Kapitel 16
Bad Wiessee, 30. 04., 22:01 Uhr
Er saß mit seiner Schwester Anke und seiner Untermieterin Arzu auf der Terrasse. Quercher hatte in einem Feuertopf Holzscheite angezündet und jedem eine Wolldecke gegeben. Sie hatten sich einen Rotwein aus Sizilien aufgemacht, aßen Oliven und alle fühlten sich wohl. Arzus Kind Max Ali schlief selig in einer Wiege. Vom Breitenbachtal her zog ein kühler Wind zu ihnen und verscheuchte die Mücken. Das war einer der Vorteile des Lebens am See: Hier wurde es abends nie so stickig und schwül wie in der Stadt. Es war, als ob das Wetter in der Nacht immer aufräumen wollte.
»Du gehst bitte morgen zum Maibaumaufstellen. Das ist wichtig. Das Schützenstüberl hat dafür sogar ein Schild gespendet. Mein Mann meint übrigens, in dieser Zeit zum Tauchen gehen zu müssen.«
Anke war mit einem Österreicher verheiratet. Der nutzte jede Möglichkeit, um zum Tauchen zu verschwinden. Das war sein Hobby und es war kostspielig. So sehr, dass die beiden mit ihrer Kneipe immer am Rande der Insolvenz entlangschrappten. Aber Anke war klug genug, ihren Mann, der zudem auch noch der Koch in ihrer gemeinsamen Gaststätte war, gehen zu lassen. Sie wusste, dass viele Köche nach den Jahren in der Küche unzufrieden wurden. Also ließ sie ihm sein Hobby. Das bedeutete zwar mehr Arbeit für sie. Aber umso mehr genoss sie die ruhigen Momente wie jetzt auf der Terrasse. Und sie war glücklich, ihren Bruder hier zu haben. Auch wenn sie ihm das nie sagen würde. Seit dem Tod der Mutter hatte sich Max verändert. Irgendwie suchte er noch seine Rolle. Aber er wollte hierbleiben. Sein Fluchtpunkt Salina war in den Hintergrund getreten, glaubte Anke zu wissen. Die Entführung der Kinder hatte über die gerade erst entstehende Idylle einen Schatten gelegt. Sie hatte gehofft, dass sich ihr Bruder stärker engagierte. Es war eine blöde Angewohnheit, aber sie wollte in ihm noch immer den Helden sehen, der alles im Leben regeln konnte.
»Jetzt füg dich doch einmal ein! Du bist schon wie diese ganzen zugezogenen Preußen hinter ihren gigantischen Hecken. Hier wohnen wollen sie, aber sich in die Gemeinschaft einbringen, das wollen sie nicht. Keinen Handschlag tun sie!«
Quercher kannte das Lamento. Es war eine zwiespältige Diskussion. Einerseits verstand er die Einheimischen. Sie wollten ihre immer mehr auseinanderdriftende Gemeinschaft, die über Tradition, Sprache und Vereine mühsam aufrechterhalten wurde, nicht aufgeben. Aber die jungen Leute gingen früher oder später fort, und immer mehr Alte, die hier ihren Ruhesitz fanden, kamen. Andererseits konnte man als Zugezogener nicht auf Integration hoffen. Man ließ die ›Preissn‹ mitspielen, aber aufgenommen war man damit noch lange nicht. Zumindest nicht in den einfachen Kreisen. Es war ein stilles Ringen um die Vorherrschaft am See. Und den Klugen und Weitsichtigen war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch hier die Globalisierung mit all ihren Vor- und Nachteilen ihre Spuren hinterlassen würde.
»Was werden sie jetzt tun?«, fragte Anke leise.
Arzu wie auch Max wussten, was sie meinte. Menschen wie Anke, die die Polizeiarbeit nur von außen kannten, konnten sich kein Bild von solchen Momenten machen. Sie kannte Zugriffe nur aus dem Fernsehen, wo Männer mit finsterem Blick und gezogener Waffe Türen eintraten und den Täter überwältigten, die Kinder befreiten und danach als Helden am Polizeiwagen lehnten und Kaffee tranken. Doch sowohl Arzu als auch Max hatten schon solche Situationen hinter sich. Zugriffe waren ein Grauen. So ziemlich alles konnte trotz guter Vorbereitung, umfassender Aufklärung und genauester vorheriger Analyse schiefgehen. Ging alles gut, war das selbstverständlich. Aber jeder noch so kleine Fehler wurde hinterher von den Medien seziert, wurde als doch vorhersehbar bewertet. Was es für einen Menschen bedeutete, in einen für ihn völlig unbekannten Raum zu stürmen, nicht wissend, was ihn erwartet – ein Schuss, ein Schlag oder eine Explosion –, das konnten sich die wenigsten ausmalen.
Arzu erzählte leise, wie ihr bei einem Zugriff in einer illegalen Spielhölle ein Täter eine Tellermine zugeworfen und geschrien hatte, dass sie aktiviert sei. Es stellte sich heraus, dass es eine Attrappe war, aber Arzu war danach versucht gewesen, den Typen zusammenzuschlagen.
»Ich möchte nicht da oben in Ostin sein«, antwortete Arzu auf Ankes Frage. »Du kannst alles checken, aber du weißt zum Beispiel nicht, ob er allein ist, ob die Kinder an irgendeiner Sprengladung befestigt sind, die bei dem Zugriff auslöst. Vielleicht sind sie auch überhaupt nicht da und er hat sie irgendwo anders versteckt.«
Quercher wollte an diesem schönen Abend nicht an das Grauen dort oben denken. Er fühlte auf sonderbare Weise mit der Dahmer. Er spürte, wie angespannt sie jetzt sein musste. Lief beim Zugriff etwas schief, wurden vielleicht Kinder verletzt. Dann könnte sie ihre Karriere bei der Polizei vergessen.
»Jetzt erzähl uns doch einmal die Katzengeschichte, du Kinderflüsterer«, stichelte Arzu, als sie sah, wie sehr Quercher die Situation berührte.
Er atmete tief durch. Noch vor nicht allzu langer Zeit war er abends mit seinen Fällen allein nach Hause gegangen. Deswegen waren ihm solche Gespräche fremd, wenngleich nicht unangenehm. »Ein Soldat bringt sich auf mysteriöse Art und Weise um. Erst quält er eine kleine Katze zu Tode, dann steht er auf, zieht sich an, fährt zu einer Kläranlage, legt sich Handschellen an, springt in ein Klärbecken und ertrinkt.«
Anke verzog das Gesicht.
Quercher fuhr fort. »Oder: Er steht auf, wird überwältigt, zur Kläranlage gebracht, gefesselt und hineingeworfen. Und zwar ohne sich dabei zu wehren, wohlgemerkt. Ein Elitesoldat der KSK-Truppen. Keine Hämatome. Nichts.«
»Dann ist der Fall doch klar, was machst du dir noch für Gedanken?«, fragte Anke.
Er wiegte den Kopf, sah hinüber in Richtung des dunklen Waldes und lauschte dem Wind, der durch die Äste fuhr. »Das sagt der Mann vom MAD, den die Bundeswehr geschickt hat, auch. Der Soldat war vorher in Afghanistan gewesen. Ich besuche morgen die Schwester in Innsbruck. Wenn dabei auch nichts herauskommt, schließe ich den Fall tatsächlich ab.«
Sie hörten Sirenen und das entfernte Knattern eines Hubschraubers. Quercher fragte sich, wann der beste Zeitpunkt für einen Zugriff wäre. Er würde ihn am Morgen durchziehen, kurz nach Sonnenaufgang. Der Täter wäre im besten Fall noch im Tiefschlaf. Würde ihm doch die Flucht gelingen, hätten die Ermittler für viele Stunden das Tageslicht. Er war sich sicher, dass sie genauso vorgehen würden. Das alles könnte funktionieren. Wenn der Täter nicht schon einen Schritt voraus war. Dann war alles hinfällig. Dann würden die Kollegen improvisieren müssen oder in eine Falle laufen. Und die konnte tödlich sein.
Kapitel 17
Ostin, 01. 05., 04:28 Uhr
In siebzehn Minuten würden sie zugreifen. Jeder hatte seine Anweisungen und Positionen erhalten und war vorbereitet. Gaugenrieder und Dahmer hatten sich Baupläne des Anwesens besorgt. Der Ablauf war gut organisiert, fanden die beiden. Kaum Kompetenzgerangel, alle zogen an einem Strang. In Ostin waren Rettungskräfte in Alarmbereitschaft versetzt worden, die in kürzester Zeit unterstützen konnten. Jeder Zufahrtsweg war doppelt gesichert. Der Kordon war in den letzten Stunden unauffällig dichter gezogen worden. Ein Milchfahrer, der am Abend vorher den Hof für einen kurzen Schwatz angefahren hatte, wurde abgefangen und über die bevorstehende Aktion informiert. Daraufhin fuhr ein Polizist als sein vermeintlicher ›Kollege‹ mit ihm mit. Der berichtete, dass sich die Familie völlig normal verhielt, nichts ahnte. Mit einer Minikamera hatte der Mann schon den Stall und einige Innenbereiche wie den Wohnraum filmen können.
Dahmer hatte sich das Video mehrmals angeschaut. Einmal war Toni Knöchel kurz zu sehen. Er trug einen dunklen Trainingsanzug, sah den fingierten Milchfahrerkollegen mit einem Lächeln an und verschwand dann in den oberen Bereich des Wohntrakts. Für eine Sekunde kamen Dahmer Zweifel. Verhielt sich so ein Kidnapper? Einer, der jeden Fremden fürchten musste?
Jetzt standen die zwei Chefermittler im mobilen Einsatzzentrum und hörten den Funkverkehr der SEK-Einheit. Sie hatten dem Ziel Toni Knöchel mit Bruch einen nicht wirklich originellen Codenamen gegeben und sich in drei Gruppen aufgeteilt. Das erste Team, Alpha, nahm sich den Wohntrakt vor, das zweite, Bravo, würde die Tenne klären, und Charlie hatte den Stall bekommen. Das war die heikelste Aufgabe. Hier waren fünfzehn Rinder untergebracht.
»Also Kühe«, hatte Dahmer bei der letzten Teambesprechung gesagt und wurde von dem vom Land stammenden Gaugenrieder sanft korrigiert. »Kühe sind es erst, wenn sie gekalbt haben. Und einige von ihnen sind noch nicht so weit. Mit Rindern machst nichts falsch.«
»Nur mit Bullen«, hatte sie schnippisch erwidert.
Er hatte sanft gegrinst.
Wenn eines der Teams Knöchel stellte, würde die Bereitschaftspolizei sofort das Haus nach den Kindern durchsuchen. Im eigentlichen Operationszentrum, einem umgebauten Bus, würde Knöchel erstmals verhört werden. Er sollte so wenig Zeit wie möglich haben, sich eine Lügengeschichte auszudenken. Meist waren Aussagen in den ersten Minuten nach so einem Zugriff die besten und aussagekräftigsten.
Das Anwesen lag auf einem Hügel oberhalb eines kleinen Tals. Die Straße nördlich vom Hof war von Dahmer für den Verkehr gesperrt worden, was aber um diese Uhrzeit nicht weiter auffiel. Südlich trennte nur eine in eine Senke fallende Wiese das Haus vom Bergwald. Hinter den Gebäuden führte ein Weg hinauf zu den ersten kleinen Bergzügen.
Noch lag alles im Dunkeln.
Ab und an hörte man ein Tier im Stall rufen. Die erste Amsel begann zu singen.
Ein Tag wie aus der Touristenbroschüre.
In dreißig Minuten ging die Sonne auf. Das Zwielicht zuvor wäre ideal für den Zugriff und die drei Scharfschützen gewesen, die sich um das Haus herum positioniert hatten. Der vierte Mann hatte sich krankmelden müssen, denn sein Hund hatte ihn gebissen. Die anderen Kollegen, die hätten einspringen können, waren auf einer Fortbildung in Berlin.
Im oberen Stockwerk ging ein Licht an und Sekunden später wieder aus.
»Alpha, wer ist das?«, fragte Dahmer, die jetzt länger als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen war.
Es rauschte. Dann die Antwort. »Nicht Bruch. Scheint Bauer zu sein.«
Warten.
Dahmer sah zu Gaugenrieder, der wiederum auf die Uhr deutete. »Er geht zum Melken. Zeit ist’s.«
Dahmers Nerven brannten förmlich.
Der SEK-Leiter funkte sie an. »Wollen wir den haben?«
Dahmer dachte nach. Was, wenn er schrie und Knöchel warnte? Dann entschied sie. »Nehmen, aber still. Ich will nichts hören.«
»Positiv«, kam es zurück
Im Erdgeschoss erhellte ein Licht die Küche. Über die Kamera am Helm des Einsatzleiters, deren Bild direkt in die Einsatzzentrale gefunkt wurde, konnten Dahmer und Gaugenrieder alles live verfolgen. Wie sich der Bauer am Sack kratzte, wie er verschlafen in der Nase bohrte. Das Radio anschaltete. Die Kaffeemaschine aktivierte. Und wie er das Licht wieder ausschaltete.
»Geht er zum Stall, nehmen wir ihn da«, kam es vom SEK-Leiter, der jetzt die Entscheidungsbefugnis für die Einzelheiten des Zugriffs besaß. So war es abgestimmt mit den beiden LKA-Kollegen.
Der Bauer setzte sich eine Mütze auf und schlurfte jetzt über den Hof. Eine Katze huschte vorüber. Er blieb vor dem Tor stehen, reckte sich und ein deutlicher Furz erschall. Dann leuchtete im Obergeschoss wieder ein Licht.
»Wer ist das?«
Pause.
»SEK – bitte kommen. Wer ist das? Bitte identifizieren«, forderte Dahmer ihren Kollegen auf.
»Nach den Plänen ist das wohl Zimmer von Zielperson.«
»Kein Zugriff. Ich wiederhole: kein Zugriff!«, schaltete sich Gaugenrieder ein.
Dahmer sah ihn erstaunt an.
»Wenn er das SEK sieht, reagiert er. Lieber soll er runterkommen, dem Alten helfen und wir greifen im Stall zu. Ohne die Wohnung zu stürmen. Der Bauer wird die Rinder auf die Weide treiben und Knöchel wird melken müssen – oder andersherum. Aber Hauptsache, sie sind vom Haupthaus weg.«
Dahmer verstand. In Räumen zuzugreifen, war immer heikel. Wenn Waffen eingesetzt wurden, konnte es schnell zu Querschlägern kommen, Unschuldige wurden verletzt.
Sie warteten. Wieder ging das Licht in der Küche an. Aus dem Stall hörten sie ein Rufen, ein Pfeifen, so als ob jemand angetrieben wurde. Tatsächlich trieb der Bauer mit einem krummen Stock die Rinder aus dem Stall. Gemächlich trotteten sie über den nicht gepflasterten Hof.
»Simmentaler Fleckvieh«, flüsterte Gaugenrieder, »einfach köstlich!«
Dahmer sah ihn stumm, aber strafend an. Gaugenrieder verzog nur das Gesicht und biss in eine weiche Semmel.
Acht Rinder hatte der Bauer jetzt vor sich, die den Hof nach Süden überquerten. Und noch immer war Knöchel nicht aus dem Haus gekommen.
Dahmer fluchte. »Okay, wenn der Bauer außerhalb des Hofes ist, greift ihr ihn euch«, wies Dahmer jetzt an.
