indurz vor und zeigte auf den Pförtner. »Ich hörte von einem Toten und dass er Muslim sei. Wie Sie wissen, ist unsere Moschee nicht weit. Ich dachte, ich könnte Ihnen helfen.«

Hubi knurrte und zeigte in Richtung des Toten. »Kennen Sie ihn?«

Der kleine Mann ging an das Absperrband.

»Darf er weiter zum Becken gehen?«, fragte Hubi die Kollegen von der Spurensicherung.

Die nickten.

Eindringlich beugte sich der Imam über die Brüstung. Er schien etwas zu murmeln. Nach kurzer Zeit kam er zurück zu den Polizisten und schüttelte den Kopf. »Es ist kein Muslim«, sagte er knapp.

»Was macht Sie da so sicher?«, fragten Hubi und Quercher fast zeitgleich.

»Er ist nicht beschnitten«, antwortete der Imam leise.

Quercher verstand.

Hubi zeigte dem Imam das Amulett. »Das lag hier. Wo gibt es so etwas in München zu kaufen?«

Quercher schmunzelte insgeheim, der Imam lächelte breit. »So ein Amulett gibt es überall dort, wo es Muslime gibt. So wie Sie Kreuze tragen oder neuerdings diese Yin-Yang-Zeichen … Ich habe für den Mann gebetet. Wenn Sie noch Fragen haben, hier ist meine Karte.«

Formvollendet reichte er beiden jeweils eine Visitenkarte und ging unaufgefordert zum Ausgang der Kläranlage.

»Scheint wohl eher ein lokales Verbrechen zu sein«, murmelte Quercher. »Ich fahre mal ins Büro. Wenn du mich noch brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen.«

Hubi sah ihn säuerlich an. »Willst du mir auch eine Visitenkarte geben?«

Quercher lachte. »Dafür bin ich ein zu kleines Licht. Aber beschnitten, falls du es wissen willst.«

Hubi kratzte sich unwillkürlich im Schritt.

Quercher zog seine Jacke aus, als er seinen alten Benz erreichte. Er schüttelte die Nässe heraus, setzte sich dann auf den Fahrersitz und warf die Jacke achtlos neben sich. Lumpi, die bei ihm auf der Vorderbank saß, schnüffelte neugierig daran.

»Ja, ich weiß. Der Geruch gefällt dir«, knurrte Quercher die Hundedame an.

Er setzte zurück und fuhr mit zu hoher Geschwindigkeit aus der Einfahrt heraus, vorbei an den roten Bullis der Kollegen von der Mordkommission. Sein Telefon klingelte, doch er ignorierte es. Wenig später klingelte es wieder. Es gab nur eine Person, die so penetrant war: Arzu Nishali.

»Quercher.«

»Das geht auch freundlicher«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

Quercher verdrehte die Augen.

»Du verdrehst gerade die Augen.«

»Nein.«

»Doch.«

»Arzu, lass es. Es ist zu früh am Morgen, um die borstige Ehefrau, die du glücklicherweise nicht bist, zu spielen.«

»Was machst du gerade?«

»Ich habe Sex.«

»Im Ernst?«

»Nein, nicht im Ernst. Mit mir.«

»Igitt. Sag schon.«

»Ich fahre von einem Klärwerk in die Dienststelle.«

»Das ist im Grunde ein Pleonasmus.« Arzu Nishali war Wikipedia auf zwei Beinen. Sie war geradezu süchtig nach Allgemeinwissen. Es war ihre Decke gegen Kälte und Ablehnung, die sie als Frau mit türkischen Wurzeln immer wieder erleben musste, wie sie ihm einmal nach einer langen Nacht verraten hatte.

»Ein was?«

»Gleicher Wortsinn wie ›Ziffer Null‹. Denn, ›Cifr‹ ist arabisch und bedeutet null. Die LKA-Dienststelle ist eine Kloake und somit ein …«

»Ich hab’s kapiert. Was möchtest du denn?« Quercher wusste es schon. Arzu, seine Kollegin und neue Mitbewohnerin, langweilte sich.

»Was ist das für ein Fall, zu dem sie dich so früh am Morgen geschickt haben?«, wollte Arzu wissen.

In knappen Worten erzählte er es ihr.

»Kann ich etwas für dich tun? Etwas recherchieren? Der Kleine schläft. Ich war schon einkaufen. Und wenn ich noch einmal den Kinderwagen an der Uferpromenade durch die Rentnerhorden schiebe, greife ich zur Waffe.«

»Nein, ich habe geholfen. Jetzt fahre ich ins Büro und vorher zu Pollinger ins Krankenhaus.«

»Grüßt du ihn von mir?«, bat Arzu.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das seinem Heilungsverlauf hilft«, antwortete Quercher und erntete ein Fluchen.

Heute Abend würde er mit Arzu reden müssen. Er war nicht darauf aus, eine Heimstätte für anstrengende Mütter aufzubauen.

Quercher fuhr über den Frankfurter Ring in den Stadtteil Bogenhausen. Es regnete nicht mehr. Zwischen den Wolken stieg die Sonne empor, ließ die Nässe auf dem Asphalt dampfen. Quercher zuckelte hinter einer Tram her und kraulte mit der rechten Hand seinen Hund, der aufrecht und gegen jede Verkehrsregel nicht angeschnallt auf der Beifahrerseite saß.

Mit Mühe fand Quercher in einer Nebenstraße des Klinikums einen Parkplatz, ließ den Hund im Auto und schlenderte über die Straße zum Eingang des Krankenhauses. Hier standen die üblichen Raucher im Bademantel und begafften jeden Neuankömmling. Die Station, in der Pollinger lag, befand sich in der vierten Etage.

Quercher hasste Krankenhäuser. Der Geruch, das Schlurfen der Kranken über den Flur oder die trostlosen Bildmotive an den Wänden – all das war für ihn eine Symphonie des Leids, der er sich ungern aussetzte. Seine Arbeit erzeugte genügend Bilder, die schmerzten. Doch er tat es für Pollinger. Zwei Chemotherapien hatte der alte Mann ertragen. Aus einem Hundertkilomann hatte der Magenkrebs ein hohlwangiges, knapp siebzig Kilo wiegendes Männchen gemacht. Quercher hatte den Besuch Tag um Tag verschoben. Er ahnte, wie sein Freund aussehen würde.

Pollinger hatte ein Einzelzimmer. Er war in dem Trakt untergebracht, der nur den exklusiven, will heißen, zahlungskräftigen Patienten vorbehalten war. Im Zimmer links neben Pollinger lag ein übergewichtiger Araber aus den Emiraten, rechts ein Russe. Deren Sicherheitsleute saßen mit ihren Smartphones in der Hand vor der Tür und langweilten sich.

Quercher klopfte, hörte nichts und trat ein.

Pollinger saß eingesunken in einem Rollstuhl, den Kopf zum Fenster gerichtet. Er schlief. Das Zimmer roch nach Schweiß, scharfem Desinfektionsmittel und fadem Früchtetee. Pollingers linke Hand hing schlaff am Stuhl herunter, eine Infusionsnadel steckte in dem von Blutergüssen übersäten Handrücken. Quercher wollte ihn nicht wecken. Vielleicht, um sich erst einmal von diesem Anblick zu erholen. Pollinger hatte keine Haare mehr. Die Ellenbogen stachen spitz aus einem geblümten Krankenhaushemdchen heraus. Die einstmals kräftigen Beine, die in den Lederhosen, die Pollinger so liebte, wirklich etwas hergemacht hatten, waren dürr wie Streichhölzer. Das Gesicht glich einem Totenkopf.

»Kommst du endlich?«

Quercher schrak auf. Pollingers Stimme war krächzend und leise, aber sie hatte immer noch einen vorwurfsvollen Unterton.

»Ja, ich hatte zu tun«, sagte Quercher und ahnte sofort, dass Pollinger das nicht gelten lassen würde.

»Tote sehen ist das eine, Sterbende das andere, nicht wahr, Max?«

Quercher sah hinaus. »Was sagen die Ärzte?«, fragte er.

Jetzt erst öffnete Pollinger die Augen, drehte seinen dürren Kopf nach links und lächelte leicht. »Mein Magen ist um ein Drittel verkleinert. In meinem Körper fließt so viel Gift, dass ich statt auf den Friedhof auf eine Deponie gehöre. Sie sagen, der Krebs sei weg. Und sie sagen, er kann wiederkommen. Wie Mitarbeiter nach einer Beförderung.«

Quercher grinste. Pollinger war eben immer noch Chef.

»Und wie geht es weiter?«, fragte er.

Pollinger zuckte mit den eckigen Schultern. »Ich soll mich erholen. Wieder ins Leben zurückkehren. Sie sagen es nicht, aber sie wissen, dass ich den Tod gesehen, ihn in mir gespürt habe. Und wenn das einmal so war, lässt er dich nicht mehr los. Ich gehe also bald, suche mir ein Plätzchen und warte. Warte, bis wieder etwas schmerzt oder brennt oder drückt. Dann weiß ich, dass es wieder da ist. Und wenn es gar nicht mehr geht, werden sie die Dosis Morphium erhöhen.«

Quercher verstand. »Was kann ich tun für dich?«

»Lenk mich ab. Das tägliche Gerede über Krankheiten macht mich fertig. Erzähl mir von den Lebenden. Ich habe mir das Wasser aus Wildbad Kreuth kommen lassen.«

Er deutete auf eine Flasche auf seinem Nachttisch, die mit einer rostfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.

»Daran glaubst du nicht wirklich?«, fragte Quercher erstaunt.

»Doch, eine Krankenschwester hier kommt aus Kreuth und hat mir davon erzählt. Ich war früher zuweilen dort. Das Wasser wirkt.«

Pollinger spielte auf seine CSU-Nähe an, jener Partei, die in Kreuth alljährlich ihre Klausurtagung mit viel Mediengetöse abhielt. Nicht weit von ihrem Tagungsort entsprang eine alte Quelle mit mineralhaltigem Wasser. Einst schätzten das sogar Könige. Aber mittlerweile war es nicht mehr als eine Tränke für Hirsche und Hunde. Quercher konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet sein Chef und alter Freund Pollinger an die vermeintliche Wirkung eines Heilwassers glaubte. Aber Krankheiten veränderten eben, erst recht die, die tödlich sein konnten.

»Und wo warst du heute Morgen? Ist doch gar nicht deine Zeit?« Pollinger stieß auf und hielt sich schmerzverzerrt den Bauch.

Quercher sah weg und erzählte ihm von der Leiche im Klärwerk. Pollinger schien ihm kaum zuzuhören. Mitten in der Erzählung unterbrach ihn der Alte.

»Und noch etwas. Kennst du noch den Anwalt Sareiter?«

Quercher sah ihn erstaunt an. »Ja, der Strafverteidiger. Wieso?«

»Kennst du ihn?«

Quercher nickte. »Das weißt du doch. Wir waren befreundet.«

Pollinger sah aus dem Fenster zu Bauarbeitern, die ein Gerüst an der Innenfassade der Klinik errichteten. »Und seit der Sache mit dem Kind und der Frau vor acht Jahren …«

Quercher unterbrach ihn. »Ja, seitdem hat er sich nicht mehr gemeldet. Er soll sehr zurückgezogen leben. Das Erbe, das er bekam, reicht für mehrere Generationen.«

Pollinger lachte bitter auf. »Sein Leid wohl auch. Er war jedenfalls hier. Sareiter hat mich besucht. Er hat nach dir gefragt und mich gebeten, dich zu ihm zu schicken. Auf meinem Tisch liegt seine Adresse. Es war komisch. Ich kannte ihn ja nur als Strafverteidiger. Er hat sich mit uns und der Staatsanwaltschaft ja schlimme Schlachten geliefert. Ein Hippie war er, oder?«

Pollinger hielt auch in der Krankheit an seinen strengen Vorgaben der Bürgerlichkeit fest. Der Begriff ›Hippie‹ klang in Querchers Ohren so herrlich antiquiert wie ›Haschbruder‹ oder ›Beatnik‹. Tatsächlich konnte sich Quercher erinnern, dass der junge Sareiter damals lange, zu einem Zopf zusammengebundene Haare hatte und eine schwarze Hornbrille trug, als er mit provozierenden Anträgen auf Gutachten die alte Richtergarde zur Weißglut brachte. Sareiter hatte für seine Mandanten, häufig Schwerkriminelle, das Letzte herausholen wollen. Und das war ihm im Laufe der Jahre immer besser gelungen. Sein Ruf war legendär. Das Resultat seiner Arbeit waren Freisprüche am Fließband. Sein Ruhm mehrte sich, die Morddrohungen von aufgebrachten Bürgern ebenfalls. Mehrmals wurden Beschuldigte freigelassen und begingen danach wieder Straftaten. Sareiter ließ das kalt. Die Kollegen im LKA hassten ihn. Einige wurden im Gericht als Zeuge von Sareiter nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Auch Quercher war einmal dran gewesen. Obwohl sie Freunde waren. Bis zu der Sache mit Sareiters Frau und dem Kind.

»Ja, Hippie ist gut. Sareiter hat das Recht auch für Täter erstritten, wenn du das meinst. Was will er von mir? Ich meine, erst taucht er ab und jetzt ruft er mich nicht an, sondern erkundigt sich bei dir nach mir während eines Krankenbesuchs?«

»Höre ich da etwa einen beleidigten Tonfall heraus?«, fragte Pollinger spitz.

»Ach was.« Quercher stand auf. Natürlich hatte ihn das getroffen.

»Jedenfalls bittet er dich, so schnell wie möglich bei ihm vorbeizufahren. Er wohnt hier in Bogenhausen, am Isarhochufer. Tu mir den Gefallen und geh hin. Ich habe es ihm versprochen.«

Quercher zog die Stirn kraus.

»Und noch etwas. Er wird dir ein Angebot machen. Sag nicht sofort ab. Sag auch noch nicht zu. Komm wieder her. Und wir reden darüber.«

Quercher verstand nicht. »Was für ein Angebot?« Sein Smartphone brummte. Entschuldigend sah er zu Pollinger, der nur müde winkte. Quercher öffnete die Balkontür, lehnte sich an die Brüstung und drückte den grünen Knopf seines Handys.

Es war Hubi. »Max, die Scheiße verfolgt dich.«

»Das ist mir bekannt. Deswegen rufst du ja an.«

»Sehr witzig. Du hast den Kläranlagenfall an der Backe. Anweisung von oben. Rechtsmedizinisches Gutachten kommt heute Nachmittag. Die Spurensicherung hat den Bericht fertig. Ich habe dir die Akten schon zum LKA in die Maillingerstraße gebracht. Ach ja, da wartet schon jemand auf dich. Sieht nach Ärger aus. Viel Spaß.«

»Aber wieso wir? Ist das was für’s LKA?«

Normalerweise legten die Kollegen von der Kripo wenig gesteigerten Wert darauf, dass Mordfälle weitergegeben wurden. Aber Hubi klang nicht verärgert, eher erleichtert, den Fall abgeben zu können. Das roch. Denn das alles war eigentlich nicht Querchers Baustelle.

»Wir haben die Identität des Täters. Sein Auto stand verlassen vor einem Puff in Freimann. Wir haben das Führerscheinfoto mit dem Toten abgeglichen. Wir haben ihn als Stefan Denke, Oberleutnant der Bundeswehr, wohnhaft in München, identifiziert. Gehörte zum KSK, dieser Sondertruppe der Bundeswehr. Wir waren also schon weit. Dafür, dass der Typ heute Morgen nur Treibgut im Klärbecken war. Aber dann tauchte dieser Kerl auf. MAD, Militärischer Abschirmdienst. Der Fall sei nicht mehr relevant für uns. Zeigte uns eine Anweisung aus dem Innenministerium. Ich meine, nicht dass ich mich über zu wenig Arbeit beschwere. Aber …«

»Aber was?«, fragte Quercher, der wusste, dass kein Kollege der Münchner Mordkommission gern einen Fall so einfach abgab. Es hatte etwas von Bevormundung. Und vom Wildern im eigenen Revier.

»Na ja, Max, wir hatten noch nicht einmal irgendeine Bundeswehrdienststelle angefragt oder informiert. Nur wir von der Mordkommission wussten davon. Noch nicht mal der Dezernatsleiter. Aber ich habe damit jetzt nichts mehr am Hut. Den hast du jetzt auf.« Hubi lachte und verabschiedete sich.

Quercher steckte sein Telefon in die Jackentasche und trat zurück in Pollingers Zimmer. Der schlief. Quercher war einen Moment unschlüssig. Er wollte einem Reflex folgen und Pollinger die Sache mit dem Soldaten erzählen, seine Meinung hören. Aber er ließ ihn schlafen, nahm den Zettel mit Sareiters Adresse vom Tisch und verließ leise den Raum.

Ein Pulk Ärzte kam den Gang herunter. Das Klinikum rechts der Isar war das Vorzeigekrankenhaus Münchens. Die Ärzte, die hier tätig waren, sahen sich, gleich welcher Fachrichtung, als Elite und gebärdeten sich auch so. Nirgendwo hatte Quercher je so eine stark ausgeprägte Form von Hierarchie erlebt wie unter Ärzten. Eine solche Hackordnung, die kleinen Gesten der Macht und das Ausspielen von Erfahrung und Rang, gab es in seinem Berufsstand schon lange nicht mehr. In der Mitte schritt der Chefarzt, den er kannte. Um ihn herum, wie eine Korona oder ein Schwarm Fliegen, je nach Sichtweise, folgten Ober- und Assistenzärzte. Dahinter, quasi die billige Nachhut bildend, die Famulanten, junge Studenten, die mit blassem Gesicht hofften, nicht vor Patienten und Ärzten vom Chef abgefragt zu werden.

»Herr Quercher, haben Sie einen Augenblick?« Professor Theiss, eine Koryphäe der Onkologie, hatte ihn erkannt. Pollinger besaß keine Verwandten mehr, und so hatte Quercher ihn damals in die Klinik gebracht. Mit einer Handbewegung wies Theiss seine Korona an weiterzugehen und begrüßte Quercher mit einem Lächeln. »Sie waren bei Herrn Dr. Pollinger?«

»Ja, war ich.«

»Gut, wir brauchen Ihre Hilfe. Herr Dr. Pollinger ist austherapiert. Das heißt nicht, dass er sterben wird. Wir haben bei der letzten Untersuchungsreihe keine Hinweise auf weitere Streuungen der Metastasen gefunden. Das ist gut, aber eher zu gut. Wir glauben nämlich nicht, dass ein Krebs in dieser Form und Größe einfach so verschwindet. Der Krebs hat sich, wenn Sie mir diese flapsige Ausdrucksweise gestatten, in die Büsche geschlagen und wartet. Wann er herauskommt, weiß man nicht. Da kommen Sie ins Spiel. Sie können uns und Dr. Pollinger helfen …«

Quercher fühlte sich immer unwohl, wenn er so freundlich in die Pflicht genommen wurde.

»… keine Angst. Sie müssen nicht die Pflege übernehmen. Dr. Pollinger wird in eines unserer Partnerzentren in Oberbayern verlegt. Wir glauben, dass er in der Gegend, die ihm wohl schon immer gut gefallen hat, am besten aufgehoben ist. Er wird in ein Rehazentrum übersiedeln. Aber mir ist wichtig, dass er dort nicht vereinsamt.«

Quercher atmete schwer aus. »Herr Professor, Sie haben meine Telefonnummer. Sie oder Ihre Leute können mich jederzeit anrufen. Ich werde Ferdi Pollinger abholen, wann immer …« Der Professor nickte und rauschte in das nächste Zimmer, wo seine Korona bereits auf ihn wartete.

Quercher ging den Flur entlang, wo sich vor einem Gemeinschaftsraum eine Traube gebildet hatte. Er hörte eine vertraute Stimme, blieb stehen, sah über zwei kleinwüchsige Schwesternschülerinnen aus Vietnam hinweg auf einen Fernseher, der sehr laut eingestellt war.