Wieder eine Pause.
»Empfehle, mit Zugriff zu warten, bis Bruch kommt«, antwortete der SEK-Leiter.
Die Tiere erreichten einen abschüssigen Feldweg und wurden jetzt schneller. Ihre Glocken, die sie unterhalb des Kopfes an der Wamme trugen, klangen wie ein schlecht dirigiertes Orchester.
In diesem Moment huschte eine Gestalt vom hinteren Teil des Hauses in die Herde hinein und schrie. Der Bauer stutzte und schrie ebenfalls etwas.
»Das ist er!«, rief Dahmer.
»Positiv, Zugriff. Sofort Zugriff«, forderte der SEK-Leiter.
Nur war keines seiner Teams auf der Höhe der Herde. Selbst Team Charlie war weiter oberhalb postiert und musste im wahrsten Sinne des Wortes dem Ziel hinterherrennen.
Ein Rind dieser Rasse hatte eine Widerristhöhe von einhundertdreißig Zentimetern und brachte in dieser Phase bis zu sechshundert Kilo auf die Waage – was der Hälfte des Gewichts eines Autos entsprach. Gefährlich waren zudem die aus Traditionsgründen nicht abgeschnittenen Hörner, die sich leicht nach außen beugten.
Der Weg wurde steiler. Während der Bauer am Hof zurückblieb, rannte Knöchel zwischen den Rindern herum. Mal schmiegte er sich an ihre Körper, mal stieß er sie von sich weg, wenn die Rinder zu eng an ihn herankamen. Er schien das nicht zum ersten Mal zu machen. Der SEK-Leiter folgte Team Charlie. Die Bilder, die die Kamera an seinem Helm aufnahm, waren jetzt verwackelt und kaum zu erkennen. Sie hörten den Atem des Kollegen, sahen den Lauf seiner Maschinenpistole.
»Zielschützen aktivieren«, rief der Leiter schnaufend.
Prompt kam die Antwort. »Negativ, Ziel bewegt sich zu schnell aus unserem Radius, ist zudem von Tieren abgedeckt. Keine Chance.«
»Wen haben wir da unten, am Ende des Weges?«, fragte Dahmer in den Funk.
»Eine Streife, die etwas östlich steht, und im Wald selbst vier Kollegen der Bereitschaft.«
Gaugenrieder übernahm das Anfunken. »Die sollen ihn rausfischen!«
Die Rinder brüllten jetzt. Das schnelle Tempo gefiel ihnen offensichtlich nicht. Aber die Gefahr des Fallens und die Person in ihrer Herde versetzte sie zusätzlich in Panik und ließ sie noch schneller werden.
Der Streifenwagen fuhr mit Vollgas aus einer Waldschneise, wo die Kollegen ihn bisher gut getarnt versteckt hatten. Sie würden die Herde rammen. Es würde nicht schön sein, aber so konnte es klappen.
Die Herde war noch fünfzig Meter vom Wald entfernt. Und noch immer war kein Zugriff erfolgt oder ein Schuss gefallen.
»Hubschrauber anfordern«, rief der SEK-Leiter.
Dahmer nickte. Nicht weit von ihnen kreiste mit immer schneller werdenden Rotoren ein Helikopter der Bundespolizei.
Noch zwanzig Meter.
Der Polizeiwagen rumpelte über Schlaglöcher und hatte die Herde beinahe erreicht. Doch dann lenkte der Fahrer das Fahrzeug zu nah an die Böschung. Der linke Reifen rutschte ab und riss den Wagen weiter nach links. Dort stand eine Esche im Weg. Mit einem lauten Knall prallte das Auto gegen den Baum, Airbags explodierten. Metall verschob sich quietschend.
»Notarztteam bereitstellen«, rief der SEK-Leiter schrill.
Jetzt hatten die Kühe fast die Wiesensenke erreicht. Der Weg war für wenige Meter von hoch aufragenden Linden gesäumt, sodass sie wie durch einen Tunnel liefen.
Es war nur ein Schatten oder eine Ahnung, aber dem Teamleiter war, als ob die Gestalt die Herde nach rechts verlassen hatte. Er befahl drei seiner Männer, nach rechts zu schwenken und hinter den Bäumen weiterzulaufen.
Aus dem Wald traten vier Polizisten der Bereitschaftspolizei. Sie trugen Helme, Schutzwesten und hatten die Waffen im Anschlag. Einer von ihnen kam von einem Hof im Allgäu und hatte Erfahrung mit Tieren. Er hatte Kontakt zum Operationszentrum. Aber den nutzte er nicht. Stattdessen schoss er gezielt auf das erste Rind und traf tatsächlich den Kopf. Ein zweiter Schuss traf unterhalb in den Hals. Noch zwei Meter, dann knickten dem Tier die Vorderbeine weg und es fiel zur Seite. Das nachfolgende Rind konnte nicht ausweichen und ging ebenfalls zu Boden. Es versperrte jetzt den ganzen Weg und prompt fiel auch das hinter ihm laufende Tier. Das dritte wich nach links in die angrenzende Wiese, die aber von einem Stacheldraht eingezäunt war. Das Tier schrie auf und machte einen gewaltigen Sprung. Und wie von Geisterhand bremsten die anderen Rinder ab. Der Bereitschaftspolizist war nach vorn gelaufen, über das bereits tote Vieh gesprungen und zwischen den Tieren, die sich jetzt gegenseitig schoben und stießen, suchend mit vorgehaltener Pistole herumgelaufen. Auch das SEK-Team war inzwischen da.
Von Toni Knöchel gab es keine Spur.
»Zugriff Haus und Rest – jetzt!«, befahl Dahmer. Ihr Atem ging rasselnd. Wurde das hier ein Albtraum?
Die restlichen Teams stürmten aus ihren Verstecken. Kurze Zeit später hatten sie die Frau des Bauern, den Bauern selbst und auch das behinderte Kind auf dem Hofplatz in Gewahrsam genommen. Dahmer gab den Befehl zum Einsatz der Suchmannschaften. Parallel sah sie die Kollegen links und rechts neben der Herde ausströmen.
»Was ist los? Einschätzung!«
»Er ist vor uns. Ganz sicher. Wir brauchen die Hundeführer. Er ist im Wald.«
Stille.
Dahmer sah zu Gaugenrieder, der die Hände vor sein Gesicht presste und »Scheiße!« stöhnte.
Toni Knöchel hatte nach seiner Zeit im Jugendknast eine Sucht nach Natur entwickelt. Die Enge der Zelle, der schlimme Duft aus Angst, Pisse und Gewalt trieben ihn immer wieder hinaus ins Freie. Jedes Survival- und Waldläuferbuch, das er kriegen konnte, verschlang er. Das hier war sein Revier. Hier kannte er alles. Mit etwas mehr Vorlauf wären die Beamten auch so auf diese Sucht gekommen. Knöchel hatte das alles dezidiert auf seiner Facebookseite erklärt, immer wieder Videos mit Waldläufen und Tricks zum Überleben in der Natur hochgeladen und gepostet. Aber keiner hatte sich um diese Seite gekümmert.
Er hatte sich nach rechts in eine Morastwiese geworfen und zur Tarnung so viel Schlamm wie möglich auf seine Haut geschmiert. Zudem sollte der kalte Schlamm verhindern, dass man ihn vom Hubschrauber aus mit einer Wärmebildkamera erkennen konnte. Dann war er gebückt hinauf in den Wald gelaufen. Er ahnte, dass sie bald mit Hunden kommen würden. Wie ein Tier versuchte er jetzt zu agieren. Den Atem regulieren, Spuren verwischen und schnell vorwärtskommen. Vor ihm lag der Bergwald. Er würde versuchen, unbemerkt zur Gindelalm zu gelangen. Dort hatte der Wirt in einem Schuppen Mountainbikes deponiert. Toni brauchte für die Strecke nicht mehr als eine halbe Stunde. Die Polizisten hinter ihm würden im Wald nicht so schnell vorankommen. Da war er sich sicher.
Toni Knöchel hätte sicher die Alm erreicht. Und wahrscheinlich wäre er mit dem Mountainbike unter den ersten Radfahrern, die am 1. Mai aus der Stadt herausgekommen waren, untergetaucht und hätte vielleicht auch die österreichische Grenze erreicht. So wie es sein Plan vorgesehen hatte. Aber als er auf einer Lichtung angelangte, sah die magen- und darmkranke Bereitschaftspolizistin, die sich hinter einem Holzschober hatte entleeren müssen, wie er auf sie zulief. Sie hockte. Und das war die denkbar schlechteste Position. Aber sie hatte über Funk alles gehört. Obwohl ihr Darm noch immer brummelte, zog sie ihre Hose hoch und drückte sich gegen die Holzwand. Sie öffnete das Holster, zog die Waffe und entsicherte sie. Erste Sonnenstrahlen erleuchteten die Wiese, über die eine Gestalt in ihre Richtung hetzte. Sie durfte nicht schießen, dachte sie. Er sollte unverletzt zu den Fahndern gebracht werden. So hatten sie es bei der letzten Besprechung eingeimpft bekommen. Er würde über einen Drahtzaun wenige Meter vor ihr steigen müssen. Sie war jung und vor wenigen Monaten noch auf der Polizeischule in Bayreuth gewesen. Sie schwitzte. Jetzt erst fiel ihr ein, dass sie über Funk die Kollegen verständigen musste. Sie tat es, aufgeregt, aber leise.
Dann war die Gestalt da. Die Polizistin hatte einen Schlagstock am Gürtel und zog ihn. Der Mann warf sich zu Boden und wollte unter dem Draht hindurchkriechen. Denn darüber, das sah sie erst jetzt, war noch ein feiner Elektrodraht gezogen worden. Sie rannte die vier Schritte auf den Mann zu, der inzwischen am Boden lag und schrie. Kaum war sie bei ihm angelangt, schwang er seine Beine gegen die ihren. Sie war überrascht und wollte den Schlagstock nach unten ziehen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Der Strom war schmerzhaft, brannte und zwickte. Sie wollte sich wegwälzen. Bloß weg vom Strom! Der Mann hatte sich aufgerappelt, nach ihren Haaren gegriffen und ihren Kopf hochgezogen. Weil sie schreien wollte, öffnete sie unvorsichtigerweise den Mund. Mit einem Ruck drückte er ihr Gesicht nach unten und der Elektrodraht presste sich in ihre Mundwinkel. Ein grauenhafter Schmerz durchfuhr sie. Ihre Zunge schwoll an, die Augen verdrehten sich. Ihr Kopf schien zu zerplatzen. Er zog sie wieder weg, riss einen losen Stacheldraht am Zaun ab und wickelte ihn ihr um den Hals. Ehe sie bewusstlos wurde, entleerte sich ihr ohnehin geschundener Darm um ein weiteres Mal.
Toni Knöchel drehte sich um. Es hatte ihm Spaß bereitet. Jetzt lag nur noch die verdammte Wiese vor ihm. Danach kam dichter Wald. Sein Revier.
Er vernahm ein Geräusch. Es war nicht sonderlich laut, kam aber beständig näher.
Der Hubschrauberpilot hatte seine Eurocopter EC120-Maschine schon über beengteren Plätzen geflogen. Die Wiese war zwar abschüssig, aber landen wollte er ja auch nicht. Er sah die Zielperson am Weidezaun. Sah aus dem Cockpit, wie sie die Waffe der Kollegin an sich nahm. Mit einem Ruck des Joysticks, der sich zwischen seinen Beinen befand, zog er den Helikopter nach unten und gleichzeitig nach vorn. Die Gestalt erstarrte, wollte die Waffe ziehen, bemerkte im Krach des tiefer fliegenden Hubschraubers aber nicht die drei SEK-Männer, die hinter ihm über den Weidezaun sprangen. Mit einem Sprung im Laufen trat einer der drei den Mann in den Rücken. Und Sekunden später hatten sie ihn fixiert. Noch an Ort und Stelle zwangen sie ihn in einen weißen Schutzoverall und in weiße Schuhüberzieher. Sie nahmen mit einem mobilen Gerät seine Fingerabdrücke, funkten sie zum Operationszentrum. Dann setzten sie ihn in den Hubschrauber, flankierten ihn links und rechts und nickten dem Piloten zu.
Während sie an Höhe gewannen, konnten sie einen Notarzt erkennen, der mit einem Koffer in der Hand zu der Kollegin am Zaun lief. Der Gefangene beugte sich nach links, um zu der Frau hinunterzusehen. Er grinste, als er den Arzt sah, der sich um die Bewusstlose kümmerte.
Der SEK-Mann neben ihm grinste ebenfalls, ehe er ihm mit der Faust zwischen die Beine schlug und den Kopf an die Wand drückte.
Sie hatten Antonius Knöchel gefasst.
Kapitel 18
Bad Wiessee, 01. 05., 08:38 Uhr
»Ihr habt das Schwein.«
Quercher hörte das nicht zum ersten Mal. Schon als er um sieben Uhr in die Küche gekommen war, hatte Anke das Radio laut aufgedreht und dann exakt das gesagt, was ihm jetzt der Zimmermann Johann Zehetmeier mit großer Freude entgegenrief.
Auf einer Wiese neben der Hauptstraße lag bereits der Baum im Gras. Frauen in ihren traditionellen Gewändern, der Schalktracht, standen in Gruppen zusammen. Noch spielte keine Blasmusik. Es war ein ruhiger Morgen. Zwei Verkaufsstände für Bier und Leberkässemmeln wurden aufgebaut. Bis zum Mittagsläuten um zwölf Uhr musste der Baum stehen. Der Zimmermeister, der dieses Prozedere schon seit Jahren leitete, war die Ruhe selbst. Mit seiner Lederhose, dem wollenen Janker, den Wadenwärmern und den Bergschuhen gab er das prachtvolle Bild eines Paradebayern ab. Auch die anderen, die Quercher noch von seiner Schulzeit kannte, trugen Tracht.
Quercher hatte natürlich nicht die von Anke präferierten Lederhosen angezogen. Die Bewohner des Ortes duldeten das. Nicht nur, weil Quercher mit seiner eigenwilligen Aktion im Winter den Ort vor einem großen Wirtschaftsdesaster bewahrt hatte, sondern weil er ein Einheimischer war. Er hätte auch in einem Zebrakostüm zwischen ihnen sitzen können.
Der Fichtenstamm musste noch präpariert werden. Das erledigten die jungen Männer der Jugendfeuerwehr. Das mehr als fünfundzwanzig Meter lange Holzstück war – natürlich – blauweiß gestrichen worden und lag im Gras. Mehrere Dutzend Männer in kurzen Lederhosen, weißen Leinenhemden und grauen Schafswollwesten standen herum und warteten darauf, es mit schweren Stangen, die am oberen Ende mit Seilen verbunden waren, vorsichtig anzuheben. Das musste mit Bedacht passieren. Denn schon ein leichtes Abrutschen oder ein zu starkes Hin- und Herschwenken des Baumes würde ihn brechen lassen. Das wäre der größte anzunehmende Unfall an diesem Tag. So etwas würde sich in Windeseile im ganzen Tal herumsprechen und die Wiesseer Männer zum Gespött für Wochen machen. Aber dafür gab es Johann Zehetmeier, der die Männer beim Anheben und Ausrichten stundenlang antreiben und wieder bremsen würde. Der Baum würde Meter um Meter in die Vertikale gerichtet werden, zwischenzeitlich von den mit Hanfseilen zusammengehaltenen Stangen gestützt. Es forderte erheblich Kraft und Ausdauer. Und sosehr die Einheimischen die Touristen von auswärts verachteten, so stolz waren sie dann doch, wenn diese ihre kleinen Digitalkameras herausholten und fotografierten.
Quercher saß an einem Biertisch und trank eine Cola. Neben ihm hob der Besitzer eines örtlichen Autohauses an, die Lage in Ostin zu erklären.
»Der Hund redet nicht, haben sie im Radio gesagt. Die Kinder haben sie immer noch nicht gefunden. Ich würd’s ja aus ihm rauskriegen.«
Quercher atmete tief ein. Es war mal wieder die Stunde der Lynchjustiz, zumindest der verbalen. Er hatte am Morgen kurz mit Gaugenrieder sprechen können. Tatsächlich hatten sie Knöchel gefasst. Doch der schwieg eisern. Kein Wort brachten sie aus ihm heraus.
Das war das Risiko eines Zugriffs. Man hätte ihn auch so lange observieren können, bis er sie zu den Kindern geführt hätte. Aber das wiederum hätte bedeuten können, dass er sie in dieser Zeit tötete. Und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Täter während einer Observation plötzlich vor den Augen der Polizei verschwand. Insgeheim hofften Polizisten, dass ihre Verhörmethoden zum Erfolg führten. Zumindest hatte man den Täter. Dahmer und Gaugenrieder hatten richtig gehandelt, fand Quercher. Aber das konnte er hier keinem klarmachen.
»Was meinst du, Max? Wird er gestehen und sagen, wo die Kinder sind?«
Quercher sah den Zimmermeister müde an. »Hansi, die Kollegen haben erst einmal jemanden, der mutmaßlich eine Frau vergewaltigt und getötet hat. Mehr nicht. Alles andere ist noch nicht bewiesen.«
Der Kollege Gaugenrieder hatte ihm schonungslos vom fast katastrophalen Verlauf des Zugriffs erzählt. Am Ende hatte er Quercher gebeten, weiter am See die Ohren aufzuhalten. Gaugenrieders Privatthese war, dass Knöchel Komplizen hatte, womöglich von hier. Das war auch der Grund, warum Quercher überhaupt mit den Männern hier saß, sich über Autos und andere Belanglosigkeiten unterhielt. Männer im Oberland, speziell Handwerker, waren die größten Tratschen, wenn sie unter sich waren. Das galt vor allem für die, die bereits morgens mit dem Trinken begannen. Einige von ihnen hier würden den Mittag nicht mehr bei Bewusstsein erleben, so schnell tranken sie schon jetzt ihre Halben leer.
»Was willst du damit sagen? Dass er es nicht war? Der Typ kommt zufällig vorbei und geht über die Frau rüber?«, fragte der Autohändler.
Quercher wiegte den Kopf. »Jedenfalls hilft rausprügeln gar nichts. Du musst ihn überzeugen. Vielleicht haben ihm ja noch ein paar andere bei der Tat geholfen.«
Die anderen Männer am Tisch sahen ihn erstaunt an. »Aber keiner von uns.«
»Warum nicht?«
Ein Kfz-Mechaniker, klein und kräftig, kam nah zu ihm heran. »Mir ist schon klar, dass die Stadt dich versaut hat, aber wir hier lieben unsere Buben und Madel. Wir machen so was nicht.«
Der Tischnachbar, Johann Zehetmeier, schob ihn zurück. »Passt schon, Ribi. Der Max ist einer von uns.«
Eine Frau in der prächtigen Schalkfrauentracht kam mit einem großen Kessel und Papptellern.
»Servus, Maria. Geht’s dir gut?«
Quercher freute sich, wenn er die stattliche Frau sah. Sie war auch eine von denen, die mit ihm zur Schule gegangen waren. Maria Strasser war die Leiterin des örtlichen Trachtenvereins, deren Jugendgruppe heute auch eine Aufführung präsentieren wollte.
Es wurden Weißwürste serviert. Die Sonne strahlte zwischen kleinen Schäfchenwolken hindurch. Es duftete nach Wiese und Weißbier, nach Idylle und Abgeschiedenheit. Gegenüber am Wiesseer Hof, einem Hotel, hielt ein Reisebus aus Recklinghausen. Rentner, die Popelinjacken in allen möglichen Grautönen trugen, humpelten heraus, zückten ihre kleinen Digitalkameras und kamen in Scharen über die Straße. Quercher kannte das nicht und war überrascht, wie stoisch die Einheimischen den nun folgenden Paparazziüberfall ertrugen.
»Das ist ja wie im Zoo«, murmelte er.
Zehetmeier grinste. »Ja, wir bekommen vom Tourismusamt Geld dafür.«
»Schmarrn«, sagte Quercher ungläubig.
»Nein, natürlich nicht. Aber glaubst du, dass wir das Maibaumaufstellen nur für uns machen? Das ganze Gschwerl aus der Stadt kommt doch bloß zu uns raus, um genau das hier zu erleben.« Er zuckte mit den Schultern. »Solange sie nur knipsen und dumm daherreden, ist es ja gut. Aber schau dir doch die Gratler an, die den Drecksack, der die Kinder entführte, hergebracht haben. Haben in der Stadt nichts mehr reißen können und sind dann zu uns gekommen. Und das Schwein, das verdammte, war ja vorbestraft. Wie eine Krankheit schleppen die uns die Kriminellen hier herein.«
Die anderen nickten beifällig.
Eine kleine blonde Frau schob einen Mann in einem Rollstuhl zu den Männern. Das war Ludwig Steinleitner. Mit ihm hatte Quercher schon die Hälfte seiner Jugend im Cannabisparadies verbracht. Ludwig hatte ein Forsthaus von seinem Vater geerbt. Vor fünf Jahren war der leidenschaftliche Sportler mit seinem Mountainbike gestürzt. Ein Kind war ihm über den Weg gelaufen. Er hatte gebremst, sich überschlagen. Der oberste Halswirbel war gebrochen. Weder Hände noch Füße konnte er bewegen. Die Frau, die ihn unterstützte, war seine Ehefrau geworden. Mehr Liebe ging kaum, hatte Quercher damals bei ihrer Hochzeit beschämt gedacht. Sie wohnten abseits – aus gutem Grund. Gemeinsam hatten sie im Keller ihres Hauses eine veritable Cannabisplantage errichtet.
Aber für ein Pfeifchen war es noch zu früh, bedeutete Quercher Ludwig. Zudem wollte Quercher eigentlich noch am Nachmittag nach Innsbruck fahren. Aber das Weißbier, das er nach den zwei Weißwürsten hinuntergeschüttet hatte, würde diesen Plan zunichtemachen. Also würde sich Quercher später in Ludwigs Garten in eine seiner berühmten Korbschaukeln legen und den Tag der Arbeit still vor sich hin rauchend feiern.
Er wandte sich an den Zimmermann. »Hansi, kommt jetzt wieder die Litanei von den bösen Städtern, die das Gift der Moderne mitbringen?«
In diesem Moment sahen die Männer zu einer kleinen dunkelhaarigen Frau, die missmutig einen Kinderwagen neben einer großen blonden Frau herschob. Arzu und Anke waren gekommen.
»Sag mal, Quercher, uns kannst es sagen. Der Kleine von der Türkin, das ist doch deiner?«
»Und wenn?«, fragte Quercher leise, aber mit drohendem Ton.
Zehetmeier grinste böse. »Mir ist vollkommen wurscht, ob du a Gschlitzte oder a Muselmanin nimmst, aber der Name ist ein Dreck.«
»Was gefällt dir an Max Ali nicht?«
Zehetmeier machte eine Pause. »Na, der erste Name Max. Reicht ja, wenn ein Trottel wie du so heißt.«
Alle lachten.
Ludwig Steinleitner verdrehte die Augen. Quercher glaubte, hinter jedem einfachen Bayern einen versteckten Rassisten zu erkennen. Dabei hatte sich das längst geändert.
»Die Frau vom Inhaber des Supermarkts kommt aus Dresden«, erklärte Steinleitner Quercher, der sich schon wieder beruhigt hatte. »Das ist schlimm für uns hier. Die sind da gottlos und Exkommunisten. Dann lieber Türken.«
Quercher verdrehte die Augen, trank den Rest seines Weißbiers und rülpste.
»Auf geht’s«, rief Zehetmeier. »Packen wir es an. Am Mittag steht der Baum.«
Querchers Telefon klingelte. Er griff in seine Hosentasche und sah verwundert auf den Namen, der im Display erschien. »Grüß Gott, Frau Gerass. Es ist Tag der Arbeit. Und ich habe frei.«
»Sind Sie noch nüchtern?«
Ludwig hielt Quercher eine kleine Zigarette hin. Der schüttelte den Kopf.
»Sie müssen ins Büro nach München kommen. Das läuft hier ein wenig aus dem Ruder.«
Kapitel 19
München, 01. 05., 13:14 Uhr
Vor Ort hatte er geschwiegen. Gaugenrieder hatte sich als Erster um ihn bemüht. Dann Dahmer. Aber er saß nur da und grinste. Sie alle hatten eine schlimme Nacht hinter sich. In Absprache mit Gerass entschieden die beiden, Knöchel nach München bringen zu lassen. Von den Kindern fehlte jede Spur. Die Pflegeeltern, die parallel verhört wurden, schienen wirklich nichts gewusst zu haben. Die Frau war in Tränen aufgelöst. Immer wieder musste das Gespräch mit ihr unterbrochen worden. Der Mann wollte sofort einen Anwalt haben. Gegen sieben Uhr fand man in Knöchels Zimmer lediglich den Slip der Erzieherin, aber keine weiteren Hinweise auf die Kinder. Sein Handy wurde sichergestellt. Mit diesen Daten konnten die Techniker des LKA zurückverfolgen, ob sich Knöchel am Sylvensteinspeicher aufgehalten hatte, um die Puppe dort hineinzuwerfen. Aber es würde noch dauern, bis man das herausgefunden hatte. Und die Zeit war jetzt der Gegner der Ermittler. Sollte Knöchel allein gehandelt haben, würden die Überlebenschancen der Kinder dramatisch sinken. Aber vielleicht waren sie schon tot und Knöchel wollte sich durch sein Schweigen nur wichtigmachen.
Der Druck war da. Schon am Morgen hatten der Innenminister und kurz danach der Ministerpräsident Gerass und dem Team zu ihrem schnellen Erfolg gratuliert. Jetzt mussten sie von Knöchel den Aufenthaltsort der Kinder erfahren.
Er hatte vier Stunden schlafen dürfen. Seine Anwältin, eine Pflichtverteidigerin, hatte darauf bestanden. Aber noch immer hatte Knöchel nicht gesprochen.
Gerass hatte Dahmer für acht Uhr in die LKA-Zentrale in der Maillingerstraße beordert, um das weitere Handeln abzustimmen. Sie sah die müden, völlig erschöpften Kollegen und fasste sofort einen Entschluss. »Sie haben bislang sehr gut gearbeitet. Das Lob von oben geht ausschließlich an Sie. Wir müssen jetzt alle unsere Kräfte bündeln. Die Politik, die Medien und nicht zuletzt die Angehörigen schauen auf die Vernehmung. Wir werden uns gleich mit den Profilern treffen. Danach werden wir ein Team aus unseren besten Verhörspezialisten zusammenstellen.«
Dahmer verkrampfte. Wollte Gerass ihr den Fall jetzt entziehen?
»Ich weiß, dass Sie die Vernehmungen leiten wollen. Aber ich brauche für die Pressekonferenz heute Mittag ausgeschlafene Leute, die die Fragen der Meute ruhig und souverän beantworten. Kurz: Ich möchte Sie bitten, ein wenig Schlaf zu finden. Um vierzehn Uhr werden wir gemeinsam vor die Presse treten.«
Gaugenrieder reagierte zuerst. »Ich muss da nicht aufs Podium. Julia kann für uns sprechen. Ist doch auch einmal schick, nur Frauen da oben zu haben.«
Dahmer sah ihn zweifelnd an. Aber sie war definitiv zu müde, um noch etwas zu erwidern. Sie wollte einfach glauben, dass sie den Täter hatten.
Gegen dreizehn Uhr, nach gerade einmal drei Stunden unruhigen Schlafs, war sie wieder in die Zentrale gekommen. Der Parkplatz war voll besetzt. Im Amt herrschte trotz des Feiertages eine Stimmung wie in einem Bienenkorb. Der schnelle Fahndungserfolg tat den Kollegen sichtbar gut. Für sie war es die richtige Entscheidung gewesen, den Fall gleich dem LKA zu geben, statt ihn den Kollegen der Kripo zu überlassen. Oftmals wurden wichtige Anfragen zu Technik, Profiling und anderen Spezialgebieten zu spät oder gar nicht gestellt – meist aus purer Eitelkeit. Dieses Mal aber war alles in einem Haus zusammengelaufen.
Dahmer stellte ihr Fahrrad in den Ständer. Sie trug eine kurze Hose, um wenigstens jetzt ein wenig Licht an die blasse Haut zu lassen. Ihr T-Shirt war vom Fahren in der Sonne nass geschwitzt. Sie würde jedoch gleich noch einmal kalt duschen und aus ihrem Spind einen Hosenanzug für die Pressekonferenz nehmen. Es war ihr erster Medienauftritt. Bisher hatten andere ihre Arbeit erklärt. Nicht, dass es ihr viel bedeutete. Aber noch immer war es nicht leicht, sich in dieser männerdominierten Welt der Ermittler durchzusetzen. Zu oft wurde ihr einfach die Butter vom Brot genommen, zogen andere die interessanten Fälle an sich und das Unangenehme wurde auf ihrem Schreibtisch abgelegt. Das wäre nach diesem Fall sicher anders. Diese Chance hatte sie Gerass zu verdanken. Beim alten Pollinger wäre das nicht drin gewesen. Der hatte solche Typen wie Quercher gefordert. Überhaupt Quercher. Sie hatte das alles auch ohne ihn gelöst. Auch wenn Arzu sie immer wieder gebeten hatte, sich bei Quercher zu melden, ihn um Rat zu fragen. Sie hatte das nicht nötig.
Wenn man an den Teufel denkt, ging es ihr durch den Kopf, als sie ihn in seinem alten Mercedes Kombi um die Ecke biegen sah. Sie blickte ihn spöttisch an und wollte schon das Gebäude betreten, als er ihr zurief, doch einen Augenblick stehen zu bleiben.
»Warte, Julia. Ich wollte dir noch was sagen.« Er trug Espadrilles, eine ausgewaschene kurze Armyhose und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Massive.
»Was gibt es? Ich muss zur Pressekonferenz.«
Er nickte. »Herzlichen Glückwunsch, Julia. Das ist ein toller Erfolg.«
Sie hatte Spott erwartet, irgendeine dämliche Bemerkung, die seinen Neid auf ihren Erfolg mühsam verbergen sollte, aber kein Lob, keine Anerkennung. »Verarschen kann ich mich selbst«, gab sie eine Spur zu harsch zurück.
Quercher stöhnte. Neben ihm saß Lumpi und schaute die beiden mit erhobenem Kopf an.
Julia mochte den Hund. Aber als Quercher ihr Verhältnis beendet hatte, fand sie das Tier schlagartig doof und Querchers Getue aufgesetzt und idiotisch. Seht her, ich bin der unangepasste Quercher, ich nehme immer meinen Hund mit, weil mir mein Beschützer Pollinger es gestattet. Das würde nicht mehr lange so sein, dachte sie. Denn Gerass hatte eine Hundeallergie.