Eine Journalistin stand auf einer Wiese. Dahinter lag der Tegernsee. Quercher erkannte seine Heimat sofort. Die Frau hielt ein Mikro in der Hand und redete mit einem Mann. Einem Kollegen von Quercher. Das Gespräch war jetzt kaum zu verstehen. Ein Hubschrauber schien in der Nähe zu starten. Der Krach der Rotoren ließ die beiden verstummen. Die aufgewirbelte Luft wirbelte ihre Haare durcheinander. Am unteren Bildrand konnte Quercher lesen, warum die beiden auf der Wiese standen. Grauen kroch seinen Nacken empor.

Kapitel 4

Öd bei Gmund, 29. 04., 06:00 Uhr

»Die Erstkommunion hat in den Familien des katholischen Bayern einen hohen Stellenwert. Wenn die Kinder zum ersten Mal die Kommunion empfangen, ist dies für sie eine wichtige Station innerhalb ihres kirchlichen Lebens und auf dem Weg zu Gott. Sie gehen auf eine Reise. Eine Reise, auf der Jesus sie begleiten wird.«

Das waren die einleitenden Sätze des Pfarrers in seiner Einladung an die Eltern gewesen. Eine Woche zuvor, am Sonntag nach Ostern, waren im Tegernseer Tal die Kinder zur Kommunion geführt worden. Danach trafen sich die Familien zu einem ausgiebigen Essen in den örtlichen Wirtshäusern. Großeltern, Onkel, Tanten und enge Freunde überreichten den Kindern statt Geschenken Briefumschläge mit erheblichen Summen. In diesem Jahr hatte eine junge Gemeindereferentin die Idee gehabt, dass die Kinder dieses Geld für einen gemeinnützigen Zweck spenden konnten. Aber das taten nur fünf von zweiundachtzig Kindern aus dem Tal. Die anderen kauften sich lieber Trampoline, Spielekonsolen oder Kleidung. Diese fünf jedoch spendeten das Geld an eine Behinderteneinrichtung. Eine ältere Dame las davon in der Zeitung, war begeistert von der Großzügigkeit der Kinder und lud sie zu einem Tag auf einer Sommerrodelbahn ein. Damit der Ausflug auch eine erzieherische Komponente bekam, wurde ein junger Förster gebeten, mit den Kindern in der Morgendämmerung eine Exkursion in den Wald zu machen. Eines der Kinder wurde krank. Und so waren vier Kinder am frühen Morgen nicht zur Schule, sondern von der Gemeindereferentin Claudia Weber in einem VW-Kleinbus nach Öd, eine kleine Bauernsiedlung nördlich des Tegernsees, gefahren worden. Hier erstreckte sich auf vielen Hektar sowohl eine Rodelbahn als auch ein Klettergarten.

Um sechs Uhr parkte der weiße Kleinbus nach Angaben eines Zeugen, der mit seinem Wohnmobil auf dem großen Parkplatz übernachtet hatte, nicht weit von ihm. Der Zeuge sah nicht, wie der Wagen wegfuhr, da er sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine Mountainbiketour gemacht hatte. Um acht Uhr erreichte eine slowakische Kellnerin die Gaststätte unterhalb der Rodelbahn. Sie war sich sicher, dass nur das Wohnmobil des Mountainbikers auf dem Parkplatz stand. Der Förster, der aufgrund eines Wildunfalls an der nahen Bundesstraße nicht rechtzeitig zum Ödberg kommen konnte, besaß nicht die Handynummer der Referentin, um sie über seine Verspätung informieren zu können. Auf Höhe des Klettergartens sah er dann um circa halb neun den Körper. Er hielt ihn zunächst für Sperrmüll, eine Matratze, die ›wild‹ in den Wald gekippt worden war. Doch dann erkannte er, dass es sich um den an einen Baum gefesselten Körper einer Frau handelte. Sie war mit dem Bauch zum Baum fixiert worden. Es schien, als wolle sie den neunzig Zentimeter dicken Stamm der Fichte umarmen. Die Hose der Frau war heruntergezogen, der Pullover war über den Kopf geschoben, die Beine waren gespreizt worden. Er rief mehrmals, fühlte den Puls am Hals der Frau und rief dann sofort die Notrufnummer.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis der Notarzt sowie eine Streife der Polizei am Tatort erschienen. Der Arzt konnte nur noch den Tod der Frau feststellen. Die Polizei wiederum fand in der Hosentasche der Toten ein Handy. So konnte man schnell ihre Identität feststellen. Es war die Gemeindereferentin Claudia Weber aus dem wenige Kilometer entfernten Gmund.

In ihrer Wohnung trafen Polizeikollegen, die mögliche Angehörige informieren wollten, wenig später auf den Pfarrer Josef Winkel. Der Geistliche fragte die Polizisten nach dem Verbleib der Kinder. So konnte erst um 10:30 Uhr die größte Suchaktion, die das Tegernseer Tal je erlebt hatte, beginnen. Zwei Mädchen und zwei Jungen im Alter von neun und zehn Jahren waren wie vom Erdboden verschluckt. Um zwölf Uhr lief die Meldung im Radio. Zu diesem Zeitpunkt waren nur zwei der Elternpaare über das Schicksal ihrer Kinder informiert worden. Um dreizehn Uhr waren die ersten Satellitenübertragungswagen mit den großen Schüsseln auf dem Dach aus München am Ödberg eingetroffen. Ab vierzehn Uhr wurde dauerhaft auf allen Kanälen darüber berichtet. Vier Kinder waren entführt, die einzige Erwachsene vergewaltigt und bestialisch ermordet worden. Dies Thema schlug jede andere Meldung, die an diesem Tag in den Nachrichten bislang eine Rolle gespielt hatte. Für vier Familien aus dem Tegernseer Tal begann ein Sturz in den Abgrund.

Kapitel 5

München, 29. 04., 15:15 Uhr

Constanze Gerass nannte man die ›Maschine‹. Das hatte weniger mit ihrem Aussehen als vielmehr mit ihrer Wirkung zu tun. Seitdem Dr. Ferdinand Pollinger im Klinikum rechts der Isar gegen den Krebs und um sein Leben kämpfte, leitete sie kommissarisch das bayerische Landeskriminalamt. Ihr unterstanden die Bodyguards der Ministerpräsidenten, des aktuellen wie auch der gewesenen. Verdeckte Ermittler im Rockermilieu, bei den Nazis oder den Salafisten hörten auf sie, wie auch die Drogenfahnder und die Kriminaltechniker, die aufgrund der Analyse eines millimetergroßen Fadens einen Täter festnageln konnten. Das LKA war da, wenn es überregional und großkalibrig wurde. Wer diese Behörde leitete, konnte in dem entsprechenden Bundesland nicht mehr wirklich weiterkommen. Danach kam nur noch das Bundeskriminalamt.

Aber warum Fürstin in Wiesbaden, wenn man Königin in München war? Das dachte Constanze Gerass, als sie sich auf die erste große Lagebesprechung vorbereitete.

Vier Kinder waren verschwunden. Der Täter besaß, nach ersten Einschätzungen der Mordkommission vor Ort, ein Sexualmotiv. Die Vergewaltigung und der Tod der jungen Frau ließen darauf schließen. Die Leiche war schon auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Eigentlich wäre es ein üblicher Sexualmord gewesen. Vielleicht hätte das LKA mit Kriminaltechnik ausgeholfen. Aber mit dem Verschwinden der Kinder hatte das Verbrechen eine andere Dimension erreicht. Doch das allein hätte binnen weniger Stunden noch nicht diesen Aktionismus in allen ermittelnden Behörden erzeugt.

Vor ihr lag ein Schreiben aus der Staatskanzlei. Man wolle sicherstellen, hieß es darin, dass jede Führungskraft, die in die Ermittlungen eingebunden sei, die Bedeutung des Falls verdeutlicht bekäme:

1. der zehnjährige Lukas, Sohn des Eigentümers des Welde-Zeitschriftenverlags

2. die neunjährige Maria von Homstein, Enkelin eines Richters am Landgericht in München

3. die zehnjährige Mathilde, Tochter des Kunstschlossers Sepp Baumschneider aus Bad Wiessee

4. der neunjährige Laurenz, Sohn der alleinerziehenden Supermarktverkäuferin Gundel Viervogel

Man wolle darauf hinweisen, dass jeder noch so kleine Fehler unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit passiere.

Deutlicher konnte man im Frühstadium einer Ermittlung keinen Druck aufbauen. Dieses Schreiben war natürlich nur für den internen Dienstgebrauch klassifiziert worden. Der Information war eine Anweisung des Innenministers gefolgt. Das LKA würde die Ermittlungen mit einem eigenen Team und den Kollegen der Münchner Mordkommission übernehmen, nachdem man die Mordkommission Rosenheim von dem Fall abgezogen hatte.

Bei Taten mit prominenter Besetzung gab es selten mehr als einen Blumentopf zu gewinnen. Der Sohn eines Verlegers war so ein Fall. Der Vater hatte die Macht, jeden Tag die Arbeit der Ermittler öffentlich zu kritisieren und zu kommentieren. Man musste vielmehr die Verantwortung übernehmen, wenn einer der Ermittler etwas übersah oder gar eigenmächtig falsche Entscheidungen traf. Constanze Gerass dachte an einen Anruf ihres Vorgängers Pollinger. Der hatte sie gleich nach Bekanntwerden der Tat am Tegernsee kontaktiert, ihr wortreich erklärt, dass Max Quercher ein ganz hervorragender Kollege sei, vom See stamme und nach seinem Dafürhalten die Leitung der Ermittlungen übernehmen solle. Er wolle ihr aber auf gar keinen Fall in die Arbeit hineinpfuschen. Sie hatte sich freundlich für die Hilfe bedankt und schon beim Auflegen ihre Entscheidung gefällt.

Das Telefon klingelte. Ihr Vorzimmer. »Herr Quercher wäre da.«

»Bitten Sie ihn herein, Frau Naumann.«

Sie hatte ihn noch nie leibhaftig vor sich gehabt. Aber wirklich jeder, der ihr scheinbar oder wahrhaftig wohlwollend Tipps für das neue Amt gab, hatte sie vor Max Quercher gewarnt. ›Eigensinnig‹ war noch das Netteste, was sie gehört hatte. Er überragte sie um zwei Köpfe, bemühte sich aber, nicht zu ihr herunterzusehen. Kräftige Unterarme, ein breites Kreuz und ein etwas zu enges T-Shirt unter einer für sein Alter zu bunten Jacke zeugten von seinen Bemühungen, jung zu bleiben und vor allem zu wirken. Er trug Motorradboots und eine Cargohose. Wirklich ein chronischer Fall von Midlife Crisis. Sie bedeutete ihm, an einem Besprechungstisch Platz zu nehmen. Kaum saß er, kreuzte er seine Arme und steckte seine Hände unter die Achseln. Gerass lächelte innerlich über diese bockige Geste.

»Herr Quercher. Sie verstehen, dass die Zeit drängt. Die vermissten Kinder, der Mord …«

Er nickte. Ohne dass sie es bemerkte, hatte er Gerass von oben bis unten gemustert. Alles an ihr saß am richtigen Platz. Sie besaß keinerlei Ausstrahlung, war wie ein Leitz-Ordner. Sie war weder dick noch dünn. Die Haare hatten die Farbe einer vergilbten Tischdecke. Die Fingernägel waren mit farblosem Lack bemalt. Schmuck trug sie keinen. Quercher ordnete Menschen, die er kennenlernte, immer ein Lied zu. So merkte er sie sich besser. Ein Tick. Gerass war kein Song. Gerass war die Warteschleifenmusik eines Callcenters. Sie war einfach nur glatt und ohne Ecken. Aber dann entdeckte er eine kleine rote wunde Stelle an ihrem rechten Daumen. Constanze Gerass biss sich Wunden in den Finger.

Sie fuhr fort. »Dr. Pollinger bat mich, Sie auf diesen Fall anzusetzen. Mir ist seine Vorliebe für Ihre Arbeitsweise bekannt. Wir brauchen Kollegen wie Sie hier in unserem Amt. Noch einmal: Ich weiß von Ihren Erfolgen aus dem letzten Winter. Auch sind mir Ihre Methoden geläufig. Das ist nicht jedermanns Sache. Ich glaube, dass wir bei diesem diffizilen Zusammenspiel der verschiedenen Stellen eine, sagen wir, kompromissbereite und teamorientierte Person benötigen. Damit will ich Ihre fachliche Qualität nicht infrage stellen. Aber der Leiter der Münchener Mordkommission, Langschneidner, bat mich, dass wir den Fall des KSK-Soldaten aus der Kläranlage übernehmen. Ich denke, dass Sie mit Ihrer internationalen Erfahrung hierfür deutlich besser geeignet sind. Die KSK-Einheiten arbeiten nun seit geraumer Zeit in Afghanistan und Sie haben da einige Erfahrungen …«

Quercher hob die Augenbrauen. »Ich war noch nie in Afghanistan.«

Gerass lächelte schmal. »Ich weiß. Aber Ihre jahrelange Arbeit als verdeckter Ermittler im arabisch-islamistischen Milieu könnte ja von Nutzen sein, nicht wahr?«

Gerass wollte Quercher aus dem Büro haben. Er spürte das. Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Und jetzt wollte sie sich der Entführung der Kinder und der baldig einberufenen Pressekonferenz widmen. Vorher musste sie in einer Lagebesprechung auf den neuesten Stand gebracht werden. Quercher war jetzt gerade eine Bremse.

»Vielleicht hat der Mord ja etwas mit der Tätigkeit des Ermordeten in Kunduz zu tun? Um es kurz zu machen: Beginnen Sie bitte mit den Ermittlungen.«

»Deswegen sind die Typen vom Militärischen Abschirmdienst im Haus?«

Gerass nickte. »Ja, die Kollegen haben die Identität zweifelsfrei feststellen können. Es handelt sich um Oberleutnant Stefan Denke. Er war vor seiner Zeit beim KSK in einem Fernspäherregiment in Hessen stationiert. Ich teile Ihnen einen Kollegen zu, den Sie sicherlich gut gebrauchen können.«

Quercher war klar, warum Gerass ihn nicht mit dem Fall der entführten Kinder beauftragen wollte: Er kannte ihre Familien. Denn er kam aus dem Tal. Er war nicht für konventionelle Methoden bekannt. All das bedeutete für jemanden wie diese Karrieristin zu viel Risiko. Sie fürchtete, dass er Fehler machen würde und sie letztlich diesen Fehler verantworten müsste.

Sie konnte nicht ahnen, dass er erleichtert war. Anke, seine Schwester aus Bad Wiessee, hatte ihn angerufen, als er auf dem Weg zum LKA gewesen war. Eine der Vermissten war eine Spielkameradin ihrer Tochter Maxima, Querchers Nichte. Erst weinend, dann schreiend und zuletzt flehend hatte sie ihn gebeten, den Fall zu übernehmen. Er hatte sie vertröstet. Hatte behauptet, dass er auf die Auswahl des Ermittlerteams keinen Einfluss habe. Und Gerass spielte ihm nun in die Karten. Es war keine Angst vor Verantwortung. Aber Quercher wusste selbst, dass er kein guter Teamplayer war. Schon jetzt waren zu viele Parteien an dem Fall beteiligt. Und es war noch nicht einmal ein halber Tag seit dem Fund der toten Erzieherin vergangen. Er hatte im Lagezentrum kurz in eine Besprechung hineinhören können. Der Sicherheitsdienst des Verlegers hatte sich bereits gemeldet. Ein ehemaliger BKA-Kollege führte die dortige Truppe. Das Innenministerium hatte einen ständigen Beobachter geschickt. Dazu die Mordkommission aus Rosenheim, die sich natürlich nicht die Fäden aus der Hand nehmen lassen wollte, aber schon jetzt rasiert worden war. Es war ein einziger Kompetenzkampf. Er wusste, dass er mit diesem Fall sich und andere überforderte. Das zumindest redete er sich wie ein Mantra ein.

»Wer hat die Leitung in diesem Fall?«, fragte er leise nach.

»Fritz Gaugenrieder und Julia Dahmer. Sie haben beide schon zusammen in einem ähnlichen Fall gearbeitet, sind mit Sexualstraftaten von Psychopathen vertraut. Gaugenrieder hat langjährige Erfahrung als Profiler.«

Gerass sah auf die Uhr und Quercher erhob sich. Er war, ohne dass sie es wissen konnte, zufrieden. Als er die Tür öffnete, rannte er fast in einen Pulk von wartenden Kollegen, allesamt Leiter diverser Abteilungen im Haus. Dahinter ragte die hagere Erscheinung des Oberstaatsanwaltes Landwehr heraus. Gaugenrieder und Dahmer waren auch dabei. Quercher grüßte und bekam ein Murmeln zur Antwort. Dann sah er Gaugenrieder, der ihm zuzwinkerte. Die Situation hatte etwas von einem Direktorenzimmer einer Schule.

»Frau Direktorin holt den Rohrstock raus, wenn ihr nicht artig grüßt«, kommentierte Quercher prompt.

Lachen von Gaugenrieder, der Quercher im Vorbeigehen in die Seite stieß, Stöhnen von den anderen, ein eisiger Blick von Dahmer – dann stand er vor der Tür. Pollinger hatte seine Leute nie zu sich geholt. Er war hinunter in die Büros gekommen. Aber das war wohl jetzt vorbei.

Gaugenrieder war die richtige Wahl. Quercher kannte ihn gut. Ein unfassbar dicker, aber blitzgescheiter Niederbayer. Galt intern als menschliches Raumspray. Wo immer Stress oder Streit aufkam, konnte Gaugenrieder mit schalen Kalauern und selbstironischen Bemerkungen die Stimmung normalisieren. Mehrere Geiselnahmen hatte ›Moby‹, wie seine Kollegen ihn nannten, auf charmante und unblutige Weise gelöst.

Die Dahmer kannte Quercher auch. Sehr genau sogar. Sie hatte lange bei der Sitte gearbeitet, war für eine Reihe Razzien im Industriegebiet Nord verantwortlich, wo sie mehrere Prominente hatte hochgehen lassen. Gute Frau. Zu dumm, dass er auf einem Sommerfest mit ihr als Letzter geblieben war und sie es in seinem Benz getrieben hatten. Sie hatte mehr gewollt. Er nicht. Wie immer. Ein unlösbares Problem. Daraufhin hatte sie vor zwei Jahren einen kleinen Auftritt in der LKA-Kantine hingelegt und ihn mit Apfelsaft übergossen.

Gerass begrüßte den Staatsanwalt freundlich, die anderen formell, aber höflich. »Bitte, Herr Landwehr. Die Kollegen geben uns eine Übersicht. Herr Gaugenrieder, Frau Dahmer. Was haben wir bislang?« Gerass sparte sich jede Form der herzlichen Ansprache. Sie wollte mit ihrer sachlichen Art jedem Zweifel hinsichtlich ihrer Amtsfähigkeit von vornherein die Luft abdrehen.

Dahmer begann, hielt aber inne und sah kurz zu Gaugenrieder, der nur die Hand hob und sie somit aufforderte, weiterzumachen. »Die Lage: Vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Buben, sind im Ort Ostin am dortigen Ödberg verschwunden. Zwei von ihnen sind neun, zwei bereits zehn Jahre alt. Angaben zu den Kindern, Herkunft, Vorlieben, Krankheiten et cetera stehen in diesem Dossier. Wir gehen derzeit von zwei Szenarien aus.« Sie räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und sah über den Rand des Glases zu Gerass, deren Gesicht Ungeduld verriet. »Erstens: Die Kinder wurden entführt und an einen anderen Ort gebracht. Vier Kinder, vielleicht weinend und schreiend, fallen auf. Deshalb glauben wir, dass der oder die Täter sie an einen Ort in der Region verbringen werden, um genau das zu vermeiden.« Sie teilte an die Kollegen und an Gerass eine noch dünne blaue Mappe aus, ehe sie fortfuhr. »Zweites Szenario: Die Kinder wurden kurz nach der Entführung getötet und in der Nähe verscharrt.«

Gerass stöhnte leise auf.