»Julia, du gehst da jetzt in einen Sturm. Ich weiß das. Habe ich selbst schon erlebt. Ich will dir nur sagen, dass du gute Arbeit geleistet hast. Und dass dir das keiner nehmen kann. Genieß das jetzt. Aber es geht auch anders. Die, die dich heute nach oben holen, kennen dich morgen nicht mehr. Mehr wollte ich dir nicht sagen. Und wenn es scheiße läuft, also …«
»Warte, lass mich raten: Dann bist ausgerechnet du da? Schmarrn, das warst du nie und das wirst du auch nie sein. Du bist immer allein.« Sie ließ ihn stehen und rannte fast in das Gebäude.
Eine Kollegin kam an ihm vorbei. »Na, will sie nicht mehr? Versteh ich gar nicht.«
»Sehr witzig«, brummte Quercher und beugte sich zu Lumpi. »Du bist die einzige Frau, die mich versteht.«
Lumpi leckte ihm über die Hand.
»Nicht mal das können die anderen, Lumpi.«
Auf den Weg vom See hierher hatte er mit einem Spezl, Robert Bartsch, vom Profilingteam gesprochen. Unter der Hand und begleitet von wüsten Drohungen, falls Quercher die Informationen weitergeben würde, hatte der ihm ein anderes Bild der Ermittlungen geschildert.
Das Profiling hatte anfangs für Quercher den Geruch des Geheimen gehabt. Dabei war die Methodik immer dieselbe: Zuerst besichtigte das Team den Tatort und sammelte alle relevanten Informationen, dann analysierte es den Fall und entwarf mögliche Täterprofile, die es den Ermittlern vorstellte. Doch allen war klar, dass Profiler immer nur Hypothesen erstellen und dann die wahrscheinlichste Theorie herausfiltern konnten. Ihre These zum Fall Ostin war noch nicht abgeschlossen, als Knöchel aufgegriffen wurde.
»Wir haben eigentlich nicht auf einen jungen, isoliert lebenden Einzeltäter getippt. Die Hinweise sprechen unserer Meinung nach eine andere Sprache. Der Tatort: sauber, keine Hinweise. Unsere Erfahrung sagt, dass es sich um einen oder mehrere ältere Menschen handelt. Kein Brief, um sich aufzuspielen, sondern nur eine Puppe in einem Stausee. Auch das spricht für Erfahrung und Präzision. Ganz anders die Vergewaltigung und der Tod der Erzieherin am Tatort. Gewalt, die angewendet wird, um ein Opfer zu überwältigen, spricht im Normalfall für ältere Täter. Wer seinem Opfer wehtut, obwohl es schon unter Kontrolle und gefesselt ist, den schätzen wir eher jünger ein. Daraus lässt sich aber keine Regel ableiten. Eine Einschätzung über Alter und andere Merkmale entsteht immer aus einem Zusammenspiel aller Faktoren«, hatte Bartsch erläutert.
»Und was heißt das?«, hatte Quercher ungeduldig gefragt.
»Dass wir noch abwarten sollten. Der Bär ist noch nicht tot. Aber wir preisen das Fell schon an. Ich wäre vorsichtig.«
Dieses Gespräch hatte Quercher im Kopf gehabt, als er Dahmer angesprochen hatte und sie warnen wollte. Er wusste, dass es gönnerhaft und vielleicht sogar neidisch geklungen hatte. Aber das war Unsinn. Quercher hatte viele Fehler, aber Neid gehörte nicht dazu.
Er nahm Lumpi an die Leine und betrat langsam das LKA. Im zweiten Stock hatte Gerass ihn und fünf andere Kollegen und eine Kollegin zu einem Gespräch gebeten. Sie war unter Druck, in weniger als einer Stunde begann die Pressekonferenz. Sie stand mit dem Rücken zu den Kollegen in einer Ecke, checkte die E-Mails auf ihrem Smartphone und biss sich dabei die kläglichen Reste ihrer Fingerhornhaut weg, bis das Blut wieder hervorkam. Hektisch suchte sie nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche, ließ dabei das Telefon fallen und wandte sich dann abrupt um. Die Wut über ihre eigene Ungeduld stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Keine gute Idee, denn der Raum war gefüllt mit Verhörspezialisten, die darauf geschult waren, jede noch so kleine Regung richtig interpretieren zu können. Quercher, bei all seinen Widerborstigkeiten und Alleingängen, gehörte zu dieser Riege. Vernehmen oder verhören – das glaubte jeder der Kollegen zu beherrschen. Um den Zeugen herumgehen, laut werden, auf den Tisch hauen, drohen und das ganze andere Programm aus Film und Fernsehen – das war nicht ihre Welt. Der Kollege, der Quercher gegenübersaß, hatte es vor zwei Jahren geschafft, sich innerhalb von drei Tagen in die Gedankenwelt eines mordenden Neonazis so hineinzudenken, so zu agieren und zu reden, dass dieser ihn als seinen Freund akzeptierte. Quercher hatte vor vier Jahren einem Serienmörder, der Frauen die Brüste abgeschnitten hatte, suggeriert, dass er auch heimlich davon träumte, es mal härter haben wollte. Zum Schluss hatte ihm der Täter jede technische Einzelheit erklären wollen. Eine Kollegin hinter der Scheibe war damals Julia Dahmer gewesen.
»Meine Dame, meine Herren, Sie alle sind mit diversen anderen Fällen beschäftigt. Ich möchte aber unsere besten Kräfte auf den Ostin-Fall konzentrieren. Mir liegt sehr viel daran, dass der junge Mann spricht. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass ich jede Form der Gewalt dem Verdächtigen gegenüber ablehne. Wir stehen unter einem gehörigen Zeitdruck. Ich möchte, dass Sie als Team arbeiten. Stimmen Sie sich ab. Wollen Sie nur mit zwei Personen arbeiten? Wer ist der Vertrauensmann? Wer setzt Knöchel wann und wie unter Druck? Oder wollen Sie wechseln? Sie kennen das Spiel besser als ich.«
Keiner erwiderte etwas. Denn Gerass’ Satz war aus ihrer Sicht richtig. Die Akten lagen vor ihnen.
Quercher trauerte dem Tag am See hinterher. Draußen schien die Sonne so stark, dass sie die Jalousien herunterlassen mussten. Er sah auf die Uhr. Der Baum stand. Er hätte jetzt in Ludwigs Kräutergarten gesessen, der Musik der verehrungswürdigen Beth Gibbons gelauscht und wäre weggeflogen. Stattdessen musste er sich nun Spermaspuren, Hämatome und Strangulierungsabdrücke anschauen.
Kaum war Gerass verschwunden, übernahm ein kleiner, sehr dünner Mann das Wort. »Um fünfzehn Uhr wird Knöchel von der U-Haft hierher ins Präsidium gebracht. Wer hat nach erster Durchsicht der Akten den besten Zugang zu ihm?«
Quercher hielt sich zurück. Weniger aus Faulheit als vielmehr des Falles wegen. Seiner Ansicht nach stimmte die Tat mit dem Täter irgendwie nicht überein.
Ein sehr junger Kollege mit hörbar fränkischer Herkunft hob den Arm. »Mein Name ist Ben. Ich kenne sein Viertel, bin da aufgewachsen. Er ist nur sechs Jahre jünger. Das könnte funktionieren.«
Alle nickten.
Der kleine Schmale redete weiter. »Ich arbeite gern mit einer Vaterfigur, einer zum Ausheulen.«
Jetzt erst warf Quercher etwas ein. »Also, ich bin Max Quercher. Ich lese, dass Knöchel seinen Vater kannte, ihn zweimal körperlich angegriffen hat, nachdem dieser ihn mehrere Tage in einen Abstellraum eingesperrt hatte. Seine Mutter hat ihn befreit, laut Protokoll ist die aber seit drei Jahren tot.« Er schaute zu der einzigen Frau im Raum, eine ältere, füllige Kollegin, die aus dem Dezernat Jugendintensivtäter kam.
Die verstand sofort. »Okay, ich glaube, das bekomme ich hin. Ach ja, ich bin die Maria.«
Während sie das sagte, wurde Toni Knöchel aus seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Stadelheim geführt. Noch in der Zelle hatte man ihm Fußfesseln und Handschellen angelegt. So schlurfte er, flankiert von zwei MEK-Beamten, den Flur der Strafanstalt hinunter und wurde in einen Bulli mit verdunkelten Scheiben gesetzt. Eine junge Polizistin schnallte ihn an. Toni Knöchel grinste. Woher sollte er wissen, dass es sich bei der Beamtin um Liane Schönherr handelte, der Lebensgefährtin ebenjener Kollegin, die mit schweren Halsverletzungen, hervorgerufen durch Stacheldraht, im Krankenhaus Agatharied lag. Stacheldraht, den Knöchel ihr um den Hals gewickelt hatte.
Kapitel 20
München, 01. 05., 16:15 Uhr
Ein Verleger konnte natürlich die Themen in seinen Zeitungen bestimmen. Das lief nicht so, wie man sich das als Außenstehender vorstellen mag. Kein Anruf in der Redaktion, keine Anweisung für Reporter. Stattdessen geschah quasi alles in vorauseilendem Gehorsam. Die verlorenen Kinder von Ostin, titelten Weldes Blätter, hauptsächlich Boulevardblätter in München und Nürnberg. Auch die Radiosender, an denen er beteiligt war, setzten das Thema auf die Nummer eins. Die Chefredakteure mussten nicht gebeten werden. In Zeiten wie diesen, wo der Journalismus von einer Krise in die nächste stolperte, tat man das schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb. So übertrafen sich die Redaktionen mit immer neuen Geschichten. Ohne sich abgesprochen zu haben, wusste jeder die Gesetze der Medien richtig zu deuten.
Welde hatte sich mit der befreundeten Verlegerin aus Berlin verbinden lassen und die Situation klar und nüchtern formuliert. Am Morgen hatte ihn die Polizei mit der Nachricht über den Zugriff geweckt. Seine erste Frage galt seinem Sohn. Er hatte der Polizei noch gratuliert. Dann war er in seine Bibliothek gegangen und hatte am Schreibtisch leise geweint. Geweint, weil er jetzt zwar wusste, dass es keiner seiner Feinde war, der ihm den Sohn genommen hatten, sondern nur ein kleiner, dreckiger Prolet aus Nürnberg. Aber dennoch blieb der Sohn verschwunden. Er hatte noch immer geweint, als seine Frau aufgestanden war und unter der Dusche stand. Die Tabletten zeigten ihre Wirkung. Sie war ruhig – ruhiggestellt.
Die Verlegerin war ihm wohlgesinnt. Sie selbst hatte keine Kinder. Aber sie konnte den Schmerz des Freundes verstehen. Sie hatte ihn nicht nur aus Anstand direkt nach der Tat angerufen, ihr Mitleid ausgedrückt und jede Unterstützung zugesagt, die sie imstande war zu leisten. Und das war, jeder Politiker im Land wusste das, sehr viel. Denn alles, was in ihren Blättern auf der ersten Seite stand, war DAS Gesprächsthema. Und verschwand es dort, wäre es auch kein Thema mehr für die Politik.
»Weißt du, Hilde, der Täter ist zu früh gefasst worden. Wenn der jetzt nicht aussagt, sondern wartet, können wir das Thema vielleicht noch drei oder vier Tage auf die Eins setzen. Dann wird es verdrängt. Und ich muss dir nicht sagen, was das heißt. Die Politiker werden froh sein, wieder über etwas anderes zu sprechen. Vielleicht gesteht er ja. Aber für den Fall, dass er das nicht tut, müssen wir den Druck weiter erhöhen.«
Hilde Hopfner verstand. Die allmächtige Chefin des großen Verlags war jahrelang unterschätzt worden. Aber mittlerweile wusste jeder Hinterbänkler im Parlament, welch grandioses Netzwerk sie in den vergangenen Jahren in der Hauptstadt aufgebaut hatte. Sie war die ungekrönte Königin der Medien.
»Mein lieber Welde, ich glaube, dass wir das Thema nur dann langfristig weiterspielen können, wenn wir es etwas größer, etwas … sagen wir … populistischer gestalten. Sind unsere Kinder sicher? Haben wir die Polizei, die das gewährleisten kann? Und was passiert mit den Tätern? Der junge Mann war doch schon vorbestraft, nicht wahr?«
Welde bestätigte das.
»Schau, mein Lieber, ich meine mich erinnern zu können, dass wir da so einen ehemaligen Strafverteidiger in einem unserer Verlage in München unter Vertrag haben. Buchpremiere ist demnächst – oder ist sie heute? Ich weiß nicht genau. Sein Thema: faule Justiz, alles übles liberales Pack, tut nichts. Es wird immer bloß aus Tätersicht geurteilt. Der hat sich jetzt mit einigen prominenten Figuren zusammengetan. Eigentlich bat mich die Kanzlerin, diesen bürgerlichen Zwergenaufstand im Keim zu ersticken. So wie wir es mit den Euroskeptikern auch gemacht haben. Aber hier liegt eine besondere Situation vor. Der Mann, sagt jedenfalls einer meiner Vertrauten, brennt darauf, in die Talkshows zu kommen. Sollte am Wochenende sonst nichts passieren, werden wir den platzieren.«
Welde dankte ihr. Er sah auf den Kalender. Es war Freitag.
Kapitel 21
München, 01. 05., 21:35 Uhr
Die Dame von der PR-Abteilung war so aufgeregt, dass sie stotterte. Ihr Verlagsteam hatte mit der üblichen Buchpräsentation im überschaubaren Kreise gerechnet. Es war Münchens größte Buchhandlung. Hier wollte der Verlag Markus Sareiters Werk vorstellen.
Am Anfang sollte eine Laudatio durch den ehemaligen Verfassungsrichter dem Buch die nötige Aufmerksamkeit geben. Nach einer kurzen Lesung aus dem Buch durch Sareiter höchstpersönlich hätte ein abgehalfterter Moderator der ARD eine kleine Fragerunde mit dem Autor und Verfassungsrichter a. D. geführt. Danach Häppchen und Weißwein an Stehtischen. Zu erwarten waren ein paar Zeitungsberichte, Buchrezensionen sowieso und vielleicht noch ein Hinweis im Radio. Die PR-Dame wäre dafür gut bezahlt worden und hätte sich dann wieder ihrem Lieblingsprojekt, dem Festival Erotische Geschichten für Frauen ab 50, widmen können. Aber dann hatte der Autor am Nachmittag der Onlineredaktion eines Boulevardblatts ein Interview gegeben. Es hatte ganz harmlos begonnen.