»Mehrere Hundestaffeln von uns, von Privatpersonen wie Jägern und Förstern sowie zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei durchkämmen den gesamten angrenzenden Wald. Wir setzen auch Leichenspürhunde ein. Die Gegend da oben ist ein zusammenhängendes Areal. Die Suche wird bis zum Abend noch einmal mit zwei Hubschraubern der Bundespolizei verstärkt. Diese werden bei Einbruch der Dunkelheit mit Wärmebildkameras weitersuchen. Ebenfalls verschwunden ist der Wagen, mit dem die Kinder zu dieser Rodelbahn gefahren wurden. Ein weißer VW-Kleinbus mit neun Sitzen. Fahndung ist draußen, angesichts der Nähe zur österreichischen Grenze sind die Kollegen sowohl in Österreich und Slowenien als auch in Italien, der Schweiz und Frankreich informiert. Um kurz nach acht heute früh war der Bus nicht mehr da. Die erste Fahndung nach dem Fahrzeug ging um elf Uhr an die Dienststellen, um zwölf Uhr wurde sie auf das benachbarte Ausland erweitert. Sollten die oder der Täter den Bus für die Entführung genutzt haben, sind sie uns vermutlich drei, vielleicht sogar vier Stunden voraus. Zeit genug, das Bundesland zu verlassen. Wir haben alle Nachrichtensender gebeten, das Foto des Wagens in ihre Sendungen aufzunehmen und die Zuschauer hinsichtlich auffälliger Beobachtungen zu sensibilisieren. Bislang haben sich nur die üblichen Spinner gemeldet: Wahrsager, Wichtigtuer und Spaßvögel.« Kriminaloberrätin Dahmer machte eine Pause.

Gerass nickte. »Was gibt es zu der toten Erzieherin?«

Dahmer stockte. Sie war noch nicht ganz fertig mit ihren Ausführungen zu den Kindern, wollte noch etwas von der Betreuung der Angehörigen sagen. Aber sie verstand. Gerass wollte auf der Pressekonferenz die wichtigsten Fakten vorstellen. Das Drumherum würde sie ihren Mitarbeitern überlassen.

»Die Fakten zu der Toten: Opfer ist die zweiunddreißigjährige Gemeindereferentin Claudia Weber. Sie wurde, basierend auf Zeugenaussagen und der ersten Sichtung durch den Rechtsmediziner, zwischen sechs und acht Uhr an einen Baum gefesselt. Der Tatort liegt in einem Waldstück östlich der Sommerrodelbahn Ödberg. Die Frau wurde mit dem Gesicht zum Baum fixiert. Mit einem Kabel wurden ihre Daumen zusammengebunden und an eine Schlinge um ihren Hals verknotet. Jede Bewegung der Hände hatte zur Folge, dass sie keine Luft mehr bekam. Der oder die Täter haben sie dann entkleidet, sind sowohl anal als auch vaginal eingedrungen. Spermaspuren wurden sowohl im als auch am Körper gefunden. Nach dem ersten Befund des Rechtsmediziners vor Ort ist die Frau erstickt. Der Tod trat nach einer ersten Schätzung kurz nach acht Uhr ein. Die Spurensicherung hat den Tatort weiträumig abgesperrt. Allerdings wurde eine Wandergruppe von Senioren durch das Rufen des Försters, der die Leiche fand, an den Tatort geführt. Vierzehn alte Herrschaften haben dort wirklich jede Spur einmal umgewühlt. Nur mit weiteren Kräften der Polizei Miesbach konnten die Herren und Damen aus Osnabrück vom Tatort verbracht werden.«

Gerass unterbrach: »Ist das Zufall, dass der Förster erst später kam? Denn sonst wäre ja vermutlich alles anders gelaufen?«

Dahmer atmete tief ein. »Wir haben seine Angaben überprüft. Es ist wirklich ein Wildunfall geschehen. Der Wagen eines holländischen Urlaubers kollidierte auf dem Weg nach Österreich mit einem Rehbock. Eine Streife der Dienststelle Bad Wiessee informierte den Förster. Der war dann bis acht Uhr mit dem Kollegen zusammen, der den Wildschaden aufnahm. Das Tier musste getötet und abtransportiert werden. Der Mann hat somit ein Eins-a-Alibi.«

Gerass hakte nicht weiter nach und wandte sich wieder dem Fall der getöteten Erzieherin zu. »Spuren?«

Dahmer nickte. »Ja, aber keine offensichtlichen und sofort verwertbaren Spuren. Für uns stellt es sich für den jetzigen Moment wie folgt dar: Der oder die Täter warteten auf die Gruppe, fesselten die Erzieherin, zwangen die Kinder in den Bus, vergewaltigten die Frau und fuhren danach mit dem Bus und den Kindern vom Parkplatz.«

»Warum die Vergewaltigung? Oder anders: Warum entführt man und vergewaltigt und tötet vorher? Das gibt doch keinen Sinn.«

Dahmer hob die Schultern. »Vielleicht blieb ein Täter am Tatort, während der andere die Kinder wegbrachte. Vielleicht hat die Vergewaltigung vor den Kindern stattgefunden. Es ist nach meinem Dafürhalten zu früh, über den Modus zu sprechen.«

Gerass konnte den unterschwelligen Vorwurf nachvollziehen: Sieben Stunden nach der Tat war es wirklich noch viel zu früh, um über den Tathergang zu spekulieren. Das würde sie auch gleich den Vertretern der Presse sagen.

»Gut, so weit. Herr Landwehr? Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?«

Der schüttelte den Kopf.

»Dann gehen wir mal. Frau Dahmer und Herr Gaugenrieder begleiten mich.«

Je näher Quercher seinem Büro entgegenhumpelte, desto lauter wurde der Krach. Kaum öffnete er die Tür, quoll ihm ein unfassbarer Lärm entgegen. Irgendjemand hatte in seine Dockingstation ein Smartphone eingesetzt und ließ Speed Metal der übelsten Sorte laufen. In dieser Tinnitushölle befanden sich ein Hells Angel und ein Bundeswehroffizier. Der Rocker fläzte sich auf Querchers Stuhl und hatte die Beine auf den Tisch gelegt. Er trug eine schwarze Lederhose, eine mit Stickern übersäte Jeansweste und schwere Boots. Links neben ihm stand der Soldat in einer schlecht sitzenden, grauen Ausgehuniform. Auf dem Kopf trug er ein rotes Barett. Der Sitzende war ZZ Top, der Stehende ein schlecht gespielter Zapfenstreich, dachte Quercher sein Musikspiel durch. Die einzige optische Gemeinsamkeit der beiden bestand im Fehlen der Kopfbehaarung.

Mit einer schnellen Handbewegung fegte Quercher das Smartphone aus der Station. »Guten Tag, ich bin noch im Urlaub. Deswegen bin ich milde. Was machen Sie in meinem Büro? Wer hat Sie hier hereingelassen? Und wer hört so eine Scheißmucke?«

Prompt antwortete der Soldat zuerst. »Guten Tag, Oberleutnant Brindöpke. Ich bin hier in der Angelegenheit Denke.«

Quercher nickte. »Direkt von unseren engen Freunden des Militärischen Abschirmdienstes.«

Der Soldat schüttelte den Kopf und sah gequält zu dem Rocker, der das amüsiert zur Kenntnis nahm. »Nein, ich bin Feldjäger, in diesem Fall lediglich abkommandiert von meiner Dienststelle.«

Der Rocker grinste. »Äh, und ich bin vom Talibanmusikdienst aus Kunduz in Afghanistan. Ich dachte, die Musik fände hier Freunde.«

Quercher ahnte Schlimmes. »Nicht witzig, DJ-Trottel.«

Beruhigend hob der Rocker die Hand. »Ich bin Hanno vom Dezernat 62. Unser Mäuschen da oben schickt mich. Du kannst bei dem Toten aus der Sickergrube Hilfe gebrauchen. Also bin ich hier. Habe schon ein wenig die Akten sortiert und studiert.«

Das Dezernat 62 war zuständig für die organisierte Kriminalität, kurz OK genannt. Quercher kannte die sonderbaren Typen dieser Truppe. Dieses Exemplar schien sich auf Motorradgangs spezialisiert zu haben und hielt Quercher die Faust hin, die er wohl mit seiner Faust abschlagen sollte.

Quercher verdrehte die Augen. »Hey, Hanno, Easy Rider war gestern. Du bist aus der Mode. Und steh von meinem Platz auf. Solche Verrenkungen darfst du im Bikerklub Obergiesing machen.«

Quercher wies den Oberleutnant auf einen Stuhl an der Wand, ließ den Rockerkollegen auf der Fensterbank Platz nehmen und setzte sich an seinen Schreibtisch, ehe er begann: »Also, ich bin wie gesagt noch im Urlaub und werde erst morgen mit der Arbeit zu Herrn Denke beginnen. Wir drei Hübschen werden uns morgen …«, Quercher sah zu Hanno, »… frisch geduscht hier einfinden und unsere Ergebnisse zusammentragen. So wie ich es sehe, sind wir alle froh, wenn sich der Fall schnellstmöglich aufklärt und wir wieder in unsere angestammten Biotope zurückkehren.«

Brindöpke sprach leise. Aber von der ersten Silbe an wusste jeder, dass dieser Mann nur dank seiner Uniform täppisch erschien. »Lieber Herr Quercher, ich bin nicht an Ihren Erholungszeiten interessiert. Der Fall Denke ist kein Resultat einer Wirtshausschlägerei unter inzestuösen Oberbayern um die erste Nacht mit der eigenen Schwester. Oberleutnant Denke war ein Veteran. Das wird Ihnen kein Begriff sein. Aber wenn Sie beide hier irgendwann einmal in Ihrem kümmerlichen Wachtmeisterleben das Wort ›Elite‹ aufgeschnappt haben: Auf diesen Mann traf es zu. Morgen, Punkt sieben, bin ich hier. Und glauben Sie mir, ich bin mein ganzes Leben mit Hampelmännern wie Ihnen beiden konfrontiert worden. Wenn Sie wissen wollen, wer den Oberleutnant getötet hat, müssen Sie ihn verstehen. Das wird Ihnen sicherlich nur schwer gelingen. Aber wenn Sie artig sind, helfe ich dabei. Und jetzt etwas zum Mitschreiben, so Sie das beherrschen: Ich beurteile die Scheiße, nicht den Geruch der Scheiße. Schönen Abend.«

Kapitel 6

Ostin, Tegernsee, 29. 04., 20:17 Uhr

»Die objektiv wichtigste Nachricht steht in den Sendungen nicht immer auf dem ersten Platz. Objektive Wichtigkeit ist nicht das Kriterium. Wenn die Welt nur Finanzkrisen und Bilder von Verhungerten zu bieten hat, wird man in Nachrichtenredaktionen nervös. Immer die gleichen Bilder. Da hilft ein Amoklauf. Eine Geiselnahme. Oder ein drohender Hurrikan. Das verspricht Blaulichtbilder. Und Bilder sind das entscheidende Kriterium. Im Boulevardfernsehen gelten die vier großen Ts als Erfolgs- und Quotengarant: T wie Titten, Tiere, Tränen und Tote.«

Diese Binsen plauderte ein Medienwissenschaftler in einem Interview aus. Quercher verzog das Gesicht und schaltete das Autoradio aus. Die Kinder von Ostin – so nannten die Journalisten den Fall. Auf dem Heimweg ahnte er, dass angesichts der ansonsten langweiligen Nachrichtenlage dieser Fall das Topthema wäre. Als er in das Tegernseer Tal zurückfuhr, sah er auf Höhe von Moosrain nur die riesigen Lichtmasten des Technischen Hilfswerks am Hang des Ödbergs. Er sah auch das spezielle Licht der TV-Kameras.

Statt in Gmund nach rechts Richtung Bad Wiessee abzubiegen, fuhr er geradeaus. Die Sonne ging hinter den Bergen über Wiessee unter. Goldschlieren schimmerten über dem See. Ohne Menschen wäre das Tal ein wahres Paradies, dachte Quercher. Aber das schloss auch ihn ein. Er lächelte über seinen dämlichen Gedanken.

Wenig später tauchten links und rechts der Straße, die aus dem Tal hinausführte, gigantische Trucks mit Satellitenschüsseln auf dem Dach auf. Dann erblickte Quercher die Meute: Reporter mit ihren bunten Mikrofonschützern, den viel zu großen Thermojacken mit Senderlogo, dem grellen Make-up im Gesicht und nichts wissend, aber immer redend. Ihm fielen Bilder von Kuhfladen und umhersummenden Fliegen ein. Er erkannte die professionell geschulten Kollegen der Polizeipressestelle, die ruhig und geduldig noch die dümmste Frage beantworteten. Immer bedacht, die Situation mit den nach Neuem gierenden Journalisten unter Kontrolle zu halten.

Kurz hinter einer Kuppe war die Straße gesperrt. Niemand sollte zu nah an den Tatort herankommen. Jede noch so kleine Spur konnte von Relevanz sein. Und niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, ob nicht vielleicht die Kinder in nächster Nähe aufgefunden werden würden – tot. Diese Bilder wären dann live zu sehen. Bevor irgendjemand die Eltern benachrichtigt hätte.

Quercher fuhr langsam an die Sperre heran. Lumpi sah in die verdutzt blickenden Gesichter der Journalisten, die aus purer Verzweiflung jedes Auto, das auf der Straße fuhr, filmten, und knurrte. Der Hund hatte Geschmack.

Die Polizisten am Ortseingang Ostin schauten misstrauisch zu dem zerbeulten alten Mercedes Kombi hinüber. Da die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, leuchtete ein junger Kollege in Querchers Wagen. Der hielt ihm wortlos seinen Dienstausweis vor die Nase. Das Einsatzzentrum war in einem kleinen Hotel kurz vor der Einfahrt zur Rodelbahn eingerichtet worden. Quercher wurde auf einen Parkplatz hinter dem Haus geleitet. Er ließ Lumpi aus dem Wagen, die sofort begann, die Umgebung zu beschnuppern. Für Außenstehende wirkte alles chaotisch. Gruppen von Hundeführern standen mit ihren müden Tieren zusammen und rauchten. Aus einem Lkw des Technischen Hilfswerks wurde eine mobile Küche für die Versorgung der Suchtrupps aufgebaut. Männer fluchten und rannten scheinbar hektisch umher.

Quercher beobachtete Gaugenrieder und Dahmer im Gespräch mit einem Einsatzleiter der Bereitschaftspolizei, kurz BePo genannt. Dahmer entdeckte Quercher, legte entschuldigend die Hand auf die Schulter des Kollegen der BePo und kam mit großen Schritten auf Quercher zu. Lumpi erkannte die Frau und sprang ihr entgegen. Doch Dahmer trat nach ihr, sodass sich die Schweißhündin erschrocken abwandte. Quercher blickte die Kollegin gelassen an.

»Was willst du hier? Das ist nicht dein Ding! Oder willst du dich mit deiner Dreckstöle an der Suche beteiligen?« Dahmer schrie fast. Kollegen drehten sich um, verfolgten das kleine Spektakel. Nichts war schöner für einfache Polizisten, als einen Streit der LKA-Kollegen aus der Ferne zu verfolgen.

»Julia, fahr mal runter. Ich wohne in Wiessee, kenne die Gegend. Vielleicht kann ich euch ja helfen. Und die Lumpi hast du mal sehr gemocht. Können wir das Private …?«

»Verpiss dich, kauf dir morgen eine Zeitung, hör Radio! Dann bist du informiert. Oder willst du bei deinen Eingeborenen im Tal Punkte sammeln?«

Quercher zog hörbar die Luft ein.

Gaugenrieder tauchte hinter Dahmer auf, begrüßte Lumpi, gab ihr ein Stück Bratwurst und hob beschwichtigend die Hände hinter dem Rücken seiner Kollegin. »Der Quercher. Wo hast du die Kinder versteckt?«

Quercher grinste.

Gaugenrieder sah zu Dahmer: »Julia, lass mich mit dem Tegernseetaliban mal ein paar Takte reden.«

Sie sah ihn wütend an, wollte etwas sagen, ging aber schweigend zurück zu ihrem Kollegen von der BePo.

»Was habt ihr?«, fragte Quercher.

»Komm, wir gehen ein paar Schritte. Das Beißholz muss uns nicht beim Quatschen zusehen.«

Sie schlängelten sich an Grüppchen von Helfern vorbei und setzten sich auf einen Stapel Reifen, der sich neben der Wand einer Garage befand. Ein kühler Wind wehte die abgestandene Luft des warmen Frühlingstages weg. Gaugenrieder zündete sich eine Zigarette an.

»Du rauchst noch?«, fragte Quercher und schaute grinsend auf den gigantischen Bauch des Kollegen.

»Sind wir verheiratet?«

»Mir geht es doch nur um dein Überleben. Oder sollen nur noch die Julias und Gerasses dieser Welt das Sagen haben?«

Gaugenrieder zog heftig an seiner Zigarette. »Der Wagen ist schlicht vom Erdboden verschluckt. Es gibt bislang nicht eine halbwegs ordentliche Spur. Niemand hat den Bus im Morgenverkehr gesehen. Verwertbare Spuren sind bis auf den Tatort des Mordes kaum vorhanden. Die Kinder sind wie weggeflogen. Wir selektieren jetzt die Fußspuren der Rentner und des Försters. Damit wir unter Umständen die Abdrücke der Täter bekommen. Aber das dauert. Wenn sie im Wald sind, finden wir sie auch. Da ist schon jetzt jede kleine Hütte überprüft worden. In jedem Hochstand, jeder Senke und selbst in den Baumwipfeln wird gesucht. Viel Zeit bleibt uns nicht. Übermorgen ist der erste Mai. Es soll warm werden. Ganz München wird hier herausströmen. Da oben liegt das Neureuthhaus, das Ausflugsziel der Tagestouristen. Den gesamten Wald können wir nicht absperren. Warum auch? Vermutlich haben die Täter die Kinder in den Bus gepackt und sind über alle Berge. Das hier dient lediglich den Bildern.«

Quercher wusste, was Gaugenrieder meinte. Die Ermittler mussten Aktivität nach außen zeigen. Dazu braucht es als Beleg eben TV-Bilder.

»Und wenn der Mord nur als Vertuschung gedacht war? Wenn beispielsweise der Vater eines Kindes Feinde hat? Erpressung?«

»Ja, liegt auch in unseren Erwägungen. Wir durchleuchten die Familien der Kinder. Aber betreibst du so einen Aufwand, wenn du lediglich ein einziges Kind entführen willst? Zumal du dann ja auch vier Kinder versorgen musst. Es sei denn, du tötest drei!« Gaugenrieder blies den Rauch seiner Zigarette von Quercher weg und kraulte Lumpi, die erwartungsvoll vor ihm saß.