»Herr Dr. Sareiter, in Ihrem Buch beklagen Sie die Verfilzungen der deutschen Justiz und der Polizei. Sie sehen hier die Politik in erster Linie in der Pflicht. Haben wir ein Justizproblem?«
»Nicht nur das. Der Fall Mollath hat doch gezeigt, wohin uns eine nicht kontrollierte, selbstzufriedene, um nicht zu sagen, fette Justizbürokratie führt. Aber das ist ja nicht der wesentliche Punkt. Mir geht es um das grundsätzliche Verständnis der Bürger zu ihrem Rechtsstaat.«
»Was meinen Sie damit genau?«
»Nun, wer jemals unschuldig in die Mühlen dieses Molochs geraten ist, in dem schlecht ausgebildete Anwälte auf faule und überforderte Staatsanwälte und Richter treffen, weiß, wovon ich spreche. Das Recht dient nicht mehr dem Bürger. Es ist umgekehrt. Wir unterwerfen uns einer kritikresistenten Kaste von Juristen, die das grundsätzliche Rechtsverständnis der Menschen missachten.«
»Sie haben in Ihrem Buch ja diverse skandalöse Fälle aufgedeckt. Dabei geht es Ihnen nicht nur um die ausufernden Rechte der Täter, sondern vor allem um die mangelnde Beachtung der Opfer.«
»Ja, wenn Sie heute Opfer eines Gewaltverbrechens sind, schützt Sie der Staat kaum noch. Ein Kollege formulierte den, wie ich finde, zynischen Satz: ›Wenn das Opfer über den Täter richten darf, beginnt die Barbarei‹. Und genau von diesem Punkt aus hat sich die Kaste der Juristen eingerichtet. Man spricht dem Bürger das Recht ab, zu entscheiden, zu richten, nimmt für sich aber in Anspruch, im Namen des Volkes zu sprechen. Und genau hier liegt der Denkfehler. Diese Juristen sind keine Gottesgeschenke. Sie sind von uns allen eingesetzt worden, um uns vor Unrecht und Gefahr zu schützen. Wir haben als Bürger schon längst die Meinungshoheit über das, was Recht sein soll, abgegeben. Wenn ein Mann eine Frau brutal vergewaltigt, anschließend inhaftiert, in der Haft scheinbar therapiert und wieder freigelassen wird, aber erneut vergewaltigt, dann hat er jedes Recht auf Leben in dieser Gemeinschaft verloren. Recht muss einfach sein, für die Menschen nachvollziehbar.«
»Es gibt einen aktuellen Fall. Vier Kinder sind entführt worden. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten – nur der Täter. Der sitzt in einem Verhör und schweigt. Was sagen Sie dazu?«
»Ich sage: Der Staat muss die Kinder schützen. Bislang wurde bei Folter immer mit der Würde des Menschen, dem Schutz des Einzelnen und der körperlichen Unversehrtheit argumentiert. Hier ist akut das Leben von Kindern in Gefahr. Und warum sollte das Leben, oder wenn Sie so wollen, die Würde des Täters höher zu bewerten sein?«
»Wollen Sie sagen, dass Folter legitim ist?«
»Nicht immer. Es gilt, das Mittel der Wahl zu finden. Unser Rechtsstaat hat sich unter dem Eindruck der Naziherrschaft drei Tabuthemen geschaffen – anfangs sicher zu Recht. Euthanasie, und damit Sterbehilfe, gehört dazu. Jetzt werden dank der Medizin die Menschen älter, aber viele leiden am Ende ihres Lebens. Unter menschenunwürdigen Umständen siechen sie dahin. Selbst wenn sie es wollten, dürfte keiner diesem Leben ein Ende setzen. Man nimmt dem Einzelnen das Recht auf Wahlfreiheit, um einer scheinbar größeren Ethikidee zu dienen. Das ist nicht mehr hinnehmbar. Nicht von ungefähr suchen Menschen in der Schweiz bei legalen Sterbehilfeorganisationen Zuflucht vor diesem antiquierten Moralfuror. Das zweite Tabu ist die Strafbemessung. Seit die Psychologie die Herrschaft über Gutachten, Urteile und Haftbedingungen übernommen hat, werden Täter mit zum Teil unfassbaren Verbrechen als heilbar beziehungsweise therapierbar bezeichnet. Das sind Allmachtsfantasien. Die Rückfallquote sei ja so gering. Ich sage: Es darf gar keine geben. Es darf keine Wiederholung geben. Diese Menschen sind nicht für unsere Gemeinschaft akzeptabel. Das dritte Tabu ist die Folter als sehr eng umrissene Möglichkeit, Verbrechen aufzuklären. So wie jetzt im Fall Ostin.«
»Sie sagen als deutscher Strafverteidiger, mit dem Wissen um unsere Vergangenheit, allen Ernstes: Toni Knöchel darf gefoltert werden?«
»Ihre Entrüstung überrascht mich nicht. Doch ich frage Sie, als Bürger dieses Landes: Toni Knöchels Gesundheit ist tatsächlich wichtiger als die Gesundheit der vier unschuldigen Kinder?«
»Also sagen Sie: Ja, foltert.«
»Ich sage: Wenn es keine erkennbare andere Möglichkeit mehr gibt, dann darf gefoltert werden.«
»Ist das etwa eine politische Forderung? Wer soll das glauben?«
»Das ist in der Tat ein Problem, und ich sage, natürlich, die Täter sind Schweine, ich sage, der Typ in der Zelle ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann gefoltert werden.«
Die Redakteurin war zu jung, um zu verstehen, dass Sareiter mit den letzten Worten die legendär-berüchtigten Sätze Ulrike Meinhofs benutzte. Es war Sareiter wichtig, hier eine Linie zu einem größeren, staatlichen Diskurs zu eröffnen. Noch zu Zeiten der RAF wäre der Text in deutschen Redaktionsstuben analysiert worden. Heute blieb nur: Es darf gefoltert werden um der Kinder willen. Hätte es die vier entführten Kinder nicht gegeben, wäre Sareiters Äußerung vermutlich im täglichen Nachrichtenregen als wirre Einzelmeinung untergegangen. Aber schon die Abendzeitungen hatten mit diesem Satz aufgemacht. Die Radiosender zogen nach. Und tatsächlich wurde dann auch in den 19-Uhr-Nachrichten darüber berichtet. Das war vor allem dem Umstand geschuldet, dass es mittlerweile kaum noch Bilder und Storys zu der Entführung gab. Andere Themen drohten nachzurücken. Und so kam die Forderung nach Folter auf die Tagesordnung. Redakteure diverser Fernsehsender wurden in die Buchhandlung im Herzen Münchens beordert. Das schon wartende Grüppchen aus besorgten und interessierten Mittelschichtsbürgern wurde von jungen, ambitionierten Journalisten mit großen Mikrofonen und noch größeren Egos beiseitegedrängt, um Markus Sareiter zu filmen.
Der hatte sichtlich Freude an dem Spektakel, blieb sehr ruhig und souverän, gab nicht den Krawalltäter, sondern den ruhig sezierenden Juristen. Immer wieder betonte er, dass Folter ja nur ein kleiner Aspekt in seinem Werk sei und er sich vielmehr um die faule Justizbürokratie sorge. Sareiter hatte sich lange auf diesen Moment vorbereitet. Er hatte Kameratraining genommen, sich seine Sätze immer und immer wieder vorgelegt, sie so radikal wie möglich, aber gleichzeitig sauber analytisch formuliert. Er wollte nicht als Spinner abgetan werden. Er stand erst am Anfang.
Kapitel 22
München, 01. 05., 23:45 Uhr
Er hatte nicht getrunken. Das Essen stand noch vor ihm. Er starrte geradeaus und schien durch den Polizisten hindurchzuschauen. Toni Knöchel war definitiv nicht bei der Sache. Die beiden Kollegen hatten alles versucht. Sie hatten probiert, sich mit ihm anzufreunden, sie hatten ihm Verständnis suggeriert, sie hatten ihm gedroht und ihn zum Schluss sogar angefleht. Denn draußen war die Nacht angebrochen. Und jeder konnte sich ausmalen, was es für die Kinder, so sie denn noch lebten, bedeuten musste, wenn keiner kam, der ihnen etwas zu trinken und zu essen bringen würde. Irgendwo in einem dunklen Loch, dunkel und ohne einen Hinweis nicht auffindbar. Die Beamten ließen diese Bilder nicht an sich heran, aber irgendwo im Unterbewusstsein waberten sie dennoch.
Sie hatten eine Pause machen müssen – auf Geheiß von Knöchels Anwältin. Julia Dahmer stand mit dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, einem eher unscheinbaren Brillenträger, und der Anwältin Renate Rieken auf dem Flur.
Die Pflichtverteidigerin wirkte unbedarft und ihre helle Stimme tat ein Übriges. »Wissen Sie, Ihre Beweislage ist verdammt dünn. Laut Aktenlage haben sich Spermaspuren an und in der Toten gefunden. Ein erstes, vermutlich unter Zeitdruck verfasstes Gutachten hat eine Verbindung zu meinem Mandanten geschaffen. Das ist alles. Ach ja, mein Mandant wohnt in der Nähe des Tatorts. Bislang haben Sie keinerlei Spuren oder gar Beweise für eine Verbindung zwischen den entführten Kindern und meinem Mandanten hervorbringen können.«
Dahmer wurde ungeduldig. Ihre Augen waren gerötet. Ihr Kopf schmerzte. Die Angst vor einem Fehler war so groß, dass sie sich auf der Toilette erbrochen hatte. Warum schwieg Knöchel? Seit der Festnahme waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen.
»Frau Rieken, es sind seine Spermaspuren. Sie wissen das, ich weiß das. Wollen Sie wirklich die Arbeit der Kollegen in der Rechtsmedizin und dem LKA anzweifeln? Gerade jetzt? Wo wir alle unter Zeitdruck stehen?«
»Nein, ich will eine saubere Untersuchung. Und wenn mein Mandant etwas dazu beitragen kann, werde ich auch auf ihn einwirken. Selbst auf die Gefahr hin, dass er sich belasten könnte, werde ich ihm die Vorteile eines Geständnisses, zumindest aber die Bekanntgabe des Aufenthaltsortes der Kinder nahelegen. Nur eines sollte Ihnen klar sein: Keiner weiß, ob tatsächlich Knöchel die Kinder entführt hat.«
Dahmer lächelte bitter. »Frau Rieken, wir haben Knöchels Handy überprüfen lassen. Er trug es bei sich, als er die Tat beging. Kurz darauf zerstörte er es noch am Tatort. Wir fanden es in einem angrenzenden Bach. Das ist doch kein Zufall.«
»Ich möchte ungern Ihre Arbeit infrage stellen, Frau Dahmer. Aber nach Ihrer Theorie stellt sich der Vorgang doch recht ungewöhnlich dar. Mein Mandant soll noch im Dunkeln durch den Wald gelaufen sein, auf die Gruppe gewartet und dann zugeschlagen haben. Hat er die Frau oder eines der Kinder gekannt? Bisher haben Sie dazu keine Erkenntnisse. Sie haben auch keine Tatwaffe, mit der mein Mandant die Gruppe bedroht haben könnte. Das Opfer ist gefesselt worden, nach Ihren Aussagen sehr professionell. Woher soll mein Mandant diese Kenntnisse haben? Mir gegenüber hat er geäußert, dass ihm sein Handy auf dem Rückweg zum Hof aus seiner Jacke in den Bach gefallen sei. Kurz: Es war Zufall. Und noch eins: Mein Mandant ist intellektuell überschaubar. Mehrere Gutachten, die im Rahmen seiner ersten Straftat gefertigt wurden, attestieren einen minderbegabten jungen Mann. Diese Tat und die mit Kinderkleidung ausstaffierte Puppe zeigen doch, dass der oder die Täter ganz anders vorbereitet waren und sind.«
Jetzt wurde der Staatsanwalt wach. »Frau Rieken, ich danke Ihnen für Ihre kriminalistischen Hinweise. Dennoch glaube ich, dass Sie unseren Kollegen die Arbeit überlassen sollten. Jeder macht das, was er gut kann. Ihr Mandant wird weiter nach allen rechtsstaatlichen Vorgaben vernommen. Jede Minute, die uns aufhält, kann für die Kinder tödlich sein. Wollen Sie das?«
Das wollte die Anwältin natürlich nicht. Auch sie war die Mutter eines kleinen Mädchens. Aber ihr Berufsethos sah vor, dass sie ihre Emotion von der Aufgabe trennte. »Lassen Sie mich noch einmal mit meinem Mandanten allein reden«, bat sie.
»Herr Knöchel, ich kann Ihr Schweigen nicht deuten. Sie können mir gegenüber sehr offen sprechen. Ich kann und werde Sie nicht belasten. Wir sind ein Team. Was immer Sie mit den Kindern gemacht haben, ist für mich nur insofern wichtig, als eine frühzeitige Erklärung Ihr Strafmaß erheblich mindern würde.«
Die Juristin sah in ein ausdrucksloses Gesicht. In ihrer kurzen Zeit als Anwältin für Strafrecht hatte sie sich eigene Theorien über Straftäter erarbeitet. Gerade bei den jungen Intensivtätern glaubte sie, in den Gesichtern erkennen zu können, ob jemand therapieresistent war, sich also für immer für das Verbrechen und gegen die Gesellschaft entscheiden würde. Sie hätte es keinem anderen, nicht einmal ihrem Mann erklären können. Sie sah in die Augen, sah die Mimik und meinte zu wissen, ob die Person, die sie zu verteidigen hatte, sie anlog, benutzen wollte oder schlicht in etwas hineingeraten war, das nicht mehr steuerbar war. Natürlich gab es auch die, die tatsächlich unschuldig waren. Die das Opfer von schlampigen Ermittlungen, Intrigen oder einer trägen, von sich selbst überzeugten Justiz waren. Aber der Mann vor ihr war schuldig. Das wusste sie. Die Beweislast war erdrückend. Nur was für ein Täter war er?
Es gab für sie zwei Gruppen. Männer, die aus purer Angst die eigene Frau, die sich trennen und die Kinder mitnehmen wollte, töteten. Oder Frauen, die nach Jahren der Demütigung den Gatten vergifteten oder im Bett erschlugen. Nicht, dass sie das billigte, aber sie konnte es bis zu einem gewissen Grad verstehen. In diesen Fällen brach das Verbrechen quasi wie ein Unheil über den Klienten herein. Und dann waren da die anderen. Die, die das Verbrechen suchten, weil es ihnen guttat, weil es sie bestimmte. Renate Rieken vermied allerdings den Gedanken an das Böse. Das war für sie keine Kategorie. Ihre Gedankenspiele basierten auch auf keiner durchdachten Theorie. Sie halfen ihr nur, die Menschen einzuschätzen.
Der junge Mann vor ihr kannte das hier alles. Verhöre waren ihm nicht neu. Es gab sogar Klienten, die diese Momente genossen. Jemand wollte etwas von ihnen, hörte ihnen und ihren Geschichten zu.
Aber Knöchel sagte nichts.
»Herr Knöchel, helfen Sie sich und den Kindern.«
Minutenlang schwieg der junge Mann. Dann öffnete er seinen Mund. »Ich brauche Kopfschmerztabletten«, stieß er hervor.
»Die bekommen Sie. Wo sind die Kinder?«
Er schnaufte. Griff zu seinem Glas, verfehlte es fast. Wasser schwappte über den Rand.
»Ich bin kein Entführer«, brach es aus ihm heraus.
›Entführer‹ mit dem rollenden R der Franken, dachte sie. »Das glaube ich Ihnen. Aber Sie wissen, wo die Kinder sind.«
Er strich sich über die Arme, kratzte sich. Sie sah auf seine Tätowierungen, Runenzeichen, die sie nicht entziffern konnte. Es sollte martialisch wirken, kam ihr bei dem Jungen aber irgendwie deplatziert vor.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin durch den Wald gelaufen. Dann habe ich die Frau gesehen. Ich bin dahin. Da war sie schon kaputt. Ich habe es ihr besorgt. Aber sie war schon kaputt.«
Er schluckte. Knöchel schien das schon Dutzende Male erzählt zu haben. Seine Hauptsätze beschränkten sich auf das Wesentliche. Er starrte auf ihre weiße Bluse, die definitiv die falsche Wahl gewesen war. Sie war eine Nummer zu klein und zog sich zu straff über ihre Brüste.
Es war ein Spiel, dachte sie. Niemand sah zu. Nur ihr Klient. Und irgendwo da draußen saßen die Kinder. Und vielleicht wusste er etwas. Mit einer langsamen Bewegung drückte sie ihren Rücken durch. Der Stoff ihrer Bluse spannte noch stärker. Sie zog langsam das Jackett aus, ließ es hinter sich über die Stuhllehne gleiten. Vielleicht reagierte er. Sie musste ihn emotional berühren.
Er schmatzte leise. Seine Hände drückten gegen das Metall der Handschellen. Unter anderen Umständen hätte sie moniert, dass ihr Mandant derart eingeengt wurde. Aber bei Knöchel schien auch ihr das geboten.
Er atmete schwer. Es schien ihm zu gefallen. »Ich weiß es nicht.«
»Doch, Toni, Sie wissen es. Sie können es sagen.«
Er sah sie mit einem Lächeln an, dessen Bedeutung sie nicht verstand. Genoss er die Aufmerksamkeit? Dann würde er diesen Moment bis ins Unendliche ziehen wollen. Zum tödlichen Nachteil der Kinder. Als Anwältin durfte sie sich nicht mit den Interessen der Ermittler gemeinmachen. Auch wenn sie als Mutter den Schmerz und die Verzweiflung der Eltern sehr nachvollziehen konnte.
»Ich sage nichts.« Dann schloss er die Augen.
Für einen kurzen Moment fühlte sie sich ertappt und wurde dann, ohne es zu zeigen, zornig. »Gut, ich komme morgen früh wieder. Bis dahin werden Sie weiterhin vernommen. Allerdings haben Sie ein Anrecht auf Schlaf. Ich werde das veranlassen. Eine gute Nacht.«
»Was ist mit der Kopfschmerztablette?«
Sie hätte bleiben können, aber ihr Zorn trieb sie aus dem Raum. Noch nie hatte ein Mandant sie so sehr angewidert. Sie brauchte Luft.
Dahmer hatte sie vor der Tür erwartet. »Und? Will er uns helfen?«
Die Anwältin schüttelte den Kopf. »Ich muss darauf bestehen, dass mein Mandant Schlaf findet.«
»Haben Sie ihm geraten zu schweigen?«
»Frau Dahmer, Sie wissen, dass ich Ihnen darauf keine Antwort geben muss beziehungsweise darf. Aber gehen Sie davon aus, dass ich meinem Mandanten sehr deutlich zu verstehen gegeben habe, dass ein Hinweis strafmildernd ausgelegt werden könnte. Nur, Herr Knöchel will nichts sagen.«
Dahmer sah sie unverwandt an, ehe sie antwortete. »Dann werden vier Kinder sterben.«
Kapitel 23
Bad Wiessee, 01. 05., 23:55 Uhr
Entgegen der landläufigen Meinung konzentrieren sich Ermittler nicht nur auf die eine heiße Spur. Selbst wenn der vermeintliche Täter gefasst wurde, werden noch andere Hinweise und Theorien verfolgt. Es sei denn, sie widersprechen zu sehr dem aktuellen Ermittlungsstand.
Mark Bolen war kein Widerspruch. Dahmer und Gaugenrieder hatten sich am Morgen aufgeteilt. Dahmer sollte sich federführend um die Vernehmungen mit Knöchel kümmern, Gaugenrieder blieb bei den anderen Spuren und Hinweisen. Man wollte sich nicht auf die Aussagen des Täters allein verlassen. Nichts konnte eine Vernehmung schneller beenden als Hinweise, die den Täter einwandfrei überführten und eine Spur zu den Kindern ergaben.
Der Vater des neunjährigen Laurenz war einer der ersten nahen Angehörigen, die das Team von Fritz Gaugenrieder durchleuchtete. Marks Akte war eine Handbreit dick. Schon als Teenager war er in seiner Heimatstadt Jena aufgefallen. Körperverletzung, Diebstahl und Betrug – er trat Jugendstrafen an, kam frei, beging wieder eine Straftat. Mehrere Ausbildungen brach er ab. Er wäre unweigerlich in der Gosse gelandet. Aber etwas bewahrte ihn davor. Mark Bolen war außergewöhnlich schön. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den dunklen Augen, einem energischen Kinn und vollen Lippen war von einer schwarzen Lockenpracht umrahmt. Er wirkte wie ein Rockstar aus den Siebzigern. Und auch wenn die jungen Frauen diese Zeit und ihre Mode nicht mehr kannten, verfielen sie diesem Mann zuhauf. So war es auch Gundel Viervogel ergangen. Das Resultat dieser Begegnung war schließlich der kleine Laurenz gewesen. Aber viel mehr als sein gutes Aussehen besaß Mark Bolen nicht. Hinweise aus der Bevölkerung, es hätte in der Wohnung von Viervogel immer wieder Streit mit Laurenz’ Vater gegeben, ließen die Ermittler aufhorchen.
An seinem letzten offiziellen Wohnort war der Jenaer vor Wochen zum letzten Mal gesehen worden. Nachbarn wollten bemerkt haben, dass er mit einem Zirkus aus der Stadt gefahren war. So wurden alle registrierten Zirkusveranstalter kontaktiert. Aber niemand kannte Mark. Am späten Nachmittag kam der entscheidende Hinweis. Ein bulgarischer Dompteur, der in München im Krankenhaus lag, weil ihn eines seiner Tiere gebissen hatte, hörte über seinen Bruder von der Suche nach Mark Bolen. Noch im Krankenbett rief er die Hotline der Polizei an. Mark sei mit einer Artistengruppe nach Italien unterwegs. Vorgestern hätten sie sich von Dachau aus aufgemacht. Sie müssten schon südlich der Alpen sein. Daraufhin wurden die italienischen Behörden informiert. Noch war Bolen nur ein Zeuge, kein Verdächtiger.
Auch das Umfeld der anderen Familien wurde ausgeleuchtet. Der Verleger konnte glaubhaft versichern, dass er keine Feinde besaß, zumindest keine, die noch lebten, wie er einem Polizisten gegenüber bitter betonte. Das war natürlich Unsinn. Der Mann bekam jeden Tag körbeweise Post von Menschen, die in seinen Zeitungen gern ihre Weltsicht erklären wollten, den Verleger der Manipulation verdächtigten oder, mehr noch, ihn einer ganz großen Verschwörung zuordneten. Zwei junge LKA-Kollegen müssten die Briefe der letzten Monate erfassen und analysieren, ordnete Gaugenrieder an. Vielleicht ergab sich daraus der Hinweis auf einen beleidigten Leser, der sich an dem Verleger rächen wollte.
Die Familie des Kunstschlossers war weit verzweigt. Hier würde es noch Tage dauern, bis man sich durch die umfangreichen Verwandtschaftsverhältnisse gearbeitet hatte.
Auch die Familie von Homstein wurde routinemäßig befragt. Diese Tätigkeit war für die Beamten besonders unangenehm. Der Großvater, ein Richter in Ruhestand, wollte bei allen Vernehmungen dabei sein. Er traute den Polizisten nicht, das sagte er auch mehrmals. Die wiederum konnten ihre Gereiztheit kaum verbergen. So blieb es bei ein paar Überprüfungen zu Alibis und möglichen Feinden der Familie. So wichtig der Fall genommen wurde, so sehr stießen die Ermittler auch an die Grenze ihrer personellen Kapazitäten. Jeder der Polizisten, die seit zwei Tagen ohne Freizeit und Schlaf an diesen Ermittlungen beteiligt waren, wünschte sich ein schnelles Geständnis von Toni Knöchel. Und sie fragten sich, ob das, was sie jetzt taten, sinnlos sei.
Gaugenrieder hatte sich kurz vor Mitternacht in sein Bett verkrochen und noch einmal Quercher angerufen. Er wollte von einer möglichst wenig in den Fall involvierten Person hören, wie die Vernehmung bislang gelaufen war. Quercher saß gerade im Auto, Lumpi schlief neben ihm auf dem Beifahrersitz, als sein Handy klingelte.
»Bleibst du nicht im Präsidium?«, fragte Gaugenrieder sofort, ohne Quercher zu begrüßen. Die Höflichkeit war längst von der Belastung verdrängt worden.
»Unsere Chefin hat mich nach Hause geschickt. Sie glaubt, dass ich nicht mehr hilfreich sei. Ist mir ganz recht.«
Gaugenrieder rieb sich die Augen. Kein Ermittler, und mochte er noch so ausgebrannt sein, ließ sich gern Aufgaben wegnehmen – auch nicht Max Quercher. »Was war dein Eindruck?«
»Kann ich nicht sagen. Aber für mich wirkt Knöchel nicht wie ein eiskalter Entführer, jemand, der alles bis ins Kleinste plant.«
»Aber die Spuren …«, wandte Gaugenrieder ein.
»… beweisen nur, dass er am Tatort und in der Frau war. Fritz, ich will dich nicht entmutigen. Es ist auch nur ein kurzer Eindruck. Ich durfte mir eure ersten Berichte anschauen, dann habe ich einen Blick auf den Knöchel geworfen, und das war es auch schon. Anschließend haben dieser Franke und die Mutti vom Jugenddezernat übernommen. Die Namen habe ich vergessen.«
»Kommst du noch vorbei und wir trinken ein Helles?«, fragte Fritz laut gähnend.
»Ich glaube nicht. Schlaf, den wirst du jetzt brauchen. Morgen ist euer großer Tag. Der Knöchel wird gestehen, das Versteck verraten, ein SEK-Team wird die Kinder befreien. Der Verleger wird dir einen lukrativen Job als Sicherheitschef anbieten. Das Leben wird gut.«
Beide lachten. Weil sie wussten, dass es so nicht laufen würde.
Quercher fuhr in das Tegernseer Tal. Die Sommersaison würde bald beginnen. Erste Busse mit Rentnern waren schon unterwegs, luden die alten Menschen aus dem Ruhrgebiet, aus Berlin und dem Osten in der Idylle ab. Quercher konnte es verstehen. Kurz hinter Holzkirchen begann das Paradies. Und selbst jetzt, mitten in der Nacht, war davon noch etwas zu spüren. Er kurbelte sein Schiebedach auf, und sofort strömte der Duft von frisch gemähtem Heu herein. Lumpi hob müde den Kopf, streckte die lange Schnauze nach oben und schnupperte. In der mondhellen Nacht sah Quercher die Kühe, hörte entfernt den Klang der Glocken, die sie um den Hals trugen. Seit er zurückgekehrt war, glaubte er, dass exakt an dieser Stelle die Zeit begann, langsamer zu laufen. So als ob das Schöne und Unschuldige jede Sekunde verdoppeln würden. Das war sentimentaler Unsinn, den er mit niemandem teilte. Aber anders als noch im letzten Jahr hatte er sich seiner alten Heimat jetzt wieder genähert. Es war ein vorsichtiges Herantasten. Auf eine unbestimmte Weise fürchtete Quercher, von diesem Landschaftskitsch überrollt zu werden.
Wieder klingelte sein Handy. Ludwig las er auf dem Display. Quercher war müde. Aber ein Absacker mit seinem alten Schulfreund, der einst Lehrer am Gymnasium in Tegernsee gewesen war, konnte nicht schaden. Quercher war daran gewöhnt, nachts wach zu sein. Der Job brachte es mit sich. Und noch vor einem Jahr war er auch privat gern durch die Münchner Klubs gezogen. Die Zeit war vorbei. Und das lag nicht nur an seiner kranken Hüfte. Heute fehlte ihm schlicht die Kraft für die Stadt. Jahrelang hatte er nichts mehr geliebt. Noch nicht einmal, weil die Stadt den klassischen Gegensatz zu seiner Landheimat darstellte. Ihm hatten die kleinen Vorzüge gefallen. Die Anonymität, der Umstand, in Ruhe gelassen und nicht beobachtet zu werden. Dazu kam die Vielfalt. In der Stadt berührten ihn andere Kulturen, nichts war fest, alles war in Bewegung. Aber genau diese Bewegung war ihm jetzt zu viel.
Er hatte noch mit keinem darüber gesprochen. Wer hätte ihn auch verstehen wollen? Arzu? Für seine deutschtürkische Kollegin war Querchers Haus ein Fluchtpunkt geworden. Zudem fühlte sie sich in der Dorfgemeinschaft wohl. Sie hatte schnell Anschluss gefunden und war zum Abtrainieren der Schwangerschaftskilos einer Frauenyogagruppe beigetreten. Die hatten zunächst etwas verwundert Arzus Tattoo auf dem Rücken bewundert, das das Konterfei Kemal Atatürks zeigte. Aber als sie sich bereiterklärte, auch beim örtlichen Trachtenverein mitzumachen, und nun jeden Mittwochabend im Trachtenheim unterhalb der Kirche in einem geliehenen Dirndl mit Schreinern, Zimmerleuten und Gastwirten tanzte, schien sie endgültig angekommen zu sein.
Quercher hatte sie eines Abends mit seiner Theorie geärgert. Danach seien die familienorientierten und konservativen Türken vom CSU-Familienbild nicht weit entfernt. Zumindest würden sich die Mütter aus dem Prenzlauer Berg, die ihren Mutterkuchen unter Bäumen vergruben, deutlicher von bayerischen Müttern unterscheiden als Arzu.
Arzu hatte gelacht, ein Handtuch nach Quercher geworfen, und beide wussten, dass es stimmte.
Er fuhr am See entlang nach Bad Wiessee und bog direkt hinter dem Ortsschild rechts ab. Die Straße führte hinauf zum Golfplatz. Er musste langsam fahren, keine Laterne beleuchtete den Weg. Plötzlich sah er einen Schatten auf der Straße. Er bremste. Und lachte, während Lumpi, die abrupt geweckt wurde, nach draußen sah und sofort knurrte. Ein Dachs sah geblendet in die Scheinwerfer. Lumpis Jagdtrieb war erwacht und die Hundedame kläffte gegen die Windschutzscheibe. Quercher zuckte kurz zusammen, brummte und beruhigte sie.
Kurze Zeit später saß er im Garten seines Freundes in einer alten, quietschenden Hollywoodschaukel. Steinleitner hatte hier oben vom Hang aus einen perfekten Blick Richtung Osten auf den See. Gegenüber glitzerten die Lichter von Tegernsee und Rottach-Egern. Ein kühler Wind blies über den verwilderten Garten, in dem der ehemalige Lehrer diskret seinen eigenen Hanfanbau pflegte.
Steinleitner war die personifizierte Geduld, fand Quercher. Selbst die wirre Arzu, die derzeit größte Klugscheißerin im Tal, konnte er selbst dann noch aushalten, wenn Quercher schon entnervt aufgegeben hatte.
»Er kann ja nicht weglaufen«, hatte Arzu recht lakonisch und unsensibel im Beisein von Steinleitner gesagt.
Der hatte nur gelacht. Leute wie er machten es Quercher leichter, das neue Lebensumfeld zuzulassen.
Quercher zog an der kleinen Pfeife. Langsam kroch das THC durch die Verästelungen seiner Lunge und hinterließ einen wohligen Schauer. Lumpi lag neben ihm und ließ sich langsam in den Schlaf streicheln.