»Kommst du mit Julia klar?«

Gaugenrieder grinste. »Ja, weil ich meine Finger von ihr lasse.«

Quercher verdrehte die Augen. »Meine Güte, soll ich weiter in Sack und Asche herumlaufen? Das ist verdammte zwei Jahre her. Ich bin doch kein Heiratsschwindler.«

Gaugenrieder schlug ihm auf die Schulter. »Iss nicht, wo du scheißt. Weiß sogar dein Hund. Was ist mit deinem Fall? Hab gehört, du watest in Scheiße?«

Quercher grinste. »Na ja, ein KSK-Soldat wurde tot in der Kläranlage gefunden. Er war gefesselt. Klingt nicht nach Suizid. Am Tatort lag ein Amulett mit einer Sure. Mehr gibt’s noch nicht. Man hat mir ein illustres Team auf die Nase gedrückt. Einen Feldjäger, der aber irgendwie zum Militärischen Abschirmdienst gehört. Und einen Hanno aus dem 62er-Dezernat. Kennst du den?«

Gaugenrieder zog seine Augenbrauen nach oben und pfiff leise durch die Zähne. »Unterschätz den nicht. Der war vier Jahre verdeckt bei den Hells Angels. Dann haben die Kollegen zwei Chapter aufgrund seiner Aussagen hochgenommen. Pollinger hat ihm eine neue Identität angeboten. Wollte er nicht. Zwei Mal haben sie ihm das Auto abgefackelt, den Hund vergiftet und Hanno sogar auf der Autobahn von der Straße gedrängt. Auf ihn ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Hat ein inhaftierter Rockerchef ausgelobt. Eine Million, wie ich hörte. Hanno ist also Gold wert. Wenn du mal Geld brauchst, einfach in der JVA anrufen und sagen, du hättest da eine Idee. Der kommt bald in ein Austauschprogramm mit dem FBI.«

Quercher lächelte breit. »Wenn ich etwas für euch tun kann, melde dich.«

»Ja, heirate die Dahmer.«

Quercher machte eine Fratze und schüttelte sich.

»Sag mal«, fragte Gaugenrieder, als Quercher sich erhob, »lebst du jetzt wirklich mit Arzu Nishali zusammen?«

Quercher ging wortlos zu seinem Auto. Er war froh, diesen Albtraum nicht aufklären zu müssen. Es war bereits Nacht, als er um den See herum nach Hause zurückfuhr. Die wenigen Minuten der Stille im Auto, nur von Lumpis Schlackern der Ohren unterbrochen, genoss er. Ein Gewitter zog über die Berge. Die Tropfen klatschten auf das Autodach und er musste mehrfach gegen das Aquaplaning ansteuern.

Quercher war klar, dass nicht nur Arzu mit dem Schreihals, sondern sicher auch seine Schwester in seinem Haus auf ihn warten würde. Und tatsächlich: Im Scheinwerferlicht sah er Anke mit einem Ehepaar. Alle rauchten unter dem Vordach. Quercher stieg aus, zog den Kopf ein und grüßte knapp. Seine Schwester warf die Zigarette in eine Pfütze und schoss mit einem Mann auf ihn zu. Die Ruhe war vorbei.

»Guten Abend, Herr Quercher. Ich bin der Baumschneider Sepp. Der Vater von der Mathilde, die sie entführt haben. Die Anke hat uns gesagt, dass Sie …« Er stockte, sein Mut verließ ihn. Das lag nicht zuletzt an Querchers Blick, den dieser seiner Schwester schenkte. Die wenigen Haare des Mannes lagen platt und in Strähnen über seiner Stirn. Der Regen lief über seinen Kopf.

Quercher blieb stehen und sah ihn bewusst fest an. »Es tut mir leid, Herr Baumschneider. Ich kann Ihre Angst verstehen. Aber ich kann Ihnen nicht mehr berichten, als die Kollegen Ihnen gesagt haben. Ich bin sicher, dass man sich intensiv um Sie kümmert. Es wird derzeit alles getan, um die Kinder zu finden.«

Quercher hörte sich selbst reden. Er war erstaunt, wie leicht ihm die Plattitüden der offiziellen Polizeistellungnahme über die Lippen kamen. Aber was hätte er diesem Mann im Regen sagen können? Wer bereit war, eine Frau zu fesseln und sie vermutlich vor den Augen der Kinder zu vergewaltigen und zu töten, der würde den Kindern wohl kaum eine Gutenachtgeschichte vorlesen. Sollte er Baumschneider und Anke sagen, dass die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend waren, weil die Spuren noch verwertbar, die Chance, dass die Täter auf der Flucht in eine Kontrolle gerieten, noch groß genug waren? Dass, wenn die Eltern morgen aufwachen würden, die Chancen sehr viel niedriger wären? Vier Kinder in den Händen eines Psychopathen – das war nicht nur ein Albtraum. Das war nicht enden wollendes Grauen.

Intuitiv legte Quercher dem Mann die Hand auf den Arm und flüsterte fast: »Wir kriegen sie.«

Es sagte es nicht, weil er es glaubte. Er sagte es, weil er das verzweifelte Gesicht von Mathildes Vater nicht mehr länger ertragen konnte. Wortlos ging er an Anke und der Mutter vorbei.

Arzu saß in der Küche und fütterte ihren Sohn. Quercher nickte ihr zu, öffnete die Kühlschranktür, nahm sich ein Bier und trank mit einem langen Schluck. Er hörte, wie Anke das Paar mit tröstenden Worten verabschiedete.

Arzu sah ihn an und sagte nur: »Schöne Scheiße.«

Er nickte und trank erneut.

»Geht es noch unsensibler? Die beiden sind völlig verzweifelt.« Anke stand zitternd vor ihm. Regen tropfte von ihrer Jacke auf den Küchenboden. Sie konnte ihre Wut kaum zügeln. »Du hättest den Baumschneiders etwas mehr Hoffnung geben können. Das ist dein verdammter Job! Auch deine Nichte hätte dabei sein können, wenn sie nicht mit Fieber im Bett gelegen hätte. Sie hatte nämlich auch ihr ganzes Kommuniongeld gespendet. Und wärst du dann auch der coole Bulle? ›Ey, die Kollegen machen ihre Arbeit‹«, äffte sie ihn nach.

Er hörte sich die Suada an, ehe es auch aus ihm herausbrach. »Hast du mit mir bei denen angegeben? Mein Bruder, der Supercop? Der alles weiß, der euch vorher informieren wird? Was soll die Scheiße? Anke, ich bin nicht in den Fall involviert. Das sind meine Kollegen. Und ich würde da niemals herumstochern. Und weißt du, warum? Weil ich das auch scheiße finden würde, wenn ein anderer Kollege in meinen Ermittlungen herumschnüffeln würde. Ich bin kein Spezialist für Entführungen.«

Anke sah ihren Bruder mit einer Mischung aus Verzweiflung und Verachtung an. »Wenn es eng wurde, hast du dich immer verpisst. Immer schön geflüchtet. Bloß kein Risiko für andere. Schön, wenn man keine Verantwortung übernimmt. Servus.« Sie drehte sich wortlos um und verschwand im Regen zu ihrem Auto, das in der Hauseinfahrt stand.

Arzu wischte den Mund des kleinen Alis ab, hob ihn aus dem Hochstuhl und legte ihn sich auf die Schulter. Sie sah Quercher an, der den Kopf schüttelte.

»Was?«, fragte Quercher aggressiv.

Arzu lächelte und hob abwehrend die Hände. »Ich bin auf deiner Seite. Also keif mich nicht an. Aber vielleicht versuchst du, sie zu verstehen. Sie wollte helfen. Jemandem sein Kind wegzunehmen, ist so grauenhaft, dass Menschen ohne Kind es kaum nachvollziehen können. Und das ist kein Vorwurf. Ich hätte es vor wenigen Monaten auch nicht verstanden.«

»Ich habe die Kinder nicht weggenommen!«, rief Quercher trotzig, wohl wissend, wie unlogisch seine Worte waren.

Sie hörten, dass der Motor von Ankes Auto nicht ansprang. Heulend zündete er, aber startete nicht. Quercher verdrehte die Augen.

Arzu hielt ihm Ali hin. »Ich geh raus und helfe ihr!«

Quercher sah den Jungen an, stellte die Bierflasche auf die Anrichte und murmelte dem Säugling zu: »Eins kann ich dir sagen, mein Freund: Frauen sind vor allem Menschen mit Menstruationshintergrund.«

Draußen hatte sich der Regen verstärkt. Von der Haustür konnte er das hell erleuchtete Ostin sehen. Dort würden Gaugenrieder und Dahmer im Schlamm die Spuren davonfließen. Er blickte zu Anke, die auf ihr Lenkrad einschlug und immer wieder startete. Langsam ging er auf den Wagen zu, öffnete die Fahrertür, griff vorsichtig nach ihrem Handgelenk, zog sie sachte heraus und nahm sie in den Arm.

Leise wimmerte sie: »Das hätte auch Maxima sein können.«

»Ja, stimmt. Aber sie lebt. Und du passt auf sie auf. Und ich auch. Und wir finden die Schweine. Das verspreche ich dir.«

Kapitel 7

Tegernsee, 29. 04., 20:15 Uhr

Der Verleger sah hinaus auf den See, wo die Menschen segelten, schwammen und angelten. Wo sie sich wie Mosaiksteine in die Seeidylle einfügten. Dort das Glück, hier bei ihm das Unglück. Lukas war verschwunden – aus dem Haus, aus seinem Leben. Man hatte ihn einfach weggenommen. Es war die erste Meldung in den Nachrichten, die gerade das Wetter von morgen präsentierten. Viel Sonne am Alpenrand.

Felix Weldes Familie war vor Jahren aus Berlin hierhergezogen. Der Verlag in München wurde von einer Gruppe auserwählter Speichellecker nach Weldes Vorstellung geführt. Und ebendiese sollten jetzt – wie jede Woche – hier in seinem Haus am Ufer des Sees, südlich von Bad Wiessee, auftauchen. Sie sollten ihre Charts erklären, die sinkenden Auflagen und die sinnlosen neuen Onlineprojekte, mit denen das Sterben seiner Zeitschriften zumindest kaschiert werden könnte.

Sein Vater schaute zu ihm herab. In Öl gefangen, hing er neben ihm an der Wand. Welde Junior, vierundfünfzig Jahre alt, hatte sich schon lange von dem Gedanken verabschiedet, das Werk seines Vaters weiterzutragen. Die Klatschblätter, die Tageszeitungen, die Radio- und Fernsehsenderbeteiligungen. Ihm war das Tagesgeschäft zuwider. Sein Interesse galt der Astronomie. Das war schon immer sein heimlicher Berufswunsch gewesen. Aber der Vater hatte anderes vor. Mit allen Mitteln hatte er Felix Welde in diese Rolle gezwungen. Einen solchen Fehler würde er mit seinem einzigen Sohn nicht begehen. Frei sollte Lukas entscheiden. Kein Zwang. Er liebte sein Kind, dessen Mutter hingegen schon lange nicht mehr. Sie war einst eine bekannte Klatschkolumnistin bei einem seiner Blätter gewesen. Trotz des Altersunterschieds von zwanzig Jahren hatte sie ihn auf einer Verlagsweihnachtsfeier äußerst offensiv für einen Firmenfilm befragt. Ein paar Jahre hatte er sich in Klubs, auf Empfängen und bei Bällen mit ihr gezeigt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie mit einem Filmproduzenten schlief. Enthüllende Fotos von Paparazzi kaufte er über einen Mittelsmann vom Markt. Konfrontierte er sie damit, gönnte sie sich einen Nervenzusammenbruch.

So wie heute. Seit der Polizeiwagen die geschotterte Einfahrt hinauf zu ihrem Anwesen gefahren war, die Kripobeamten mit betretener und mitleidiger Miene von Lukas’ Verschwinden erzählt hatten, hatte sie sich eingeschlossen. Zwei Frauen von einem Kriseninterventionsteam und eine von seinem Verlagsgeschäftsführer empfohlene Psychologin saßen stumm im Wohnzimmer. Sie hofften, ihm und seiner Frau mit Binsenweisheiten so etwas wie Hoffnung geben zu können.

Sein Vater hatte noch Personenschutz gehabt. Für sich selbst, die Mutter, aber auch für ihn und für Felix’ Schwester, die jetzt in den USA lebte. Damals in den RAF-Zeiten, als jeder deutsche Verleger Angst haben musste. Aber jetzt war das vorbei. Dachte er. Er hatte für Lukas eine Kindheit unter normalen Kindern gewünscht, integriert in die ländliche Struktur. Lukas machte mit bei den Messdienern, beim Trachtenverein und der Wasserwacht. Niemand fragte nach den reichen Eltern. Man wusste es, hielt sich aber zurück.

Weldes Gedanken kreisten um die Frage, ob er Feinde hatte. Ob ihn jemand erpressen wollte. Aber hätte dann dieser Jemand auch drei weitere Kinder entführt? Was für ein Aufwand! Er würde jede Zahlung leisten. Er wollte Ruhe.

Welde stand an seinem Schreibtisch. Vor ihm ein bronzenes Kreuz, schlicht und ohne die Figur des Jesus. Er streckte seine Hand aus, legte sie auf das kalte Metall und schloss die Augen. Und so machte er einen Deal mit Gott, während er leise murmelte: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

Gundel war ein schlimmer Name. Aber auch der Nachname hatte immer für Spott gesorgt. Viervogel – sie kannte alle Hetzsprüche. Die Marktleiterin hatte ihr freigegeben. »Passt scho, komm halt wieder, wenn’s vorbei is«, hatte sie ihr am Telefon gesagt und sofort die Dummheit der letzten Worte begriffen. Gundel konnte das nachfolgende Stammeln kaum ertragen, dankte aber trotzdem.

Laurenz war weg. Wie der Vater. Einfach weg. Gestern war noch alles schön. Heute alles dunkel. Mit rot verweinten Augen sah sie die Wetterkarte auf dem Fernsehbildschirm, die Symbole mit der Sonne. Die wenigen Wolken im Norden. Ihre Wohnung in der Sozialsiedlung Bad Wiessees, oben am Hang über dem Sportplatz, war klein, aber sauber. Sie legte sehr viel Wert darauf, dass alles da war, wo es sein sollte. Auch Laurenz wusste das. Hinter dem Sofa von der AWO hatte sie die Wand mit unzähligen Bildern geschmückt. Fotos von ihr und Laurenz.

Sie hatte die Frau vom Krisenteam wieder weggeschickt. Allein wollte sie sein, vor sich das Handy, bis der erlösende Anruf kommen würde. Das war doch alles nur ein Missverständnis. Langsam drehte sie ihren Kopf zum Fenster.

Draußen in dem schmalen Gartenstreifen stand der rostige Grill, den sie am Wertstoffhof hatte mitnehmen dürfen. Er war noch gut, hatte sie gedacht. Und Laurenz, der sich über jede noch so kleine Anschaffung freute, hatte ihr am Wochenende das Versprechen abgenommen, dass sie demnächst zusammen grillen würden. Nur er und sie. Und gerade weil er sich so über Geld und Geschenke freute, war sie erstaunt gewesen, wie schnell er nach der Erstkommunion bereit gewesen war, seine ›Einnahmen‹ zu spenden.

Sie liebte ihn abgöttisch. Wer liebte sein Kind nicht abgöttisch? Der Vater vielleicht. Sie konnte ihn nicht anrufen und das war gut so. Zweimal war ihr Kiefer von seinen Fäusten gebrochen worden. Er war Schausteller, arbeitete immer wieder, wenn er es musste, für Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten oder beim Zirkus. Dort hatte sie ihn kennengelernt. Im Winter, wenn nichts lief, war er nicht zu ertragen gewesen. Dann hatte er sie geschlagen.

Vor drei Jahren war sie heimlich von Chemnitz hierhergezogen, weit weg von Mark Bolen. Ein Jahr hatte sie mit Laurenz in einem Frauenhaus in Leipzig gelebt. Bis ihre Mutter gestorben war und sie mit dem wenigen Geld, das sie geerbt hatte, nach Bayern gezogen war. Kein Eintrag im Internet oder bei der Auskunft. Sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen. Und auch die Direktorin der Grundschule wusste Bescheid. Niemals würde irgendein Mann Laurenz abholen dürfen.

Essen sollte sie, hatte die Dame vom Roten Kreuz gesagt. Aber sie bekam nichts herunter. Sie rauchte. Zog tief den Rauch ein, behielt ihn in den Lungen, bis sie brannten. Beim Ausatmen hustete sie, beugte sich nach vorn, bekam Schleim in den Mund, sah auf die aktuelle Zeitung, las, dass in Gmund das Volksfest begann.

Sie konnte nicht einmal schreien.

Kapitel 8

Lenggries, 30. 04., 03:40 Uhr

Der Fahrer eines Milchtransporters sah es zuerst. Er kam von Garmisch, fuhr Richtung Lenggries und stutzte, als er auf den Sylvensteinspeichersee blickte. Etwas schwamm auf der Oberfläche, nur wenige Meter von der Deichkrone entfernt. Er stoppte seinen Lkw in einer Parkbucht und stieg aus. Ein Jäger, den der Milchmann anhielt und um Hilfe bat, nahm sein Fernglas zur Hand und erkannte sofort, dass es sich um einen leblosen Körper handelte, der auf dem Bauch schwamm.

Eine Stunde dauerte es, bis Mitglieder der Feuerwehr Lenggries ein Boot zu Wasser gelassen hatten und zu dem Körper gelangten. Mit an Bord war Julia Dahmer. Ein Kollege hatte sie geweckt. Ohne Gaugenrieder zu informieren, war sie mit einem Streifenwagen der Bad Wiesseer Polizei die fünfunddreißig Kilometer zum Stausee gefahren. Das Wasser glich einer Decke, leichte Wellen ließen den kleinen Körper schaukeln. Dahmer sah schon von Weitem, dass es ein Kind sein musste. Das Wasser war hier trübe. Reste von angeschwemmtem Treibholz und von Algen ließen keinen Blick auf den Grund zu. Langsam und still ruderten die Männer näher an den Körper. Dahmer erhob sich, um ihn besser zu erkennen. Das Boot schwankte bedrohlich.

Noch drei Meter. Rote Jacke, blaue Jeans und gelbe Turnschuhe. Das traf auf die Beschreibung eines der vermissten Mädchens zu. Es war Mathilde Baumschneider. Zehn Jahre alt, aus dem Ort Tegernsee, Vater Schlosser, Mutter Hausfrau. Sie hatte das weinende Gesicht des Vaters noch vor Augen. Sie hatten einen gesonderten Raum mit einem Kriseninterventionsteam eingerichtet. Dort war Dahmer kurz vor Mitternacht auf den Vater getroffen. Ein Baum von Mann. Aber in diesem Moment nur ein Mensch, der um seine Fassung rang. Der nicht weinen wollte und es dann doch tat. Vor allen. Schluchzte. So sehr, dass ihm der Rotz aus der Nase lief. Und der vorher eine exakte Beschreibung seiner Tochter gegeben hatte: rote Jacke, blaue Jeans, gelbe Schuhe und vor allem pechschwarze Haare.

Noch zwei Meter. Wieder setzte Regen ein. Jemand fluchte leise. Wie Garn schwammen die Haare auf der Wasseroberfläche, als ob sie einen weiten Kranz um den Kopf bilden wollten. Dahmers Kiefer mahlten. Keine Schwäche zeigen. Sie musste leiten, nicht leiden. Das Boot stieß sachte an den Körper, der sofort zur Seite schwang und sich wieder vom Boot entfernte. Dahmer setzte sich. Ein Feuerwehrmann beugte sich weit über den Rand. Er griff nach einem Arm. Er hatte vorsichtig zugegriffen. Dennoch knickte der Arm in einem 90-Grad-Winkel ein. Das Gummi des Boots quietschte. Erschrocken wich der Mann zurück, sah zu Dahmer und wollte etwas Entschuldigendes sagen.

Dahmers Funkgerät piepste. Sie griff es instinktiv und drückte die Taste. Es war Gaugenrieder. Statt Vorwürfen hörte sie nur die Frage: »Was ist es?«

Kapitel 9

München, 30. 04., 07:10 Uhr

Quercher war ohne Frühstück in sein Auto gesprungen. Eine Stunde Autofahrt bis München mit Elektromusik. Die er aber nur in moderater Lautstärke hören konnte, weil der Hund neben ihm saß. Dabei hätte er jetzt, als ihm auf der Bundesstraße ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei nach dem anderen entgegenkam, am liebsten Massive Attack so laut aufgedreht, dass die Fenster vibrierten. Er wollte keine Nachrichten hören. Spätestens im Büro würde er das Neueste erfahren. Er hatte bereits jetzt keine Lust mehr zu arbeiten. Der gestrige Tag war schon genug. Genug Kollegenscheiß und Bürokratie. Auf Salina, ›seiner‹ Insel, wartete ein Feld mit Olivenbäumen und Kapernbüschen. Damit würde er nicht reich werden. Aber er wäre weit entfernt von toten Soldaten in Kläranlagen und entführten Kindern. Es widerte ihn nicht an. Das war schon lange vorbei. Es war, und das wollte er sich nicht eingestehen, die Langeweile. Man suchte, jagte und fand den Täter. Aber es ging immer weiter. Etwas war auf dem Weg verloren gegangen. So mussten sich nach Jahrzehnten Ehen anfühlen. Man beherrschte das Spiel, aber es war überschaubar, tausendmal geübt. Und er war gerade Anfang vierzig. Aber stattdessen jetzt schon Oliven pressen und Kapern ernten? In der Sonne sitzen? Aufs Meer schauen und auf den Tod warten? Er war sich nicht mehr sicher, ob er das tatsächlich noch wollte.

Vor der Glastür zum LKA-Gebäude erwartete ihn Feldjäger Brindöpke – ohne Uniform. Quercher nickte kurz. Brindöpke folgte schweigend. Die Büros, an denen sie vorbeikamen, waren meist verwaist. Es schienen größere Einheiten an dem Entführungsfall dran zu sein, dachte Quercher. Der hagere Hubi kam ihnen auf dem Flur entgegen. Der Kollege von der Mordkommission schien Gaugenrieders Team zugeteilt worden zu sein. Denn normalerweise war sein Büro in der Hansastraße, am Rande des Straßenstrichs.

»Servus«, grüßte er und wollte schnell weitergehen.

»Warte mal, Hubi«, rief Quercher.

Hubi sah misstrauisch zu Brindöpke.

»Was habt ihr gestern am Tatort noch gefunden? Ich weiß, steht alles in den Akten. Aber vielleicht kannst du mich ja ein wenig aufhübschen?«

Hubi sah auf seine Uhr, grummelte und lehnte sich an die Wand. »Du wirst es gleich lesen. Wir haben nicht eine wirklich verwertbare Spur gefunden. Also – bis auf die Abdrücke des Opfers selbst.« Quercher verstand nicht. »Keine Spuren anderer Personen? Dann hat er sich selbst gefesselt?«

Hubi zuckte mit den Schultern. »Sieht fast so aus. Ich muss los. Dahmer wird vom See zugeschaltet. Die haben heute Morgen etwas im Sylvensteinspeicher gefunden.«

»Was denn? Eines der Kinder?«

Hubi deutete auf den Soldaten und legte seinen Finger auf die Lippen. »Kann ich nicht sagen. Steht womöglich dann im Landser.«

Brindöpke hob nur die Augenbrauen. Kaum war Hubi um die Ecke verschwunden, brummte Quercher eine Entschuldigung.

Aber Brindöpke winkte ab. »Müssen Sie nicht. Ich bin es gewohnt, dass selbst bei anderen staatlichen Organen die Akzeptanz für die eigenen Soldaten fehlt. Bestenfalls sind wir die Trottel mit der Waffe, schlimmstenfalls Babykiller.«

»Kaffee?«, fragte Quercher, als sie vor einem Automaten im dritten Stock standen. Brindöpke schüttelte den Kopf. Quercher füllte trotzdem zwei Tassen und balancierte sie in sein Büro.

Dort angekommen, griff Brindöpke in eine schwarze Ledertasche, legte einen Laptop auf den Tisch und ließ ihn hochfahren. »Herr Quercher, der Tod des Kameraden Denke ist eine diffizile Angelegenheit. Wir müssen da sehr sensibel vorgehen.«

Quercher trank einen Schluck und sah Brindöpke über den Tassenrand genau an. »Sie sagen Tod und nicht Mord.«

Brindöpke nickte. »Oberleutnant Denke gehörte zu einer Spezialtruppe. Viele glauben, dass diese Einheiten eine Art Rambotruppe seien. Alleskönner oder Kampfmaschinen. Das ist nicht unser Verständnis. Diese Männer sind in erster Linie nach psychologischen Vorgaben ausgewählt worden. Sie müssen mental äußerst stabil sein, sich gegen innere Widerstände zur Wehr setzen können. Körperliche Fitness ist sozusagen Grundvoraussetzung.«

»Ich kenne die Textbausteine. Ich war auch bei der Bundeswehr«, wollte Quercher den Werbeslogan seines Gegenübers stoppen.

Brindöpke nickte. »Schon klar. Was genau wollen Sie denn wissen?«

»Ach, nur ein paar Kleinigkeiten, die wir als Kriminaler manchmal so wissen wollen. Was hat Denke vor seinem Tod gemacht? Wo war er stationiert? Was wissen seine Kameraden? Hat er Familie? Wenn ja, wo lebt die? Ist er liiert? Hatte er Streit? Was war sein letzter Einsatz? Mit wem war er befreundet? Kurz: nur ein paar Fragen und dafür keine Werbetexte.« Wir beiden werden keine Freunde werden, dachte Quercher genervt. Aber ihm war klar, dass der Feldjäger nicht hier war, um einen Mord aufzuklären, sondern um die Ermittlungen für sein Amt zu beobachten.

Brindöpke las vom Bildschirm seines Laptops ab. »Stefan Denke, Oberleutnant, im KSK-Kontingent der ISAF-Einheiten Afghanistan. Hier konkret im Norden als leitender Verbindungsoffizier zu den dort operierenden US-Einheiten tätig. Denke hat eine Ausbildung als Fernspäher und war drei Jahre verantwortlich für das Zusammenspiel der ›stillen Truppen‹.«

Quercher runzelte die Stirn.

»Diese Einheiten, vier bis sechs Mann, agierten weit im feindlich kontrollierten Gebiet, spähten aus, analysierten und gaben gegebenenfalls Empfehlungen für ein schnelles Eingreifen gegen terroristische Gruppen. Denke war nicht verheiratet, hatte keine Freundin. Seine Eltern sind beide gestorben. Nur eine Schwester. Sie war schon heute Morgen in der Gerichtsmedizin und hat ihren Bruder identifiziert. «

»Haben Sie sein Umfeld in seiner Einheit befragt?«

Brindöpke schüttelte den Kopf. »Denke ist seit einem Jahr nicht mehr im aktiven Dienst gewesen.«

Quercher stutzte. »Aha, warum?«

»Weil Rambo einen dicken Tumor im Kopf hatte.« Hanno war nahezu lautlos eingetreten und hatte das Gespräch wohl schon einige Minuten lang belauscht.

Quercher sah ihn ärgerlich an. »Schön, dass du Zeit für uns gefunden hast. Noch das Auspuffrohr gereinigt?«

Hanno sah deutlich übernächtigt aus. Er griff, ohne zu fragen, nach einer Tasse Kaffee und trank, verzog aber sofort das Gesicht. »Brr, schmeckt ja wie unteres Ende vom Laternenpfahl. Ich komme aus der Rechtsmedizin.«

Brindöpke sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Duschen scheint es dort nicht geben. Oder schlafen die da nachts in Formalin?«

Quercher hatte an diesem Morgen wenig Lust auf Frotzeleien. »Hanno, was sagen die Aufschneider?«

»Der feine Herr Soldat erstickte.« Hanno setzte sich auf Querchers Schreibtisch und fasste den Bericht der Rechtsmedizin auf seine Art zusammen. »Seine Lungen waren gefüllt mit dem Brackwasser aus dem Klärbecken. Am Körper selbst finden sich keinerlei Spuren eines Kampfes, keine Hämatome, Kratzspuren oder DNA-Reste unter seinen Fingernägeln – nichts deutet auf einen Kampf hin. Dein Kamerad hat sich in der Scheiße unserer Weltstadt mit Herz ertränkt«, erklärte Hanno lakonisch in Richtung Brindöpke.

»Bekomme ich das schriftlich von Ihnen?«

»Ich kann es dir auch in dein rotes Barett reinmalen.«

»Interessant, dass Sie überhaupt schreiben können. Denn der Unterscheid zwischen duzen und siezen ist Ihnen ja auch nicht geläufig.«

Hanno streckte seinen Mittelfinger empor und sah auf sein Smartphone. Permanent gingen Kurznachrichten ein.

Quercher war unentschieden. Würde er sein weiteres Vorgehen auf die Suizidthese ausrichten, bedeutete das weniger Stress und die neue Arbeitswoche würde etwas ruhiger beginnen. Er sah sich noch einmal den Tatort an, der auf Bildern, die an der Wand hingen, markiert worden war.

»Wo hat Denke gewohnt?«, fragte er Brindöpke.

»Zuletzt ist er hier in München gemeldet gewesen – Kirchenstraße in Haidhausen.«

»Waren Sie oder die Kollegen schon da?«

Brindöpke nickte. »Sie haben die Wohnung direkt nach dem Auffinden der Leiche durchsucht, Spuren gesichert, aber nur welche von Denke gefunden. Nicht einmal ein Haar eines anderen Menschen. Dann haben sie einen Laptop und ein Handy sichergestellt.«

»Der Krempel liegt hier bei uns, muss ich mir noch anschauen«, fuhr Hanno dazwischen. »Als wir den Fall bekamen, wurde die Wohnung versiegelt und ein Kollege steht vor der Tür.«

»Dann sollten wir uns da noch einmal umschauen.«

Kapitel 10

München, 30. 04., 10:15 Uhr

Das Haus lag nicht weit vom Wiener Platz entfernt. Quercher hatte Brindöpke und Hanno in seinem Auto mitgenommen. Die durchgehende Sitzbank sorgte dafür, dass die drei vorn wie Gockel auf der Stange wirkten. Links und rechts die breitschultrigen Polizisten, in der Mitte, eingeengt und sich sichtbar unwohl fühlend, der Bundeswehroffizier. Lumpi thronte wie Königinmutter auf der Rückbank.

Um diese Uhrzeit war hier kein Parkplatz zu finden. Deshalb manövrierte Quercher den Wagen in eine Hofeinfahrt. Zu Hannos Leidwesen, der auf seiner Seite nicht aussteigen konnte, fluchend über den Sitz rutschen musste und dabei stöhnte und ächzte.

»Ihnen fehlt das Training. Weniger Zweirad, mehr laufen«, kommentierte Brindöpke das unelegante Aussteigen.

»Zum Ficken reicht’s«, antwortete Hanno genervt.

 »Ja, aber nur allein.«

Quercher musste grinsen. Man hatte beim Militär anscheinend den Humor entdeckt. Erstaunlich.

Der junge Kollege, der vor der Tür stand, grüßte freundlich, als er die Dienstausweise sah, und brach das Siegel.

»Was suchen wir denn?«, fragte Brindöpke leise.

Quercher sah ihn verdutzt an. Stimmt, woher sollte der Soldat das wissen? Auch wenn er bei der Militärpolizei war, so hatte er mit den üblichen Vorgehensweisen bei Ermittlungen wenig Erfahrung.

»Na ja, entweder war es Mord oder Suizid. Für beide Thesen suchen wir Hinweise. Einen Abschiedsbrief, irgendwo versteckt, nur für Eingeweihte. Damit wir nicht den Grund für den Tod herausfinden. Oder eben Spuren der Mörder, so es denn welche gibt. Es geht um Auffälligkeiten. Wir verschaffen uns erst einmal einen Überblick.«

Brindöpke nickte und wollte Quercher folgen, aber Hanno drückte ihn beiseite und ging vor ihm durch die Tür.

Noch nie hatte Quercher die Wohnung eines Mannes gesehen, die so aufgeräumt war. Es roch nach Putzmitteln. Schuhe, nach Größe und Farbe auf einer Filzmatte angeordnet, begrüßten einen schon im Flur. An den Griffen der Türen und Fenster, aber auch auf der Herdplatte der Küche sahen sie die Überreste der Spurensicherung. Ansonsten lag nichts offen herum. Keine Zeitschriften, keine Textilien. Keine Bilder hingen an der Wand. Der Parkettboden glänzte. Es war eine Zweizimmerwohnung mit einer Küche, die anscheinend noch nie benutzt worden war. Quercher reichte Brindöpke Latexhandschuhe und schritt langsam durch die einzelnen Räume. Das war seine Art, sich einer Person zu nähern. Er atmete tief über die Nase ein, schnüffelte dann förmlich, um den Menschen, der hier noch vor wenigen Tagen gelebt hatte, zu erkennen.

Das Wohnzimmer war karg eingerichtet. Ein Glastisch. Noch immer derselbe sterile Duft des Putzmittels. Ein Korb mit gebrauchter Wäsche. Quercher nahm sie heraus. Es war ein Arbeitsanzug, wie ihn Monteure bei der Luftwaffe trugen. Mörtelspuren und weiße Farbflecken waren an Ärmel und Beinen zu sehen. Der feine Soldat schien sich nebenbei mit Renovierungen Geld zu verdienen. Quercher legte den Overall zurück.

Eine Collage von Fotos in einem einfachen Rahmen stand auf einem Regalbrett. Eins zeigte Denke mit einer dunkelhaarigen Frau. Er trug Uniform, sie Bergklamotten. Schien seine Schwester zu sein. Beide schauten ernst. Daneben Denke mit nacktem Oberkörper. Das Foto war irgendwo herausgeschnitten worden. Man sah ihn nur bis zur Brust. Da musste er um die achtzehn Jahre alt sein.

Nichts war auffällig. Langsam ging Quercher weiter.

Vor ihm stand ein Sofa, das aussah, als ob es erst kürzlich erworben worden war. Quercher kniete sich auf den Boden und drückte seinen Kopf in die Polster, was Brindöpke mit einem vor Ekel verzerrten Gesicht kommentierte. Quercher erhob sich, schüttelte den Kopf, ging an dem in einem Schrank suchenden Hanno vorbei und öffnete die Tür zum Schlafzimmer.

Das Bett, ein billiges Stück aus der schwedischen Möbelhölle, war perfekt gemacht. Keine Servicekraft in einem Hotel bekam das so hin, dachte Quercher. Eine Filzdecke saß zentimetergenau auf der Matratze. Der Kissenbezug war schneeweiß, kein Knick, keine Falte war zu sehen. Auf einem klobigen, aus grob behandeltem Holz gefertigten Nachttisch lag ein kleines Buch. Quercher beugte sich nach vorn. Das Buch war in Arabisch verfasst. Sunzi – Die Kunst des Krieges las er. Quercher nahm das dünne Werk und konnte einen Stempel auf der zweiten Seite finden, die das Buch als Eigentum einer Universität in Kabul auswies. Denke, anscheinend wie Quercher des Arabischen mächtig, hatte es während seiner Zeit in Afghanistan wohl mitgenommen. Ein Standardwerk für alle Militärstrategen und Berater, das drittklassige Managertrainer dazu benutzten, um ihre Binsenweisheiten für teures Geld unter das mittlere Management zu bringen.

Quercher schloss die Augen. Der Geruch hatte sich verändert. Oder genauer: Ein neuer war hinzugekommen. Er schnupperte wieder, ging auf einen deckenhohen Schrank zu, dessen Schiebetüren mit Lamellen verkleidet waren.

»Ich habe hier ein Bild von ihm mit einer Frau«, rief Hanno aus dem Nebenzimmer und kam zu Quercher ins Schlafzimmer. »Was ist?«, fragte er.

Quercher zeigte auf den Schrank. Er hatte eine Tür zur Seite geschoben. Die Uniformen hingen perfekt auf dem Bügel. In Regalen stapelten sich auf DIN-A4-Größe die Hemden, T-Shirts und Pullover.

»Und, Quercher? So sind die halt, komplette Neurotiker eben.«

Brindöpke war zu ihnen getreten. »Ordnung mag für kaputte Seelen wie Sie sicher ein Grauen sein. Sie hilft aber ungemein.«

Quercher ging wieder in die Hocke. Etwas passte nicht in die Ordnung. Aber was? Er strich mit seinen Latexhandschuhen über die Textilien. Er würde jede Wette eingehen, dass sich nicht ein Hinweis darin befand. Diese Ordnung war nicht nur der Ordnung wegen gewollt. Sie hatte noch einen anderen Zweck. Sie sollte Besucher ablenken. Aber wovon?

»Die Schrauben, die passen nicht«, meinte Brindöpke plötzlich und zeigte auf die Ränder des Schrankraums.

»Sie erkennen also verschiedene Schraubenarten, auch wenn diese im Holz stecken. Sie hätten bei Wetten, dass ..? mitmachen sollen«, kommentierte Hanno genervt.

Quercher verstand. Er ließ sich nach vorn fallen und stützte sich auf den Boden des Schranks auf, roch daran und verzog das Gesicht.

»Hanno, hol mir mal ein Messer oder einen Schraubendreher, wenn du einen findest.«

Der Kollege griff an seinen Gürtel und zauberte einen Leatherman aus einem Lederetui hervor.

Brindöpke hob die Augenbrauen. »Immer präpariert, wenn mal wieder eine Schraube locker ist?«

Quercher nahm das Werkzeug und montierte das Brett ab. Dann hob er es hoch und wich sofort zurück. »Was für ein Schwein!«, entfuhr es ihm.

Bedeckt von Dutzenden Duftbäumchen, lag der Kadaver einer jungen schwarzen Katze auf einer Eisenplatte. An diese wiederum waren Kontaktdrähte installiert worden, die in einem Kabel mündeten, welches unter dem Schrankbrett verlegt war. Quercher folgte seinem Weg. Fast unsichtbar trat es an der Seitenwand heraus, führte hinter der Fußleiste am Boden hinauf zum Nachttisch. Er erhob sich und erkannte jetzt den Sinn der Konstruktion. Er griff nach der Lampe, drehte sie, öffnete den Boden, der nur notdürftig verklebt war, und fand zwei Batterien, die die Eisenplatte mit Strom versorgten. Nicht sofort tödlich wie der aus der Steckdose. Aber es reichte für schlimme Schmerzen und Panik in einem dunklen beengten Verlies.

Denke hatte jedes Mal, wenn er den Lichtschalter der Nachttischlampe einschaltete, der kleinen Katze in ihrem Schrankkerker einen Stromschlag versetzt. So lange, bis sie verendete. Dann hatte er Duftbäumchen darübergelegt, die Wohnung gesäubert und sich umgebracht oder war seinem Mörder begegnet.

Das kleine Tier war völlig abgemagert. Es war nicht zu erkennen, ob es am Strom, an mangelnder Nahrung oder aus purer Angst verendet war. Auf jeden Fall war ein Typ, der sich so etwas ausdachte, ziemlich krank.

Quercher sah zu Brindöpke. Der schüttelte nur den Kopf.

»Hören Sie«, begann Quercher mit mühsam beherrschter Stimme, »das kann Ihnen doch wohl nicht verborgen geblieben sein. Wer so was macht, der fällt auch innerhalb der Truppe auf.«

Brindöpke sah ihn mit ausdruckslosen Augen an. »Herr Quercher, 185.000 Soldaten gibt es in Deutschland – ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Was glauben Sie, wie hoch die Chance ist, dass einer von denen eine psychische Erkrankung hat?«

»Sehr groß, ist doch Einstellungsvoraussetzung bei dem Verein«, kommentierte Hanno die rhetorische Frage und untersuchte den Tierkadaver.

Quercher ließ sich nicht ablenken. »Wussten Sie etwas über mögliche derartige Veranlagungen, gibt es ärztliche Gutachten, psychologische Einschätzungen?«

Brindöpke schüttelte den Kopf.

Quercher wendete sich ab. Er war sich sicher, dass Brindöpke log.

Hanno hatte mit seinem Leatherman die Eisenplatte angehoben. »Hier klebt etwas«, erklärte er und beförderte vorsichtig ein kleines Post-it hervor.

Quercher las laut vor. »Mein Land braucht mich nicht mehr. Also gehe ich dahin, wo meine Existenz hingehört. Alles, was mir zusteht, soll meine Schwester bekommen. Sie hat es verdient. Gezeichnet Oberleutnant Stefan Denke.«

»Kein Mann vieler Worte«, kommentierte Hanno trocken.