Ludwig Steinleitner hatte vorgesorgt. Sie wurden unter Cannabiseinfluss extrem gierig nach Schokoladentorte und Weißbier. Sowohl der Kuchen als auch große Mengen Bier standen vor ihnen auf dem Tisch.
»Der Mann, den ihr geschnappt habt, war das nicht«, fing Steinleitner das Gespräch an, nachdem er den Rauch der Zigarette, die Quercher ihm in den Mundwinkel gesteckt hatte, wieder ausgeblasen hatte.
»Aha, unterrichtest du jetzt Kriminalistik oder Alltagsprophezeiungen?«
»Weder noch. Aber wer auch immer die Kinder entführt hat, muss die Gegend kennen.«
»Was du nicht sagst. Warte, und er muss ein großes Auto haben.« Quercher begann zu kichern und legte seinen Kopf auf Lumpis warmen Leib, die sich das auch gefallen ließ. Für Quercher roch die Hundedame wie ein gutes Parfum. Sie besaß nicht diesen üblichen Eigengeruch von Hunden, sondern duftete fast nach einer Frühlingswiese, wie Quercher fand. Gerüche waren für ihn zuweilen wie eine Flucht. Der harzige Duft von frisch geschlagenem Fichtenholz beruhigte ihn. Oder nasser Asphalt im Sommer, eine alte Sonnencreme aus seiner Jugend. Er hätte stundenlang über Düfte und Gerüche sprechen können. Nur gab es keinen, der das hören wollte.
»Ihr habt jetzt also diesen Jungen aus Ostin. Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell ihr euch auf einen ganz bestimmten Täterkreis einigt.«
Quercher war zu müde, um darüber zu diskutieren. »Was möchtest du mir sagen, Ludwig? Der, der die Frau vergewaltigt und getötet hat, ist nicht der Täter? Und die Samen in der Frau sind ihr quasi zugeflogen?«
»Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber ich finde es nur komisch, dass solche Taten immer einen sexuellen Hintergrund haben sollen.«
Quercher schüttelte den Kopf. »Muss ja nicht sein. Könnte auch politisch sein oder eine schnöde Entführung mit Lösegeld. Wäre alles möglich. Aber dann hätte sich ja mal jemand gemeldet. Einen Bekennerbrief geschrieben oder eine Forderung gestellt. Aber so sind die Kinder schlicht weg. Du kannst dir nicht vorstellen, was wir gerade für einen Aufwand betreiben. Das sind nicht irgendwelche Cops, die einen Supereinfall haben. Für den Fall Ostin wurden allein drei Profiler vom LKA Bayern und vom BKA aus Wiesbaden eingebunden. Die sortieren alle Daten, alles, was an Indizien gefunden wird, jeder noch so kleine feste, nicht austauschbare Hinweis wird von denen zusammengesetzt. Das geht bis hin zu einer weggeworfenen Kippe. Jede DNA wird registriert, zugeordnet und in ein Mosaik eingefügt. Daraus modellieren sie sogenannte Profile über Tathergang, Täter und mögliches Tatmotiv. Die Profile werden mit alten Taten abgeglichen und gehen sogar an Interpol, falls es sich um ausländische Täter handelt. Aber all das hat bisher nichts gebracht. Gar nichts. Dann ist da dieser gnadenlose Zeitdruck. Hinzu kommt, dass Kinder in diesem Alter nicht lange allein leben können. Knöchel müsste Komplizen haben. Jemand, der sie jetzt ernährt, sie nicht sterben lässt. Das glaubt aber keiner. Denn Knöchel ist der klassische Einzeltäter. Also, ohne zynisch zu sein: Irgendwo da draußen«, er holte weit aus, »liegen vermutlich vier Kinderleichen.«
Quercher war zu müde, um zu merken, wie sehr diese Aussage Steinleitner schockierte. Ein Käuzchen war zu hören. Lumpi schlief, träumte und zuckte mit dem Kopf. Beruhigend legte Quercher seine Hand auf den Leib der Hundedame. Die schnaufte, öffnete halb die Augen und legte ihren Kopf in Querchers Schoß.
»Hast du den Sareiter im Fernsehen gesehen?«, fragte Steinleitner nach einer Pause.
Quercher schüttelte den Kopf.
»Der macht jetzt Geld mit seinem Buch auf Kosten der toten Kinder. Du kennst ihn doch auch?«
Quercher nickte langsam. »Wie? Du auch?«
»Indirekt. Aber ihr wart befreundet, nicht wahr?«
»Himmel, ja, der ist halt ein wenig anders. Das ist doch sein gutes Recht. Mal ehrlich, ich muss dir doch nicht erklären, dass seine Thesen auf fruchtbaren Boden fallen.«
»Na ja, der Sareiter ist halt verbohrt«, erwiderte Steinleitner.
Quercher schüttelte den Kopf. »Schau, ich habe mir die Akte vom Knöchel angesehen. Man kann sie so lesen, als sei er auch nur ein Opfer. Man kann sie aber auch so lesen, dass er ein böser Mensch ist und es auch für immer bleibt. Und dann fordert jemand wie Sareiter, dass solche Menschen nicht mehr in die Gesellschaft kommen dürfen. Dass man sie wegsperrt. Knöchel hat nachweislich Menschen geschlagen, gequält und versucht zu vergewaltigen. Der war gerade einige Zeit in der Psychiatrie und kam dann frei. Weil zwei Gutachter glaubten, er sei geheilt. Und ich muss dir doch nicht sagen, wie schwammig Gutachten sein können.«
»Und was, glaubst du, passiert jetzt?«
»Na ja, irgendwann wird Knöchel einknicken, das Versteck verraten und irgendwelche armen Kollegen dürfen dann erstickte oder verhungerte, misshandelte Kinderkörper aus einem Loch ziehen.«
»Hör auf, Quercher. Du bist nicht so kalt.«
Quercher richtete sich auf, Lumpi hob fragend den Kopf. »Weißt du, Ludwig, ich habe mich mit Extremisten, mit Islamisten und mit der organisierten Kriminalität auseinandergesetzt. Da wusste ich immer, woran ich bin. Aber ich habe immer einen weiten Bogen um solche Fälle wie den jetzigen gemacht. Nicht dass Extremisten klüger oder besser sind. Aber dieser pure, kranke Sadismus ekelt mich so an, dass ich nie eine gesunde Distanz zu diesen Fällen hätte. Man hat mich da heute hingerufen. Aber mir wurde schnell klar, dass mich das alles zu sehr anwidert. Es sind Kinder. Die haben mit den perversen Spielen der Erwachsenen nichts zu tun.« Er machte eine Pause. »Morgen ist ein neuer Tag. Und während sie den einen haben, wird sich irgendwo da draußen wieder einer so etwas ausdenken. Nicht genau das Gleiche. Aber wieder werden Kinder Opfer sein. Solange es Menschen, um nicht zu sagen: Männer, gibt.«
Er erhob sich. Seine Worte hatten Quercher selbst in Rage gebracht. Er musste gehen, wollte er seinem Freund nicht zu sehr die Nacht vermiesen.
Kapitel 24
Berlin, 02. 05., 09:30 Uhr
Noch in der Nacht hatten ihn Redakteure von drei verschiedenen Talkshows kontaktiert. Keine Ahnung, wer ihnen die Handynummer gegeben hatte. Vielleicht Lorassi, sein PR-Berater. Aber Sareiter fühlte sich geschmeichelt. Er hatte, kaum dass er den frühen Flieger aus München verlassen hatte, seine Homepage mit dem Smartphone geöffnet. Mehr als zweihundert Kommentare waren eingegangen. Er überflog sie, während die anderen Fluggäste an ihm vorbeieilten. Die, die ihn erkannten, zögerten, sahen ihn noch einmal an. Einige nickten ihm aufmunternd zu. Seine Thesen gefielen den Menschen. Er war jetzt der Hardliner, einer, der der Justiz, der Polizei und der Politik die Meinung sagen konnte. Denn er kam ja selbst aus diesem Stall. Er kannte die Missstände.
Sareiter ging weiter in den Warteraum, wo schon die Passagiere für den Rückflug nach München saßen, und öffnete auf seinem Smartphone die Seite von Amazon. Vierundzwanzig Stunden war das Buch jetzt auf dem Markt und stand bereits auf Platz fünfzig der Verkaufscharts.
Kaum wandte er sich wieder dem Ausgang zu, sah er die Kamerateams. Er kannte das aus seiner Zeit als Strafverteidiger. Aber da hatte er immer um Milde für die Täter gebeten. Jetzt war es anders. Jetzt war er die Stimme des Volkes. Es war verführerisch, einfach nur schlicht und plump zu argumentieren. Aber Sareiter wählte einen anderen Weg. Er nannte Zahlen, hatte alle Fakten im Kopf. Er kannte die täglichen Justizärgernisse von freigelassenen Straftätern, die erneut kriminell wurden. Die Geschichten von faulen Richtern, die Verfahren platzen ließen, weil sie sich nicht ins Gericht bemühten. Das alles hatte man schon tausendmal in Boulevardblättern und Sendungen lesen und sehen können. Aber bei Sareiter klang es fundiert, faktenreich und, dank seiner Art der Präsentation, nahezu unglaublich.
Um 10:30 Uhr hatte er einen Termin beim Deutschlandfunk. Danach ging es zu einer Fernsehaufzeichnung am Brandenburger Tor mit diesem widerlichen Pfarrer. Am Abend war er Gast in einer Livesendung bei einem ehemaligen Sportmoderator, der sich jetzt als Talkmaster gerierte.
Die Pressefrau aus Sareiters Verlag, die soeben aus der Economyklasse des Flugzeugs herauseilte, hatte hektische Flecken am Hals. Noch nie hatte sie sich mit so einem Medieninteresse auseinandersetzen müssen.
Das hatte auch ihr Chef, der Verleger von Sareiters Buch, geahnt. Und so hatte Lorassi für ihn ein altes Schlachtross der PR-Branche in Berlin aufgetan, das sich mit solchen Dingen besser auskannte. Seine Angestellte selbst hatte er vorab vorsichtshalber nicht informiert.
Kaum trat diese nun in die Flughafenhalle, ging die Neue auf sie zu, drückte ihr ein Ticket in die Hand und schickte sie postwendend zurück nach München. Nach einem konsternierten Zögern wackelte die Verlagsdame auf direktem Weg zum Check-in-Schalter. Vorher wünschte sie Sareiter noch viel Glück.
Der hatte das Ganze amüsiert beobachtet und stellte sich jetzt den Fragen der Reporter, die ihn im Flughafengebäude bedrängten. Die Neue, Charlotte Ursinus, zog sofort ein Aufnahmegerät aus ihrer Handtasche, um alle Fragen und Antworten von Sareiter zu dokumentieren. Dem gefiel das. Es wirkte zumindest professionell.
Charlotte Ursinus hatte in ihrem dreißig Jahre währenden Berufsleben alles gesehen. Als BILD-Reporterin gestartet, hatte sie sämtliche Stationen des Boulevards durchlaufen und sogar bei Privatsendern moderiert, ehe sie aufgrund des Alters aussortiert worden war. Nach einer Durststrecke, die sie als Geliebte eines Verlagschefs überlebt hatte, konnte sie eine kleine PR-Firma etablieren. Sie kannte die Macher und die Mechanismen. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist, war ihr Motto. Schon morgen konnte eine neue Nummer Sareiter und sein irres Buch von der ersten Seite der Aufmerksamkeit verdrängen. Jetzt hieß es, konsequent nachzulegen. Sie brauchte Sareiter für ein paar klärende Worte unter vier Augen.
Nachdem die wichtigsten Medien bedient worden waren, hakte sie Sareiter unter und zog ihn sanft, aber bestimmt hinaus zum Taxistand. Zwei müde und übergewichtige Berliner Polizisten schlenderten auf sie zu.
Ursinus sah die Gestalten im Rücken der Staatsmacht zuerst. Schwarz gekleidet, vermummt und mit schnellen Schritten auf Sareiter zusteuernd – das war die örtliche Antifa. Klar, dass die jungen Linken gegen die Hardlinerthesen aus Bayern angehen wollten. Kaum waren die Autonomen nah genug an Sareiter, flogen die Farbbeutel. Eier klatschten vor ihren Füßen auf den Boden. Die Polizisten, eben noch im Gespräch vertieft, zuckten zusammen, drehten sich um und wollten auf die Vermummten zulaufen, erkannten dann aber, dass sie zahlenmäßig nichts ausrichten konnten. Sie stellten sich vor Ursinus und Sareiter und der jüngere Polizist rief über Funk nach Verstärkung. Einige der Reporter und Kameraleute, die gerade ihr Equipment in die Wagen verstauten, hatten das Spektakel beobachtet und holten ihre Geräte wieder heraus.
»Was wollen die denn von Ihnen?«, rief einer der dicken Polizisten Sareiter zu.
»Meinen Kopf.«
»Na, dann rennen Sie mal«, antwortete der Cop lakonisch.
»Und Sie?«
»Ich lasse mich weiter von denen beschimpfen.«
»Willkommen in Berlin!«, rief Ursinus und schob Sareiter zu einem wartenden Taxi.
Ein Farbbeutel traf Sareiter an der Schulter, ehe er sicher im Inneren des Wagens saß. Der Fahrer, ein Türke, brüllte sofort los.
Ursinus zückte zwei Hunderteuroscheine und zischte, dass er das Maul zu halten habe. Das sei genug für die Reinigung der Polster.
Sareiter behielt das verschmutzte Sakko im TV-Studio an. Auch am Abend saß er mit den roten Flecken auf der Schulter neben dem ihm ergebenen Moderator und erklärte Deutschland, was alles schieflief in der Welt der Justiz.
Da war sein Buch schon auf Platz eins der Amazoncharts.
Charlotte Ursinus hingegen hatte ihr Outfit gewechselt und trug jetzt einen engen Minirock aus Leder. Im Gästeraum des Studios bestätigte sie vierzehn weitere Talk- und Interviewtermine und betete, dass die vier Ostin-Kinder noch möglichst lange verschwunden blieben.
Kapitel 25
Bad Wiessee, 02. 05., 08:30 Uhr
Max Quercher schaute aus dem Fenster und fand, dass der Tag perfekt für einen Ausflug nach Österreich war. Für Mai war es bereits außergewöhnlich warm. Nur auf den höchsten Berggipfeln lag noch Schnee.
Der Tegernsee war nur wenige Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Quercher würde zunächst entspannt mit Lumpi über den Pass, der die beiden Länder trennte, und dann weiter entlang des Achensees nach Innsbruck fahren.
Sein Telefon klingelte.
»Hier ist Pollinger.«
»Ferdi, wie geht’s dir? Servus!« Quercher biss sich auf die Lippen. Falsche Frage.
»Gut, Max. Mit einem weggeschnittenen Magen geht’s einem gleich besser. Zur Strafe für diese blöde Frage möchte ich heute Nachmittag von dir abgeholt werden.«
»Wie bitte?«
»Ja, vom Bahnhof in Gmund. Ich komme um vierzehn Uhr aus München an und werde in den Jägerhof bei euch in Bad Wiessee zur Reha gehen. Und sei so lieb und besorge mir einen Kasten mit Kreuther Heilwasser.«
»Ferdi, also ehrlich, ich weiß gar nicht, ob ich …«
»Das war keine Bitte.«
Quercher stöhnte. »Natürlich, Dr. Pollinger. Was darf es denn sein? Ein Liegewagen oder die Kutsche?«
»Mir reicht dein dreckiges Produkt aus Stuttgart.«
»Da bin ich ja beruhigt, dass ich dich mit meinem Benz abholen darf.«
»Mir wäre auch lieber, die Lumpi käme statt eines mittelmäßigen Mitarbeiters.«
»Also gut, ich bin da, um dich abzuholen. Sag mal, knurrt dir eigentlich noch der Magen? So als Phantomgeräusch?«
Pollinger hatte schon aufgelegt.