»Gut, suchen wir hier doch mal nach persönlichen Notizen des Herrn. Dann vergleichen wir die Schrift. Könnte ja sein, dass ein anderer diese Abschiedsnotiz angefertigt hat.«

Hanno kam mit dem Bild der Geschwister wieder. Er klappte den Rahmen auf und tatsächlich war etwas auf die Rückseite des Fotos geschrieben worden.

Vroni und Stefan, Kathmandu, 2001.

Die Schrift schien auf den ersten Blick identisch zu sein.

Brindöpke zuckte mit den Schultern. »Das dürfte es dann wohl gewesen sein. Ich werde einen Abschlussbericht anfertigen und Sie können ihn dann gegenzeichnen. Alles andere wäre wohl Zeitverschwendung. Und geben Sie sich keine Mühe. Ich nehme öffentliche Verkehrsmittel ins Büro.« Grußlos verließ er den Raum.

Als Quercher eine Minute später aus dem Fenster hinaus auf den Bürgersteig schaute, sah er Brindöpke telefonieren. Der Fall schien beendet zu sein, ehe er begonnen hatte. Aber so richtig wollte Quercher das nicht glauben.

»Hanno, ruf bitte die Kollegen von der Spurensicherung an. Sie sollen sich das hier noch einmal genauer ansehen.«

»Warum? Was hoffst du zu finden? Mann, Quercher, der Fall ist durch. Der Typ war ein übles Arschloch, hat sich, um sich noch einmal wichtigzumachen, mit gefesselten Händen in die Kläranlage geworfen. Das ist echt nicht unsere Ebene. Wenn du da jetzt weiter herumfrickelst, nervst du nur unsere neue Chefin. Und die hat gerade wirklich was anderes zu tun.«

»Ich bin nicht dazu da, der Dame gute Laune zu verschaffen. Wo wohnte Denkes Schwester doch gleich?«

»In Innsbruck. Ich habe dir die Adresse und die Telefonnummer schon gemailt.« Hanno stockte. »Da willst du doch jetzt nicht hin? Das sind mindestens zwei Stunden hin und zwei zurück. Ich bin um achtzehn Uhr gedatet. Also, wenn du …«

»Das kann ich auch allein. Kümmere du dich um die Spurensicherung.«

»Okay, ich rufe die Kollegen, bleibe auch noch hier und warte. Wir sehen uns dann morgen. Ich bin erreichbar.« Hanno zeigte auf sein Handy.

Quercher nickte und ging hinunter zu seinem Wagen, vor dem eine Frau mit hennaroten Haaren stand, ein Fahrrad hielt und zeterte. »Ist das deine Karre und dein Köter?«

Er nickte. Im Auto hatte sich Lumpi auf den Fahrersitz gesetzt und die Frau böse angeknurrt. Eine der wenigen Dinge, die er der Schweißhunddame hatte anerziehen können, war das Bewachen des Autos. Jeder, der sich dem Wagen näherte und den Lumpi nicht kannte, wurde mit einem Knurren und Schnappen begrüßt.

»Das ist eine Einfahrt. Wie kann man so asozial sein?«

Quercher sah sie an, entschuldigte sich und wollte einsteigen.

Aber die Frau hörte nicht auf zu schimpfen und schob ihr Fahrrad wie eine Barriere vor Quercher. »Da vorn steht ganz breit ein Schild, können Sie nicht lesen?«

Quercher verlor langsam die Geduld. »Was wollen Sie? Mich mit Ihrem Rad zur Strafe überfahren? Soll ich mir die Haare auch wie Pumuckl färben?«

Statt zu antworten, griff sie in ihre braune abgewetzte Ledertasche, zog ein Smartphone hervor, fotografierte Quercher und sein Kennzeichen, ehe sie mit einem triumphierenden Grinsen an ihm vorbeizog. Er verdrehte die Augen. Haidhausen war ein Biotop der Bekloppten. Kaum saß er, begrüßte ihn Lumpi mit einem kurzen Bellen und einem Anstupsen mit der Schnauze.

»Die Dame muss wohl, was?«

Kapitel 11

München, 30. 04., 11:55 Uhr

Er entschied sich, seinen alten Freund Sareiter zu besuchen. Denn dort, in der teuersten Wohngegend der generell teuren Münchner Innenstadt, konnte er Lumpi aus dem Auto holen und durch die angrenzenden Maximiliansanlagen rennen lassen.

Quercher überquerte die Prinzregentenstraße oberhalb des gold strahlenden Friedensengels, der über der Isar prangte. An einem Brunnen mit einem kleinen, dicken Jungen aus Bronze setzte Quercher sich und genoss die Frühlingssonne. Lumpi lief umher, begeistert von den vielen Gerüchen, die sie vom Land nicht kannte.

Hier war Natur – wie überall in München – in verdaulichen, lieblichen Häppchen gestaltet worden. Und auf eine sonderbare Weise gefiel Quercher das. Er kannte Natur vielmehr in ihrer wilden, zerstörerischen Form aus seiner Heimat. Dabei war ihm das hier eigentlich genug. Er verließ den Park und überquerte die Straße. Sareiter wohnte in einer Jugendstilvilla nördlich des Friedensengels.

Lumpi lief über eine Hofeinfahrt und blieb bellend an einem gusseisernen Tor stehen, welches zu einem weitläufigen Garten führte. Quercher legte beruhigend die Hand auf den Kopf des Schweißhundes und erblickte einen Mann in einem weißen Anzug. Er schien dort Yogaübungen neben einer großen und sehr alten Eibe zu machen und trug eine weite Hose und ein sehr enges T-Shirt. Irgendwie passte er in diese Gartenidylle. Fehlte nur noch ein blühender Kirschbaum, dachte Quercher.

Erst als der Mann weit mit den Armen ausholte, um die Hände über seinen Kopf zusammenzuführen, und seinen Kopf zur Seite drehte, erkannte Quercher Dr. Sareiter, Strafverteidiger im Ruhestand. Seine Haare, einst lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden, waren abgeschnitten.

Sareiter begrüßte ihn lachend. »Das ist also die Lumpi.« Er hielt seine flache Hand vorsichtig an die Hundeschnauze. Lumpi schnüffelte daran und leckte einmal darüber. Ein Zeichen, dass sie den Mann anerkannte. »Schön, dass du gekommen bist.«

Quercher stand unschlüssig vor dem schlanken, aber muskulösen Juristen. »Gut schaust du aus, Markus.«

»Danke, ich mache ein wenig Sport.« Sareiter deutete auf eine Terrasse, die etwas erhöht im Schatten einer gigantischen Rotbuche lag. »Magst du mit mir etwas essen?«

Quercher nickte. Eine ältere Dame trat aus der angrenzenden Küche und legte das Besteck auf den Tisch.

»Habe von deinem letzten Fall am Tegernsee gelesen. Lief ja großartig. Alle Täter tot, war doch so?« Sareiter griff in eine Schüssel Erdbeeren.

Quercher wollte nicht so einfach plaudern. Er war plötzlich nervös. »Markus, wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Wollen wir nicht einmal klären, warum? Ich fand dein Buch ein wenig … na ja … ein wenig unpassend eben.«

Sareiter hob den Finger, schloss die Augen und ließ einen Sonnenstrahl in sein Gesicht fallen. »Mei, vermutlich war es das!«

Quercher sah Sareiter an.

Sein einstiger Freund hatte ein Buch über Strafrecht und dessen Konsequenzen geschrieben. Er hatte es mit Haut und Haaren verteidigt. Es war quasi seine intellektuelle Verteidigung all jener Fälle und vor allem jener Urteile, die in der Öffentlichkeit wie ein Freibrief für Täter wirkten. Das Buch wurde ein Flop. Danach war Sareiter für Jahre abgetaucht. Vor zwei Monaten hatte er in einem langen Artikel eine Kehrtwende gemacht. Alles, was ihm früher heilig war, hatte er über Bord geworfen. Seine liberale Überzeugung war einer harten Haltung jedem Täter gegenüber gewichen. Aus Saulus war ein böser, wütender Paulus geworden. Zu viele Wendungen für jemanden wie den ehemaligen Strafverteidiger, fand Quercher.

Sareiter lächelte. »Du glaubst, du weißt, was in mir vorgeht, nicht wahr? Sareiter, der einst so strahlende Strafverteidiger, der sich die ganz üblen Fälle genommen hat. Der mit Vorliebe Wiederaufnahmeverfahren an sich zog, der das Recht des Täters mit großer Geste verteidigte. In Talkshows auftrat, ein Buch über seine besten Fälle schrieb. Und dann plötzlich: alles anders.« Sareiter beugte sich zu Quercher über den Tisch, wirkte aber ganz ruhig. »Ja, alles anders. Alles anders, wenn man es selbst erlebt. In den letzten Jahren habe ich alles darüber zusammengetragen, wie unsere Justiz mit Tätern umgeht. Wie unser Rechtssystem ausgehöhlt wird von faulen, inkompetenten und überforderten Justizbehörden.«

»Kurz: Du bist zum Hardliner geworden?«, fragte Quercher erstaunt.

»Nein, ich bin ein Verfechter eines Rechte- und Wertesystems, wie es der Geist des Grundgesetzes verlangt. Ich quatsche keine Law-and-Order-Phrasen von mittelmäßigen Landespolitikern nach. Ich will die Fehler benennen, will, dass die Politik aufhört, der Justiz nur ihr Augenmerk zu geben, wenn mal wieder etwas schiefläuft. Ich will, dass die außer Kontrolle geratene Justiz wieder einen Rahmen bekommt. Das ist kein Schnellschuss, keine Kurzstrecke. Das wird ein Marathon – durch alle Institutionen.«

»Aber, Markus, du bist ganz allein.«

»Falls du einwenden möchtest, dass ich ein wirrer Einzelkämpfer bin, hast du dich getäuscht. Wir sind viele. Ein einflussreicher Kreis, der wie ich denkt und sich ebenfalls wehrt. Der diese Gesellschaft nicht vor die Hunde gehen lassen möchte. Komm mit.«

Sareiter erhob sich und ging ins Haus. In einem großen Raum mit hohen Decken und einem Fischgrätparkett lagen wohlsortiert drei Dutzend Papierstapel. »Das ist mein Werk. Morgen wird es vorgestellt …« Sareiter nahm aus einem Karton ein Buch.

Quercher las den Titel. »Ein Rechtsstaat – Berichte aus der Kloake.« Er runzelte die Stirn.

Sareiter lächelte Quercher an: »Und ich möchte, dass du es präsentierst.«

Quercher wich zurück. »Was soll das? Ich kann so was nicht! Und zudem habe ich es noch nicht einmal gelesen.«

Sareiter lachte. »Das war ein Scherz. Sosehr ich dich schätze: Walter Burgunder, der ehemalige Verfassungsrichter, wird die Laudatio halten. Wir sind eine Gruppe von Anwälten, Professoren, Staatsanwälten, Richtern, Politikern und Wirtschaftsführern. Gemeinsam haben wir in den letzten Jahren all diese Fälle zusammengetragen. Begleitend zum Buch wird es eine Werbekampagne auf allen Kanälen geben. Zudem werden äußerst heikle Akten ins Netz gestellt, damit sich die Bürger, objektiv und nicht gefiltert durch die veröffentlichte Meinung, ein Bild machen können. All die liberalen Gerichtsreporter mit ihren Theorien zum Strafrecht werden sich wundern, was da hochkommt. Es wird nicht aufhören. In zwölf Monaten ist hier Landtagswahl. Das Buch und unsere Kampagne werden einschlagen. Denn noch nie ist in Deutschland so umfassend über faule Richter, verschleppte Verfahren und haarsträubende Gutachten berichtet worden. Wir werden die Politik zwingen zu reagieren. Jede Woche ein Fall – repräsentative Fälle von Justizmurks.«

»Und du glaubst, das reicht?«, fragte Quercher.

Sareiter blätterte in seinem Buch und las aus einem Fall vor, der wenige Jahre alt war. »Schau. Anfang der Neunziger tötet Gerhard B. seine schwangere Frau mit zehn Messerstichen, weil sie einen Liebhaber hat. Ein Gericht entscheidet, dass es kein Mord sei, wenn man seiner Frau auflauert und ihr zehnmal ein Messer in den Leib sticht. Ein Wald- und Wiesengutachter analysiert und spricht von einer ›Tat mit Ausnahmecharakter‹. Der Mann wird zu sieben Jahre Haft wegen Totschlags verurteilt. Sieben Jahre für zwei Menschenleben. Davon sitzt er fünf Jahre ab. Im Februar 1995 kommt er auf Bewährung frei. Lernt draußen erneut eine Frau kennen. Und kaum elf Monate später will diese ihn verlassen. Er schlägt ihr einen Aschenbecher auf den Kopf. Würgt sie. Glaubt, sie sei tot. Er legt sie in eine Badewanne, lässt Wasser ein. Daran stirbt sie dann tatsächlich. Und obwohl er sie von hinten bewusstlos schlug, was für eine Mordanklage reichen könnte, belassen die Richter es wieder bei Totschlag. Sie schicken ihn für dreizehn Jahre in den Knast. Im Gefängnis widersetzt er sich allen Therapieangeboten. An Details der Taten will er sich angeblich nicht erinnern, behauptet sogar, sein zweites Opfer gar nicht getötet zu haben. Bevor er entlassen wird, beantragt die Staatsanwaltschaft nachträglich die Sicherungsverwahrung. Anfang der Neunziger war das noch nicht möglich gewesen. Dafür waren drei mehrjährige Haftstrafen notwendig. Die Staatsanwaltschaft will, dass er im Gefängnis bleibt. Das Gericht lehnt den Antrag aufgrund eines Gutachtens ab. Das besagt, dass nur eine neue Straftat folgen könnte, wenn der Mann wieder eine Beziehung eingehen würde. Sie lassen ihn gehen, mit der Auflage, sich bei einem Bewährungshelfer zu melden, sollte er eine neue Freundin finden. Was sind das für Signale an unsere Gesellschaft, an Frauen, frage ich dich?«

»Aber du weißt doch auch, dass die Zahlen von Gewalttaten in den letzten Jahren zurückgegangen sind, dass Mehrfachtäter seit sechs Jahren deutlich härter bestraft werden und Straftäter den Sicherheitsverwahrungsstatus viel häufiger als früher erhalten.«

Sareiter lächelte maliziös. »Ich muss dir nichts über Politik und Medien erzählen. Jeder Justizminister, vor allem die in den vermeintlich konservativen Landesregierungen, hat ein großes Interesse, dass solche Zahlen in die Bevölkerung sickern. Das Ganze läuft doch so: Man beruhigt die Leute mit scheinbar sinkenden Fallzahlen. Sie sind wie eine Herde Gnus an einer Wasserstelle. Wir kennen die Gefahr, ignorieren sie aber. Dann schießt ein Krokodil heran, reißt eines der Gnus, die für einen Moment wütend und schockiert auseinanderstieben. Aber kurze Zeit später trinken sie weiter. Der Mensch will, solange er nicht selbst betroffen ist, Ruhe und scheinbare Sicherheit. Keiner will sagen, dass jemand, der ein Verbrechen zweimal begeht, es immer wieder tun wird. Gutachter und Psychiater haben vor Gericht mittlerweile den Status von Propheten.«

Sareiter traf einen wunden Punkt. Selbst Quercher waren Gutachter ein Gräuel. Richter verließen sich aus Angst vor einer eigenen Entscheidung häufig auf Gutachten, nur um bei einer erneuten Tat des verurteilten Täters mit sauberen Händen dazustehen.

»Aber das ist ja nicht neu. Psychiater, die den Menschen berechnen können, die alles können, hat es schon im neunzehnten Jahrhundert gegeben, seit Cesare Lombroso die Kopfform vermessen und durch sie auf den Charakter geschlossen hat. Im zwanzigsten Jahrhundert hat Szondi mit seinem Test die Forensiker fasziniert und den Menschen berechnet. Aber dumm nur, dass es eine Fehlerquote gibt. Das nennt man dann Kollateralschaden, wenn ein Kind zerstückelt und geschändet irgendwo auf einer Müllhalde gefunden wird.«

Zwei Stunden lang erklärte Sareiter weiter, schilderte Fälle, berichtete, wer noch mitmachte und was deren Intention war. Danach war Quercher immer noch überrascht. Sareiter trug diese Suada gegen die Justiz mitnichten mit Verve oder irrem Feuer vor. Es war ein ruhiger, sachlicher Vortrag, eher ein Faktenbericht. Hier wusste jemand, was er tat. Zumindest vermittelte er den Eindruck. Burgunder, die Verfassungskoryphäe schlechthin, saß mit im Boot. Das hier war keine rechtspopulistische Salonrevolte. Das war, wenn es richtig angegangen wurde, eine Revolution von innen. Ein Widerstand der Elite gegen das Gestrüpp des föderalen Justizsystems.

»Ich möchte dich im Boot haben. Auch dir steht es gut zu Gesicht, dich privat zu engagieren. Wir werden einen Verein gründen. Du sollst deine Erfahrungen von der Ermittlerseite einbringen. Offiziell. Und vielleicht ist das dann der Weg, um deinen lang gehegten Wunsch, aus dem Polizeidienst auszuscheiden, wahr werden zu lassen. Die finanziellen Mittel hätten wir.« Sareiter blinzelte ihm zu.

»Aha, und inoffiziell?«

»Ich habe mit Pollinger darüber geredet. Er sagt, wir müssen wissen, dass wir uns mit einem übermächtigen Gegner anlegen. Man wird versuchen, uns zu demontieren, zu schwächen. Die Politik wird uns unterwandern wollen. Uns Nazis unterschieben, um uns zu diskreditieren. Dazu brauche ich einen integren Mann, der uns dieses Gesocks vom Hals hält. Und dir vertraue ich. So einfach ist das.«

Quercher wollte sofort reagieren, erinnerte sich aber an Pollingers Worte. »Ich überlege es mir. Du, Markus, ich habe noch einen Termin. Nimm es mir nicht übel.«

Quercher erhob sich und ging mit Sareiter durch das Haus zur Tür. In der Küche klapperte Sareiters Angestellte mit dem Geschirr. Quercher erkannte an den Wänden seine Jugend. Dort hingen Konzertplakate und übergroße Grafiken diverser Plattencover. Es gab keines, das er nicht auch besaß. Und er konnte an ihnen seine eigene musikalische Sozialisation erkennen. Die vier jungen Herren auf einem Zebrastreifen. Das fliegende Schwein über der Battersea Station. Der brennende Zeppelin. Dann das rote Warnzeichen auf braunem Grund. Nur aus diesem Jahrtausend hing nicht ein einziges Plattencover an Sareiters Wand.

»Unsere Musik endet im Jahr 2000«, brummte Quercher leise.

Sareiter grinste. »Ja, seitdem gibt es auch Castingshows.«

Sie passierten ein Bücherregal und Querchers Blick blieb an einer alten Sammlung von Märchenbüchern hängen.

»Seit wann liest du denn so etwas? Du hast doch keine Kinder?«, fragte er und bemerkte noch im selben Moment, wie unpassend die Bemerkung war. Sareiters Frau war bei ihrem Unfall schwanger gewesen.

»Die sind noch von ihr«, erklärte Sareiter leise.

Die beiden Männer sahen sich lange an. Irgendwann waren sie über eine Schwelle getreten. Und wir haben es nicht einmal gemerkt, dachte Quercher wehmütig. Er verabschiedete sich mit dem Versprechen, bei der Buchpräsentation in der Münchner Innenstadt am nächsten Tag dabei zu sein.

Kapitel 12

Ostin, Tegernsee, 30. 04., 17:15 Uhr

Julia Dahmer stand erneut an der Tafel. Wurde geprüft. Und sie hatte wieder das Gefühl, nicht zu genügen. Die zwei Menschen vor ihr sahen sie mit kritischem, forschendem Blick an. Über Dahmers Rücken lief ein Schweißtropfen. Würde sie jetzt das Jackett ausziehen, könnte jeder ihre nass geschwitzte Bluse sehen.

Constanze Gerass hatte sich vor Ort ein Bild von den Ermittlungen machen wollen. An dieser Entscheidung war der Ministerpräsident nicht ganz unschuldig. Kein Drohen. Keine zähen Nachfragen. Er hatte ihr lediglich mitgeteilt, dass er den Fall Ostin für sehr wichtig erachte. Schließlich seien mit dem Sohn des Verlegers auch Personen des öffentlichen Lebens betroffen. Und er hätte als Landesvater eine besondere Verpflichtung den Kindern gegenüber. So stand er in dem kleinen Saal der Gaststätte Kirchmeier, den die Gemeinde Ostin für ihre Bürgerversammlungen nutzte, und hörte den Ausführungen der leitenden Ermittlerin Julia Dahmer zu. Der Politiker hatte sich mit Gaugenrieder, Gerass und Dahmer in den hintersten Winkel des Raums verzogen. Dort stapelten sich unter einer großen Karte der Region leere Bierkisten. Es roch feucht und nach abgestandenem Rauch. Den eifrig telefonierenden Polizisten, die vor Bildschirmen und Laptops saßen, drehte der Politiker den breiten Rücken zu. Er wollte keine anderen Führungskräfte dazu anhören. Nur Gaugenrieder und Dahmer sollten ihnen Rede und Antwort stehen. Gaugenrieder hatte geschwiegen und Julia Dahmer den Vortritt gelassen.

Am Morgen hatte sie die Kleidung der kleinen Mathilde im Sylvensteinspeicher gefunden. Irgendjemand hatte sie einer Gummipuppe angezogen. Die Techniker untersuchten sie gerade. Als Dahmer mit der nassen Puppe im Schlauchboot neben den Feuerwehrmännern über den See zum Ufer gefahren war, hatte sie all ihre Kräfte aufbieten müssen, um nicht lauthals zu schreien. Sie hatte ihre klammen Finger in die Metallhalter des Bootes gedrückt. Niemand hatte die weißen Knöchel gesehen. Was war das für ein Mensch, der Kinder entführte, sie auszog, die Kleidung einer Puppe überzog und diese dann ins Wasser warf? Sie würde Profiler aufbieten müssen. Menschen, die sich in die Gedankenwelt eines solchen Täters hineindenken konnten. Sie hatte nicht diese Begabung, hatte auch keine Kinder. Aber sie mochte sie. Sie betrachtete sie als exotische, putzige Wesen, die aus einer anderen Welt stammten. Einer Welt, die noch nichts vom Dreck und Ekel der Erwachsenen wusste.

Vor einer Stunde hatte die italienische Polizei bei Bozen den weißen Transporter identifiziert. Jenen, mit dem die nun tote Erzieherin die Kinder zum Ödberg gefahren hatte. Das Kennzeichen stimmte. Eine Sicherheitskamera an einer Mautstelle hatte den Wagen aufgezeichnet und aufgeweckte Carabinieri hatten sich umgehend bei den deutschen Kollegen gemeldet. Der Verdacht lag also nahe, dass die Kinder nach Italien verbracht worden waren, referierte Julia Dahmer. Leise fügte sie hinzu: »Unklar ist, ob sie leben. Die Kamera konnte leider nur sehr undeutlich den Fahrer aufnehmen. Es handelt sich wohl um einen Mann. Hier warten wir auch auf die Auswertung des fototechnischen Dienstes. Angesichts der Handlungsabläufe …«

»Frau Dahmer, ich will nicht unhöflich wirken. Aber können Sie etwas Verwertbares verkünden, irgendetwas, was ich den Angehörigen sagen kann, die ich gleich im Raum nebenan sehen und trösten muss?«

Der Politiker war gereizt. Seit über dreißig Stunden befanden sich vier Kinder in der Gewalt von Perversen, die Puppen in Stauseen warfen. Er kannte die Gesetze der Medien. Die sonstige Nachrichtenlage war mau. Bilder gab es kaum. Also schuf er welche. Er vor Ort, ernst, aber wissend. Er ins Gespräch mit den Ermittlern vertieft. Er mit dem Arm vor einer Gruppe von Helfern, in irgendeine Richtung zeigend. Er, wie er Angehörige umarmen würde. Dann wäre der Druck raus. Irgendein anderes Thema würde das in diesem Fall überlagern. Und bis dahin mussten Macher- und Trösterbilder her.

Sein Innenminister hatte ihn auf dem Weg zum See im Wagen gebrieft. Nach drei Tagen glaubten Experten nicht mehr an das Überleben. Man würde vielleicht die Leichen sehr bald finden. Das war dann aber nicht mehr die Ebene des Ministerpräsidenten. Bis natürlich auf die Trauerfeier. Die wiederum würde er für tröstende Worte nutzen. Bayern kümmert sich um die Familien. Genau das sollte transportiert werden.

Von all diesen Gedankengängen ahnte Julia Dahmer nichts. »Wir haben Interpol aktiviert. Wir richten den Fahndungsradius auf Italien aus. Auch dort wurden alle Stellen an Bahnhöfen, Flughäfen und Fährstationen sensibilisiert.

»Darf ich Sie nach Ihrer persönlichen Meinung fragen? Was sagt Ihr Bauch, Frau Dahmer?«

Die Ermittlerin zuckte zusammen. Die Frage war manipulativ. Sollte sie eine andere Meinung haben als die offizielle?

»Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um …«

»Wir haben keinen Bekennerbrief, keine Forderungen. Die Kinder sind einfach weggenommen worden.« Gaugenrieder hatte sie unterbrochen. Nicht weil er sie schwächen wollte, sondern weil er ahnte, dass sich ein Politiker nicht einfach mit irgendwelchen Floskeln zufriedengeben würde. Die würde er schon selbst der Presse gegenüber verwenden.

»Was ist denkbar? Menschenhändler, die die Kinder an Pädophilenringe verkaufen? Unwahrscheinlich. Zu viel Aufwand. Kinder von illegalen Einwanderern oder sozialen Randgruppen sind da das wahrscheinlichere Ziel. Ein oder mehrere abnorme Menschen, die sich an den Kindern vergehen, sie danach töten? Nicht so unwahrscheinlich. Aber auch hier gilt: Warum die Puppe? Das führt zu mehr Indizien, Beweisen. Man kann dabei gesehen werden. Also will uns vielleicht jemand herausfordern? Narzisstische Persönlichkeit, die sich mit dem Staat messen will, quasi ein Katz-und-Maus-Spiel? Dazu passt auch die Vergewaltigung der Erzieherin. Denn auch hier wurden Spuren gelegt. Kurz: Ich glaube, dass wir es mit einem oder mehreren sehr klugen Tätern zu tun haben.«

Der Politiker nickte zufrieden. Gab jedem die Hand. Wünschte alles Gute. Beim Herausgehen griff er nach dem Arm der LKA-Chefin Gerass und zog sie beiseite. »Diese Plattitüdentante ist mir zu weich. Wollen wir hoffen, dass sie das nicht verbockt. Sonst habe ich den Verleger am Hals. Und das wird nicht schön.« Er macht eine Pause. »Für Sie!«

Kaum hatte er den Saal verlassen, hatte Julia Dahmer einen Pappbecher vom Tisch geschlagen. Die Kollegen schauten erschrocken zu ihnen herüber. »Was bist du nur für ein Kameradenschwein, Fritz? Das war ein beschissenes Foul und das weißt du ganz genau! Wenn du die Ermittlungen allein führen willst, bitte.« Sie hatte ihre Hände auf den klebrigen Tisch gestemmt, damit sie nicht ständig mit ihnen herumfuchtelte.

»Julia, ich wollte dir helfen, mehr nicht! Du hast doch gesehen, wie ungeduldig der war. Wir sind unter einem Brennglas. Es geht doch jetzt nicht um Eitelkeiten. Ich sitze mit dir in einem Boot. Wir sind beide auf der Brücke!«

»Komische nautische Vorstellung!« Wo immer diese Kinder waren, es würde für sie noch mehr Qual bedeuten. Deshalb musste sie ihre Befindlichkeit zurückstellen. Keine Zeit für Politik. »Scheiß auf das Arschloch, Fritz. Lass uns weitermachen.«

Der Ministerpräsident wurde hinüber in einen kleineren Raum geführt. War es eben noch laut und emsig wie in einem Bienenkorb, schlug ihm jetzt stille Verzweiflung entgegen. Er befand sich in einem Übungsraum des örtlichen Trachtenvereins. Auf mehreren Tischen lagen Dirndl und Jankerl in Kindergrößen. Der Raum roch nach Schweiß, Angst und abgestandenem Bier. Diskret hatten Zivilpolizisten die Eltern der Kinder hier zusammengebracht. Der Politiker nahm einen Holzstuhl und setzte sich stumm zu den Eltern. Er wollte nicht von oben herab auf sie einreden.

»Ich kann Ihre Angst verstehen. Ich habe ja selbst Kinder. Die sind nun schon älter. Aber man wird die Angst um sie nie verlieren. Wir werden sie finden.«

Es brauchte nicht mehr. Immer Hauptsätze. Das war wichtig im Umgang mit den Menschen. Mit dem Verleger würde er anders reden müssen. Der wartete in seinem Haus am See und hatte sich entschuldigen lassen.

Gundel Viervogel saß allein auf einer Bierbank und knetete ein benutztes Taschentuch. Die Eltern von Maria von Homstein standen abseits, hielten sich gegenseitig fest und starrten mit verengten Augen auf den Politiker. Der Vater arbeitete als Lehrer an einem anthroposophischen Privatgymnasium, die Mutter als Frauenärztin in Tegernsee. Beide waren politisch engagiert und konnten den Ministerpräsidenten kaum ertragen.

Der Vater, Rainer von Homstein, zückte sein Smartphone und filmte die Szene. »Ich will Ihr Versprechen haben«, rief er, »dass Sie unsere Kinder wiederbringen. Sagen Sie das!« Seine Stimme war ein wenig zu schrill. Er war aufgeregt und versuchte, seine Verzweiflung mit Aggression zu überspielen.

»Schalten Sie doch die Kamera aus, Herr von Homstein. Das hilft uns doch nicht weiter. Ich habe soeben mit den leitenden Ermittlern gesprochen. Das sind die besten Fachkräfte. Die kommen vom LKA. Wir haben die Fahndung auf das europäische Ausland ausgeweitet. Glauben Sie mir, wir tun wirklich alles in unserer Macht Stehende, um das Leben der Kinder zu schützen.«

Der Vater wollte etwas erwidern, sah aber, wie seine Frau leise zu wimmern begann. Er senkte die Kamera und legte ungelenk seine Hand auf die Schulter seiner Frau. Es wurde still.

Der Ministerpräsident erhob sich und ging gemessenen Schrittes auf das Ehepaar zu. »Kommen Sie.« Er streckte seine Hände aus, griff nach den Armen der beiden und zog sie zu den anderen, die sich erhoben hatten. Stumm bedeutete er, dass sie sich an den Händen fassen sollten, was tatsächlich alle taten.

»Ich weiß nicht, wer von Ihnen gläubig ist. Das ist auch nicht wichtig. Lassen Sie uns einen Moment schweigen. Unsere Gedanken sind bei den Kindern. Gott, schütze sie.« Mehr sagte er nicht. Sie schlossen alle die Augen. Der Ministerpräsident zählte stumm bis sechzig.

In diesem Moment trat Julia Dahmer aus dem Gasthof und stand auf der abgesperrten Straße. Sie lehnte sich an einen Brennholzstapel und öffnete eine Energydrinkdose. Das Holz strahlte noch Wärme vom Tag aus und roch intensiv. Sie schloss die Augen und trank das Zeug in einem Zug. Zwei junge Polizisten der Bereitschaftspolizei, die am Absperrband standen und rauchten, beobachteten sie mit Stirnrunzeln, aber auch mit stiller Bewunderung. Wie sie da so stand, eine enge Jeans, die ihre muskulösen Beine betonte, die weiße Bluse, die hochgekrempelten Ärmel, der weite Ausschnitt. An der Hüfte das Holster. Sie hatte ihre Haare nach hinten zu einem Zopf gebunden. Und während sie gedankenverloren das klebrige Zeug hinunterkippte, vibrierte ihr Handy. Eines der Ermittlungsteams, die von München aus operierten, gab ihr die neuesten Ergebnisse der Gerichtsmedizin durch.

»Also, Julia, zwei Dinge. Erstens: Claudia Weber war schon tot, als der Täter sie vergewaltigte.«

Dahmer atmete tief ein und wieder aus. Was konnte das bedeuten? »Das heißt, der Täter hat sie erst getötet?«

»Na ja, sie erstickte. Die Art der Fesselung und ihre Bewegungen führten vermutlich zum Tod.«

Dahmer spürte ihr Blut im Kopf pochen. »Der hat also zugesehen, wie sie langsam erstickte, während die Kinder im Auto warteten? Was für ein kranker Typ!«

»Aber jetzt eine gute Nachricht«, unterbrach der Kollege. Und er begann zu erzählen, dass sie das Sperma in der toten Frau untersucht hätten und dass sie wissen würden, von wem es kam, und sie musste husten und die Getränkedose wegwerfen und zurück zu ihrem Kollegen rennen.

Der Täter, der Claudia Weber so schrecklich vergewaltigt und getötet hatte, wohnte lediglich einen Steinwurf von hier entfernt.

Kapitel 13

München, 30. 04., 20:14 Uhr

»Jeden Tag werden in Deutschland acht Menschen erschossen, erwürgt, erschlagen, aus dem Fenster geworfen. Jeden Tag überleben zwölf Menschen einen Angriff auf ihr Leben. Jeden Tag werden fünf Kinder sexuell missbraucht. Jeden Tag werden sechs Frauen vergewaltigt. Das sagt das Statistische Bundesamt. Etwa sechzigtausend Menschen sitzen hinter Gittern, davon sind über neunzig Prozent männlich und mehr als fünfundzwanzig Sexual- und Gewalttäter. Fast jeder von ihnen wird wieder in Freiheit gelangen. Nur dreißig Prozent dieser Sexualstraftäter haben eine Therapie im Knast gemacht. Das heißt: Ihre sogenannte ›Persönlichkeitsstörung‹ wurde konserviert – und angefüttert mit ein paar Knastneurosen. Die Rückfallquote liegt bei über dreißig Prozent. Wir entlassen Zeitbomben.«

Dr. Markus Sareiter setzte sich und genoss den Applaus der Anwesenden. Am Vorabend seiner Buchpremiere hatte er einen kleinen Kreis illustrer Gäste zu sich nach Bogenhausen eingeladen: einen Juraprofessor, den stellvertretenden Polizeipräsidenten der Stadt Frankfurt, den Vorstandschef eines DAX-Unternehmens, einen aus dem TV bekannten Philosophieprofessor und natürlich den vielsprechenden Herausgeber einer renommierten Tageszeitung. Alle hatten ihre gestrafften und dauerlächelnden Ehefrauen mitgebracht. Das Catering von Käfer, die Bedienungen alle blond und adrett. So hatte es sich Sareiter gewünscht. Der Abend war schon jetzt ein Erfolg.

Der Herausgeber beugte sich über den Tisch und fragte so, dass auch jeder der anderen die Frage verstehen konnte: »Dr. Sareiter, was kann bestenfalls aus Ihrem Buchprojekt werden?«

Sareiter lächelte. Er hatte die Frage erwartet und lehnte sich zufrieden zurück. »Wenn es gut läuft, elektrisiert es die Menschen. Elektrisiert sie für eine Revolution gegen einen Moloch: Justiz ist heute ein menschenfernes Geschäft. Der Apparat hat sich verselbstständigt. Ihm wohnen Faule und Müde inne, Juristen, die nur abarbeiten, nicht Recht sprechen. Wir lesen von den trägen, arbeitsscheuen Richtern und dem Verwaltungswahnsinn, durch den Beweise und Akten vertrödelt werden. Wir hören von Skandalurteilen, die, wenn von den Medien aufgegriffen, meist mit juristischen Winkelzügen erklärt werden. Die Justiz, so wie wir sie heute kennen, ist ein übel stinkender Dreisatz aus sich selbst versorgenden Gutachterhorden, Sozialtherapeuten und arbeitsscheuen Juristen auf allen Ebenen.«

Eine ältere Dame mit viel Schmuck und einem verbrannten Dekolleté erhob sich und wackelte zu Sareiters Missfallen zur Toilette. Er schwieg und sah die Dame an. Die blieb erschrocken stehen, hielt sich an einer Stuhllehne fest und lächelte verlegen. Ihr Mann schämte sich.

»Sehen Sie …«, Sareiter schaute wieder in die Runde, »… ein Beispiel zur Illustration: Vor fünfundzwanzig Jahren tötete hier in unserem Land ein Mann seine schwangere Geliebte. Zusammen mit einem Freund verscharrte er die Leiche auf einer Müllkippe. Der Fall wurde Jahrzehnte später aufgeklärt. Und der Mann wurde freigesprochen. Die Beweislast war eindeutig. Aber es war angeblich kein Mord. Es war nur Totschlag. Was heißt das für die Bürger? Warte und schweige, so lange du kannst? Irgendwann ist das Töten eines Menschen verjährt? Wer soll das verstehen?«

Die Zuhörer stöhnen und einige nickten heftig. Das war ihre Urangst. Und Sareiter beschrieb sie eindrucksvoll. Der Pöbel musste in Schach gehalten werden, es brauchte drakonische Strafen. Nur so war der ungebildete, der dumpfe Mensch aus der Unterschicht zu beherrschen. Und Sareiter war der Garant dafür.

»Das Buch ist der Anfang. In einer Woche wird es im Handel erscheinen. Von morgen an, parallel zur Präsentation im alten Justizpalast, schalten wir im Radio und im Fernsehen Spots, in denen wir jeden Tag einen Justizskandal beschreiben. Wir werden diese Kampagne bis in das nächste Jahr verstärken, eine Partei wird am Ende stehen, mehr noch: eine Bewegung!«

Kapitel 14

Hausham, an der Ortsgrenze zu Ostin, 30. 04., 21:15 Uhr

Der Hof lag auf einem Hügel, kurz oberhalb der Straße, die sich vom See hinauf in die alte Bergarbeitersiedlung Hausham schlängelte. Hier lebten die Schussers. Das Paar kam aus München, hatte dort in heilpädagogischen Stätten mit jugendlichen Intensivtätern gearbeitet und immer von einem Leben auf dem Land geträumt. Renate Schusser hatte mit ihrem Ersparten den Hof gekauft, der sich in einem schlimmen Zustand befunden hatte. Mit ihrem Mann hatte sie trotz fehlender Kenntnis ihre Vorstellung einer sogenannten Permakultur, nachhaltiger und ökologisch sanfter Landwirtschaft, aufbauen wollen. Doch nach drei Jahren am Rande des Tals standen sie kurz vor der Privatinsolvenz. Sie hatten zwei Pflegefälle bei sich aufgenommen. Die elfjährige Marie-Lou mit Downsyndrom, Kind eines Junkies, und Toni Knöchel.

Der Zwanzigjährige aus einem Problemviertel in Nürnberg war schon in seiner Kindheit durch ein besonders aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern aufgefallen. Er war immer der Kräftigste. Toni hatte ein zwei Jahre jüngeres Mädchen auf dem Schulhof niedergeschlagen, es trotz des Eingreifens einer Lehrerin am Bein gefasst, über den Schulhof geschleift und dann mit großer Wucht in das Gesicht getreten. Da war er zwölf Jahre alt gewesen. Und das war erst der Anfang. Es folgten Therapien, Rückfälle, eine versuchte Vergewaltigung mit nicht einmal fünfzehn Jahren und Monate in psychiatrischen Einrichtungen. Erst mit achtzehn Jahren schien er sich gefangen zu haben. Gegen Auflagen hatte ein Jugendrichter Toni in die Obhut der Familie Schusser gegeben. Er schien auf dem Land wieder zu sich zu finden, kümmerte sich um die Tiere auf dem Hof, vornehmlich Hühner. Nachts hielt er sogar Wache, um Füchse und Dachse zu verjagen, die um das Haus schlichen. Anfangs kamen die Jugendpfleger einmal im Monat aus München heraus. Nach seinem neunzehnten Geburtstag und einem sehr positiven Bericht der Familie Schusser wollte man dem jungen Mann eine neue Chance geben und versprach, von weiteren Therapiemaßnahmen Abstand zu nehmen. Dazu gehörte auch das Löschen der alten Delikte aus dem Strafregister zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Fünf Jahre waren seit der letzten Verurteilung vergangen und die Tilgung aus dem Strafregister konnte erfolgen. Was Toni nicht wusste, war, dass die Ermittlungsbehörden seine Spermaspuren hatten aufbewahren lassen.

Die Gerichtsmedizin hatte die Spuren in und an der Erzieherin mit denen der üblichen Sexualstraftäter abgeglichen. Anfangs fand man nichts. Aber dank des hohen Personaleinsatzes wurden auch die Jugendstraftäter mitüberprüft. So kam ein Ermittlungsteam, das von München aus agierte, schließlich auf Toni Knöchel. Viel länger allerdings dauerte es, bis ein Richter die aktuelle Adresse des ehemaligen Delinquenten freigab.

Gaugenrieder und Dahmer reagierten schnell. Der Leiter der Bereitschaftspolizei, der Leiter des Teams Verdeckte Ermittlung sowie der SEK-Leiter in München, der über eine Konferenzleitung hinzugeschaltet war, wurden von Dahmer über den neuesten Stand informiert.

Sie erklärte die Vorgehensweise. »Wir werden da nicht einfach hinfahren können. Sollten die Kinder auf dem Hof sein, müssen wir damit rechnen, dass er sie versteckt hat oder sie bei unserer Ankunft gefährdet. Wir brauchen das SEK hier. Wir observieren sehr dicht, aber unauffällig das gesamte Anwesen, bis der Zugriff erfolgt. Das machen die Zivilstreifen. Die Zufahrtsstraßen müssen jetzt zumindest kontrolliert werden. Keine Hektik. Wichtig sind die Wege vom Hof hoch in die Berge. Der Mann ist sportlich, kennt das Areal und wird uns erwarten. Bislang ist er mit Schusswaffen nicht in Erscheinung getreten. Aber es ist möglich. Also sollten wir uns darauf einrichten. Wir werden einen ersten Zugriffskreis von dreihundert Metern um das Haus in spätestens einer Stunde einrichten. Das SEK wird an allen Punkten, die wir besetzen, Nachtsichtgeräte verwenden. Es ist Neumond. Das heißt, es wird heute Nacht komplett dunkel sein. Ich möchte, dass wir schnellstmöglich Zugriff auf die eingehende und ausgehende Kommunikation haben. Aus München kommt ein Team.«

Der Chef der Bereitschaftspolizei räusperte sich. »Wir haben von den Kollegen aus Sachsen eine neue Technologie. Die setzen Drohnen, also diese Minihubschrauber, bei Demonstrationen ein. Wir haben die seit ein paar Wochen in der Testphase. Die sind auch mit Nachtsichtkameras ausgestattet. Also, wenn Sie wollen …«

Dahmer sah zu Gaugenrieder, der nur grinsend nickte. »Solange sie unbewaffnet sind.«

Der SEK-Leiter machte sich am Telefon bemerkbar. »Müssen wir davon ausgehen, dass der Täter mit den Kindern flüchten wird?«

»Das wissen wir nicht. Wir sammeln gerade alles, was wir über den Typen finden können. Bis Ihr Team bei uns ist, haben Sie ein Dossier.« Sie sah fragend zu Gaugenrieder.

Der nickte. Er würde sich darum kümmern.

»Solange wir die Kinder nicht haben oder zumindest nicht wissen, wo sie sich befinden, brauchen wir den Täter möglichst unversehrt. Wir benötigen den Helikopter mit Wärmebildkamera. Und wenn es geht, sollen uns die österreichischen Hubschrauberkollegen unterstützen, damit wir keine Lücke haben, wenn unserer auftanken muss. Zugrifffreigabe erfolgt nur und ausschließlich von uns. In dreißig Minuten treffen wir uns wieder hier.«

Die Männer strömten auseinander. Es war keine Hektik oder Aufregung zu spüren.

Gaugenrieder sah zu Dahmer, deren Anstrengung er nur an den hektischen Flecken am Hals erahnen konnte. »Rufst du die Gerass an?«, fragte er leise.

Sie nickte und starrte aus dem Fenster in die einsetzende Dunkelheit. »Fritz, das darf nicht schiefgehen.«

Gaugenrieder grinste. »Wäre was für den Quercher.«

Sie schnellte herum. »Warum?«, fragte sie zornig.

»Weil der doch frühpensioniert werden will.«

Sie verzog das Gesicht. »Das blöde Arschloch«, sagte sie leise. Und dachte, dass es gut wäre, ihn jetzt dabeizuhaben.

Kapitel 15

Bad Wiessee, 30. 04., 19:34 Uhr

Lumpi liebte das Autofahren. Sie saß dann neben Max Quercher auf dem Beifahrersitz und schaute erhaben aus dem Fenster. Sie war nicht mehr die Jüngste, ließ sich nicht mehr von geifernden Hunden im Nachbarauto an der Ampel irritieren. Stattdessen sah sie mit müdem Blick an dem Kläffer vorbei, was diesen natürlich noch mehr aufregte.

Quercher war auf dem Weg ins Tal und sah zwei Hubschrauber der Bundespolizei auf einer Wiese neben der Straße stehen. Die Piloten unterhielten sich. Sie gehörten, nahm Quercher an, zu den Ermittlungskräften in Ostin, wo man immer noch nach den Kindern suchte.

Er griff nach seinem Telefon, auf dem Lumpi mit ihrem Hintern saß. Nur widerwillig ließ sie sich zur Seite schieben. Seine Schwester hatte gekocht und wartete mit dem Abendessen. Er wollte aber noch einmal in den See springen und eine Runde schwimmen. »Anke, warte nicht auf mich. Es dauert bei mir noch.«

»Okay, wie immer also. Übrigens, ich habe dich zum Maibaumaufstellen eingeteilt.«

»Wie bitte? Das ist doch nicht dein Ernst? Mit den ganzen Dorfdeppen?«

»Red nicht blöd daher. Du selbst bist schließlich auch einer. Und dumm rumstehen ist doch dein Hobby. Mehr verlangen die wohl nicht. Ab und zu musst du halt auch mal mit anpacken.«

»Ich bin noch rekonvaleszent. Ich darf nichts Schweres tragen.«

»Heulsuse, du sollst auch nicht tragen, sondern stemmen.«

Quercher verdrehte die Augen. Nichts war ihm mehr verhasst als diese bierselige Touristeninszenierung bayerischer Idylle. Aber vielleicht war die Idee seiner Schwester sogar ganz gut. Vielleicht traf er ein paar Bekannte, mit denen er einst in die Schule gegangen war. Allmählich musste er etwas Interesse am Leben im Ort zeigen, wenn er hier länger wohnen wollte. Er ergab sich in sein Schicksal und wollte schon auflegen.

»Warte noch kurz, Arzu will dich sprechen.«

Quercher stöhnte vernehmlich. Die WG-Mitbewohnerinnenmutti wollte bestimmt die neuesten Nachrichten aus dem LKA abfragen. Er hörte sie schnaufend ans Telefon kommen.

»Hallo Arzu, bevor du fragst: Ich weiß nichts von Ostin und den Kindern. Ich habe heute nur tote Katzen weggekratzt.«

»Schön für dich. Aber dein Mittagessen interessiert mich nicht. Und über Ostin weiß ich wohl mehr als du.«

»Toll, na und?«

»Sie haben den Täter.«

Er atmete tief durch. »Woher weißt du das?«

»Von den Kollegen. Kollegen, die keine Katzen essen.«

»Arzu, das ist nicht witzig. Da hat heute einer seine Katze mit Strom zu Tode gequält.«

»Ja, Max. Aber beim Schulfach ›Prioritäten‹ warst du krank, oder? Die haben den Täter und das ist Julia zu verdanken.«

Quercher wusste, dass Julia Dahmer und Arzu befreundet waren. Warum musste immer alles so kompliziert sein?

»Ja, es ist nicht mein Fall. Und ich möchte auch nicht, dass es mein Fall ist. Und dir muss ich wohl nicht sagen, dass ein Täter erst dann ein Täter ist, wenn man ihm …«

»… die Tat nachgewiesen hat. Schon klar.«

»Was weißt du noch?«

»Komm nach Hause, dann erzähl ich es dir. Und überfahr doch noch eine Katze als Nachtisch.«

Er stöhnte und legte auf. Vor ihm führte die Straße von Finsterwald hinunter zum Tal. Er war angekommen.

Das Tal – seine Heimat. Er war hier geboren worden, aufgewachsen, und kaum hatte er das Abitur am Gymnasium in Tegernsee gemacht, war er geflüchtet. Alles – nur keine Idylle mehr. Das hatte sich geändert. Er war zurückgekommen, hatte begriffen, dass es nicht der Ort war, der die Schwierigkeiten machte. Er selbst war es. Seine Bilder, die er im Kopf hatte und die er mit diesem Ort verband, waren das Problem. Aber seit einigen Wochen hatte er seinen Frieden mit dem Tal gemacht. Und jetzt hatte er sogar begonnen, wieder im See zu schwimmen. Das war insofern eine Überraschung für sein Umfeld, als jeder wusste, dass Querchers Vater sich im See ertränkt hatte und seine Leiche nie gefunden wurde.

Während Querchers Reha in einem der ansässigen Zentren hatte er das einer Therapeutin gegenüber erwähnt. Die kam aus dem Osten, kannte kein Mitleid, war aber lebensklug. »Der Körper Ihres Vaters wird nicht mehr da sein. Den haben die Hechte und Welse genommen. Ihr Vater ist nur noch in Ihrem Kopf. Den verwalten Sie, so wirken Sie zumindest, weitestgehend allein.«

Er hatte damals gelacht. Aber am Ende war es genau das. Es war in seinem Kopf.

Quercher hielt an seiner Lieblingsstelle, dem Gut Kaltenbrunn. Hier hatte er das erste Mal eine Frau geküsst. Hier hatte man den unglaublichsten Blick auf das Tal und den dahinterliegenden Blaubergkamm, dem Tor zu den Hauptalpen. Zudem gab es hier den einfachsten Einstieg in den See. Quercher parkte, Lumpi hüpfte aus dem Wagen, schüttelte sich und begann sofort zu schnüffeln. Gemeinsam liefen sie den Hang hinunter zum Wasser. Am Ufer angekommen, sah er rechts in ein Naturschutzareal und links zu einer kleinen Badestelle, wo aber nur vier junge Männer lagen und, dem Duft nach zu urteilen, kifften. Lumpi, die Wasser hasste, legte sich auf Querchers Lederjacke und sah ihm dabei zu, wie er über die Kieselsteine wackelte und die Beine immer wieder vor Schmerz anhob, ehe er mit einem Prusten ins Wasser glitt. Es war unfassbar kalt, aber er wusste, dass nur wenige Züge genügen würden, um seinen Körper zu wärmen. Gemächlich schwamm er Brust Richtung Süden auf die Berge zu. Nach fünfhundert Metern wendete er, sah zum Ufer und hörte Lumpi bellen. Quercher verharrte, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Die vier Typen waren aufgestanden und warfen mit etwas. Sollten sie etwa den Hund bewerfen? Er begann zu kraulen. Sofort schmerzte die Hüfte.

Als seine Zehen wieder den Grund berührten, richtete er sich auf. »Ey, was soll der Scheiß?«, rief Quercher.

Die Typen sahen zu ihm, lachten und zeigten ihm den Mittelfinger. Lumpi stand bellend vor ihnen. Irgendetwas war passiert, und bei Lumpi reagierte Quercher ausgesprochen niedrigschwellig. Der Schmerz in seinem Bein war ihm egal. Er stürmte durch das Wasser, den Kerlen hinterher, die aber den Weg hinaufliefen.

Einer von ihnen drehte sich um, spreizte seine Beine und machte mit seinem Becken eine eindeutige Vor- und Rückwärtsbewegung. »Komm doch, Humpelbein.«

Quercher blieb stehen, als ihm klar wurde, dass er die Typen nicht mehr würde einholen können. Er kannte sie nicht, vielleicht kamen sie aus München. Dann sah er zu Lumpi, die jetzt auf ihn zulief und zu seinem Missfallen an ihm hochsprang. Schließlich war er nackt.

»Aua! Du Suppenhuhn! Pass auf, wo du dich festkrallst!«

Er rubbelte sich mit einem T-Shirt ab, nahm das Hemd, das er über einen Holunderbusch gelegt hatte, und zog es an. Dabei versuchte er, halbwegs elegant in die Hose zu kommen, ohne vor seinem fragend schauenden Hund auf die Kiesel zu fallen. Genau das aber passierte. Sein Fuß verhakte sich im Hosenbein. Prompt verlor er das Gleichgewicht. Er fiel auf die Seite, fluchte laut und schloss schmerzverzerrt die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er das Kind.

Es saß in einer Astbeuge und war so vom Ufer aus kaum zu sehen. Quercher erhob sich, zog seine Hose an, schritt langsam über die Kiesel und stellte sich mit Lumpi unter den Baum.

»Hallo«, rief er, denn es schien ihm, dass das Kind sich bewegt hätte.

Es war ein Junge. Kaum älter als zehn Jahre. Er trug eine grüne Regenjacke, darunter war er bis auf eine Badehose anscheinend nackt. Der Junge gab keine Antwort und rührte sich auch nicht.

Verdammt, war das etwa eines der entführten Kinder?, schoss es Quercher durch den Kopf. Sein Handy lag im Auto. Wenn das hier ein Tatort war, durfte er auf keinen Fall mögliche Spuren zerstören. Wind kam auf, wehte über den See, trieb kleine Wellen auf. Quercher fröstelte.

»Mir ist kalt. Dir auch?«

Keine Reaktion.

»Wer bist du denn?«

Stumm.

Er musste handeln. Quercher wandte sich ab, um den Weg hinaufzulaufen. Lumpi aber blieb stehen und bellte kurz.

»Beißt der?«

Quercher schnellte herum. »Nein, das ist ein Mädchen. Die will nur mit dir sprechen. Deswegen bellt sie. Die sagt, dass du dir da oben eine Erkältung einfängst. Die Lumpi ist lieb.«

Der Junge blickte ihn abschätzend an. Er war kreidebleich und musste viel geweint haben. Seine Augen waren verquollen. »Aber du bist nicht lieb. Du willst mich wegnehmen.«

Quercher sah das Kind erstaunt an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Mathilde haben sie auch weggenommen.«

Quercher verstand nicht. Er musste den Jungen unbedingt von diesem Baum herunterholen.

»Ich bin von der Polizei. Komm, ich helfe dir.« Quercher ging ganz dicht an den Stamm. »Willst du nicht einmal die Lumpi streicheln?«

Sekunden verstrichen. Der Junge sah zu Lumpi, dann zu Quercher und wieder lange zu dem Hund. Anschließend drehte er sich und rutschte den Stamm hinunter in Querchers Arme. Doch er entzog sich ihm sofort wieder und bückte sich stattdessen zu der Hundedame, die erst einmal zurückwich.

»Du musst vorsichtig sein.« Quercher zog sein Hemd aus. Die Spuren waren ihm jetzt egal. Das Kind hatte blaue Lippen und schien erbärmlich zu frieren. Es war noch nicht Sommer. Kaum ging die Sonne unter, wurde es empfindlich kalt.

»Du musst ihr nur vorsichtig die Hand reichen.«

Und als ob Lumpi ahnte, dass der Junge jetzt Wärme brauchte, ging sie zwei Schritte zu ihm und drückte sich an ihn.

»Wie heißt du?«, fragte Quercher leise.

»Ich bin der Anderl.«

»Aha, und wo wohnst du?«

»Da!«Der Junge zeige auf die westliche Uferseite, wo Bad Wiessee lag.

»Bist du hierher geschwommen?« Quercher wollte wissen, ob jemand den Jungen hierhergebracht, sich womöglich an ihm vergangen hatte. Es dämmerte. Sicher suchten die Eltern schon nach Anderl. Entschlossen griff Quercher, der noch nie Kinder beaufsichtigt hatte, dem Jungen unter die Arme, hob ihn hoch und trug ihn zum Auto. Noch bevor er das Fahrzeug erreicht hatte, war der Junge eingeschlafen. Quercher legte ihn auf den Vordersitz, verfrachtete Lumpi nach hinten, drehte die Heizung an und fuhr nach Bad Wiessee zur dortigen Polizeiinspektion.

Nach den Ereignissen im Winter, in deren Verlauf Querchers hartnäckiges Recherchieren dazu geführt hatte, dass der langjährige Leiter der Bad Wiesseer Polizei in die Frühpensionierung geschickt wurde, hatte man dort einen kompletten Führungswechsel vorgenommen. Seit zwei Monaten wurde die Dienststelle nun von einer Frau geleitet. Diana Wandlinger war aus der Oberpfalz hierher versetzt worden. Quercher hatte sie kennenlernen dürfen, weil Arzu sie zu einem Abendessen eingeladen hatte. Natürlich ohne ihn zu fragen. Überhaupt meinte Arzu, ein in Querchers Augen seltsames Frauennetzwerk im Ort etablieren zu müssen.

Diana Wandlinger war das, was man eine stattliche Erscheinung nannte. So groß wie Quercher, mit dicken braunen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren und Schultern wie eine Leistungsschwimmerin. Quercher wusste von den Kollegen, dass sie sie nur ›das Wandling‹ nannten, weil sie so groß und breit war. Es schien sie nicht zu stören.

Die haut dir auch aufs Maul, wenn der Kaffee morgens kalt ist, dachte Quercher anerkennend, als er die Kollegin hinter der Glastür der Polizeiinspektion sah.

Wandlinger öffnete die Tür und schaute ihn fragend an. »Ich denke, du stehst auf Katzen?«

Toll, Arzu, warum stellst du meine Ermittlungen nicht gleich ins Internet, dachte Quercher missmutig. »Den Jungen habe ich beim Baden gefunden. Er heißt …«

Ein junger Polizist bog um die Ecke und rief: »Das ist der Gschwandner Andreas! Die Eltern sitzen hier vorn.«

»Herrgott, schrei nicht so, du weckst den Kleinen auf«, fauchte Wandlinger.

Ein junges Ehepaar trat hinter den Kollegen, schob ihn beiseite und stürmte auf Quercher zu. Erst nachdem er den Jungen behutsam übergeben hatte, bemerkte er, dass seine Arme schmerzten.

Ohne gefragt zu werden, begann die Mutter, eine zierliche Person, zu erklären. »Andreas hat eine kleine Freundin. Das ist die Mathilde vom Baumschneider Sepp. Also die, die entführt wurde. Und jetzt hat er Angst, dass man auch ihn holt. Da ist er heute Abend weggelaufen. Ein Freund von uns ist mit einem Bulli vorbeigekommen, mit einem weißen. Da dachte der Anderl, dass … also, dass er jetzt dran sei. Er ist doch erst sieben Jahre alt.«

Sie weinte. Ihr Mann, der den schlafenden Andreas im Arm hielt, sah betreten auf den Boden.

Eine peinliche Stille trat ein, die aber von der Wandlinger unterbrochen wurde. »Gut, dann wäre der Fall vom LKA ja mal gelöst worden und alle können jetzt Feierabend machen.«

Die Mutter wischte sich über das Gesicht, stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte Quercher. »Bist ein Guter, danke.«