Quercher rief seine Schwester Anke an und bat sie, die Flaschen mit dem Heilwasser zu besorgen.
»Bist du irre, Max? Ich soll nach Wildbad Kreuth fahren und zwölf leere Mineralwasserflaschen mit dem Dreckswasser füllen?«
»Für Pollinger, Anke, bitte.«
Schweigen.
»Na gut. Aber du hast ihm schon gesagt, dass das Hokuspokus ist?«
»Ja, aber genauso gut hätte ich ihm sagen können, dass Franz Josef Strauß korrupt gewesen sei.«
Für die meisten Menschen, die nach Italien fahren, ist Innsbruck nur eine Stadt, die für den Fernverkehr ein Nadelöhr darstellt. Sie liegt in einem Kessel, umgeben von den ersten ›wirklichen‹ Bergen der Alpen, wenn man von Norden kommt. Der Inn fließt hier grüngrau hinab nach Bayern. Die olympischen Winterspiele fanden zweimal in Innsbruck statt. Jeder kennt die Skischanze. Aber kaum jemand weiß noch etwas über das ehemalige olympische Dorf.
Genau das war Querchers Ziel. Anders als in München lag die einstige Unterkunft der Athleten aber nicht im Stadtkern, sondern am Rand. Und so leben dort auch die Ausgegrenzten, die Schwachen, die Migranten – und Veronika Denke.
Hier zu ermitteln, ohne die österreichischen Kollegen zu informieren, war heikel. Aber er wollte so wenig Bürokratiewind wie möglich entstehen lassen. Schließlich war es bislang nur eine vage Vermutung seinerseits, dass Veronika Denke ihm mehr sagen könnte über den Toten im Klärwerk.
Er hatte Zeit. Also hielt er auf einem Parkplatz, pfiff Lumpi aus dem Auto heraus, setzte sich auf eine mit Graffiti übermalte Bank und las aus der Akte, die Arzu zusammengestellt hatte. Arzu hatte Quercher gebeten, ihr ein wenig Beschäftigung zu geben. Und so hatte er ihr noch vorgestern den Namen der Dame genannt, die er aufsuchen wollte, damit Arzu möglichst dezent etwas über sie herausfinden konnte.
Veronika Denke gehörte zu der kleinen, aber feinen Gruppe der Extrembergsteiger. Männer und eben seit einigen Jahren auch Frauen, die am Berg und vom Berg lebten. Die sich in immer irrsinnigere Projekte stürzten. Alle Berge waren bestiegen, die höchsten, die schwierigsten, die abgelegensten. Aber Bergsteigen und Rekord waren Geschwister. Und wer davon leben wollte, musste Spektakuläres vollbringen. Etwas, das berichtenswert war und die Sponsorengelder fließen ließ. Jene Gelder, die das Leben und die Expeditionen der alpinen Kleinstunternehmer finanzierten. Es reichte schon längst nicht mehr, einfach nur einen Berg zu erklimmen. Auch die sieben höchsten Berge in einem Jahr hintereinander zu besteigen, war schon zu langweilig. Vielmehr ging es jetzt um Geschwindigkeit und Handicaps. Es mussten zunächst die zwei, dann die drei und irgendwann die vier höchsten Gipfel aller Kontinente sein. Das mochte für Außenstehende absurd klingen. In der Szene aber nahm man das fürchterlich ernst – zuweilen mit tödlicher Konsequenz. Einigen war für einen Rekord jedes Mittel recht. So auch Veronika Denke. Sie hatte sich mit zwei weiteren Frauen vor zwei Jahren an einer spektakulären Besteigung eines Südpolgipfels versucht. Als sie allein ins Basislager zurückgekommen war, hatte sie berichtet, die anderen beiden seien unterhalb des Gipfels erfroren, sie jedoch hätte es geschafft. Das war selbst in der sonst harten und eingeschworenen Szene zu viel des Ehrgeizes. Angehörige der Toten ließen den Vorfall untersuchen. Es kam heraus, dass Denke nicht auf dem Gipfel war und die beiden anderen Frauen wohl im Stich gelassen hatte. Sponsoren verlangten Gelder zurück. Denke, einst gefeiert, war binnen weniger Wochen zu einer Persona non grata geworden. Jeder schnitt sie, ging ihr aus dem Weg.
Arzu hatte sich zu Querchers Missfallen auch über Veronika Denkes Kontostand informiert, und so las er, dass die Bergsteigerin verschuldet war. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Viele Bergsteiger vegetierten am Rande des Existenzminimums, nur wenige konnten von ihrem Sport gut leben. Sie verdingten sich dann mit lausigen Vorträgen über Teamorientierung und Durchsetzungsvermögen vor Führungskräften des mittleren Versicherungsmanagements. Oder sie zogen mit Multivisionsshows über die Lande und beantworteten brav die Fragen der verhassten Daheimgebliebenen.
Veronika Denke würde ein Erbe ihres Bruders erwarten können. Aber die beiden, so hatte sie es zumindest Kollegen gegenüber erwähnt, seien zerstritten gewesen und hätten sich lange nicht mehr gesehen. Als Täterin schied sie aus, sie hatte ein Alibi. Zum Tatzeitpunkt hatte sie sich im Landeskrankenhaus einer gynäkologischen Operation unterzogen. Auch das hatte Arzu mit einem Anruf beim leitenden Arzt überprüft.
Quercher sah sich die Bilder der Frau an. Sie war attraktiv, nicht schön, aber auf eine herbe, sehr asketische Art ansprechend. Ihre schwarzen Haare trug sie auf den meisten Fotos zusammengeknotet. Große klare Augen, mehr Falten, als eine Frau in ihrem Alter üblicherweise vorzuweisen hatte. Das Extreme hatte sich in ihr Gesicht eingegraben, wie Frost den Putz an einem Haus rissig werden lässt.
Er war gespannt. Quercher erhob sich, pfiff nach Lumpi, die um ihn herumstreunte, um dann widerwillig ins Auto zurückzuhüpfen. Er öffnete die Fensterscheibe und schloss die Tür nicht ab. Lumpi setzte sich wie eine Königin auf den Fahrersitz und schaute mit ihrer langen Nase erhaben hinaus. Quercher wusste, dass sich niemand in das Innere würde wagen können, wollte er nicht riskieren, dass die Schweißhunddame ungemütlich wurde. Das sonst sehr sanftmütige Tier verstand bei ›seinem‹ Auto keinen Spaß. Lumpi knurrte schon, wenn jemand vorbeiging, und wurden der Türgriff oder gar das Fenster berührt, begann sie, infernalisch die Zähne zu fletschen und zu bellen. Kein Kläffen, eher ein letzter Warnruf, fand Quercher.
Er schlenderte über die Straße, an einer verwilderten und mit Plastikmüll übersäten Grünfläche vorbei auf das Hochhaus zu. Das Gebäude hatte fünfundzwanzig Stockwerke und übersprühte Klingelschilder. Mühsam erkannte er den Namen Denke. Quercher ging durch einen tristen Flur, der nach Bier und Urin stank, zum Fahrstuhl.
Die vierunddreißigjährige Veronika Denke war nur eine Zeugin. Mehr nicht. Aber sie war auch die einzige noch lebende Angehörige, die etwas zu dem Toten im Klärwerk sagen konnte. Er ging zum Fahrstuhl. Außer Betrieb. Sein mittlerweile zwar verheilter Beinbruch würde sich unterwegs bemerkbar machen. Noch nie hatte Quercher eine Verletzung erlitten, die ihn so sehr an sein Alter erinnerte. Sein Arzt und Freund in Wiessee war kristallklar in seiner Ansage gewesen. »Das Bein wächst zusammen. Aber eben nicht mehr so schnell. Du bist über vierzig. Ab jetzt sind das alles Hinhaltegefechte. Oben bleiben ist jetzt die Devise. Mach Yoga, stärke deinen Rücken und die Beweglichkeit. Mehr ist nicht drin. Dein Körper ist wie dein alter Benz. Bei guter Pflege hält er noch ein paar Jahre. Aber deine Hüfte ist ein Problem. Ein Problem, das du lösen musst. Sonst gehst du bald wie Quasimodo aus Der Glöckner von Notre Dame.« Gut, wenn man solche Freunde hat, dachte Quercher sarkastisch, während er die Treppen nach oben lief.
Sie hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet, als er geklingelt hatte. Er war überrascht. Sie war geschminkt, zumindest hatte sie vor einiger Zeit Make-up aufgelegt. Der Lidschatten war schon ein wenig verrutscht, Reste von Lippenstift waren im Mundwinkel zu erkennen. Die Haare wirkten etwas durcheinander. Quercher hatte sein freundlichstes Gesicht aufgesetzt und durfte nach kurzem Zögern und einigen warmen Worten seinerseits die spartanisch eingerichtete Wohnung betreten.
Sie ging voran. Kein Bild hing an der Wand, die Möbelstücke konnte er an einer Hand abzählen. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, eine Miniküche. Das war alles. Auf dem Boden lagen Bücherstapel. Zeitschriften waren ebenfalls fein säuberlich aufeinandergelegt. In einem Raum sah er mit einem flüchtigen Blick durch die offene Tür eine Bergsteigerausrüstung. Aufgerollte Seile, Karabinerhaken, mehrere Rucksäcke, Esspakete in goldglänzenden Verpackungen und einige Metallkisten. Der nächste Raum war komplett leer. Es roch nach Desinfektionsmittel, nach Ordnung und Anspannung.
»Es tut mir leid, dass ich Sie mit Fragen nach Ihrem Bruder belästigen muss.«
Keine Reaktion.
Denke saß auf einem Heizungskörper unterhalb einer großen Scheibe, die den Blick freigab auf ein gigantisches Alpenpanorama im Süden, wo jetzt die Sonne stand und Quercher blendete. Er saß mitten im Zimmer auf einem Stuhl, musste blinzeln und seine Augen zusammenkneifen.
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte sie.
Quercher nickte.
Sie erhob sich und schlenderte zu einer Getränkekiste, nahm eine Mineralwasserflasche heraus und hielt sie ihm hin.
»Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?«
»Vor zwei Monaten. Er hat mich via Skype angerufen, wollte mich treffen. Dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Bis Ihre Kollegen anriefen. Stefan war bis zu seiner Bundeswehrzeit mein einziger Freund. Dann hat ihn das Militär kaputt gemacht, wenn Sie mich fragen. Wir hatten keine Basis mehr. Ich hatte meine Berge, er seine Kameraden und Waffen. In den letzten vier Jahren haben wir kaum ein Wort miteinander geredet.«
Quercher hatte von Arzu ein Internetprotokoll über Denkes Skypegespräche erhalten. Sie sagte die Wahrheit.
»Werden Sie sich um die Beerdigung kümmern?«, fragte Quercher.
»Wenn die Polizei ihn dann freigibt, schon. Ist ja keiner mehr da. Das kann ich gerade noch für ihn tun. Obwohl ich bezweifle, dass er dasselbe für mich getan hätte.«
»Mit Geschwistern ist es nie leicht. Man sucht sie sich ja nicht aus.«
Denke sah ihn mit spöttischem Grinsen an. »Für eine Familienaufstellung ist es jetzt wohl zu spät, Herr Psychologe.«
»Ihr Bruder war sehr aggressiv zu Tieren.«
»Gut, dass Sie mich daran erinnern. Aber das war mir bekannt.«
»Aha?« Quercher wurde jetzt komplett von der Sonne geblendet. Er versuchte, sich auf die Denke zu konzentrieren.
Sie trug eine extrem kurze Hose und ein weißes T-Shirt, durch das so ziemlich alles zu sehen war. Aber Quercher war der Körper von Veronika Denke nicht geheuer. Er war durchtrainiert, kein Gramm Fett war zu sehen. Die Beine sehnig, an diversen Stellen sah man die weißen Streifen von Narben. Das galt auch für die Arme, Narben am Ellenbogen und am rechten Handgelenk. Die Frau schien den Schmerz zu suchen, fiel es ihm unwillkürlich in den Sinn. Er musste sie aus der Reserve locken.
»Hat er Sie auch gequält?« Quercher sah genau hin.
Zunächst keine Reaktion. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Wo waren Sie denn, als Ihr Bruder starb?«
»Im Krankenhaus. Ein Routineeingriff. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon längst. Und nur weil Stefan mal an meinem Geburtstag meine Katze in die Mikrowelle gesteckt hat, werfe ich ihn nicht in die Kläranlage.«
Quercher war beeindruckt. Sie war anscheinend davon ausgegangen, dass man sie verdächtigen würde. Keinerlei gespielte Überraschung. Er erhob sich mit der Flasche in der Hand und ging in der Wohnung umher.
»Das ist aber immer noch eine Zeugenbefragung und keine Durchsuchung?«, fragte Denke und lief hinter ihm her.
Er sah Wanderkarten auf dem Boden, erkannte aber nicht, was die Karten zeigten. Sie schien eine neue Tour zu planen. »Wo geht’s hin?«
»Sankt Peter-Ording. Sieht man doch.«
»Warum so unkooperativ? Störe ich Sie?«
»Ich bin kein Freund staatlicher Organe. Das hat was mit meinem familiären Hintergrund zu tun.«
»Ach, weil Ihr Bruder Katzen röstete und beim Militär war, sind wir alle doof. Differenziertes Menschenbild, Frau Denke.« Quercher wusste, wann Schluss war. Die Schwester wollte oder konnte nichts sagen, das Ergebnis war dasselbe. Es war einen Versuch wert gewesen. »Dann lasse ich Sie mal wieder allein. Vielleicht erreichen Sie bei der nächsten Expedition dann auch wirklich den Gipfel!«
Sie sah ihn zum ersten Mal authentisch wütend an. Treffer, dachte er.
Er hatte sich schon fast umgedreht und konnte ihren Fuß nicht mehr sehen. Den Fuß, der gegen sein rechtes Bein trat, genau auf Höhe der Bruchstelle, die gerade verheilt war und die jetzt einen gnadenlosen Schmerz in Querchers Hirn sandte.
Er schrie, krümmte sich und bückte sich hinunter, um reflexartig die getroffene Stelle zu begutachten.
Auch Denke beugte sich hinunter. »Ups, das tut mir leid, ich wollte doch nur vorgehen. Dürfen bei Ihnen in Bayern die Frauen nicht zuerst durch die Tür?«
Quercher humpelte hinaus zum Fahrstuhl, der anscheinend wieder funktionierte. Ein kleiner Araberjunge stand davor und wartete. Er sah Quercher mit aufgerissenen Augen an, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf ihn zuhumpelte.
»Was ist dir passiert?«, fragte er mit starkem arabischen Akzent.
»Das Pferd Mohammeds des Propheten trat mich.«
Der Junge sah ihn noch skeptischer an.
Quercher lächelte. »Ach was, ich bin nur getreten worden.«
»Von einer Frau?«
»Ja.«
»Meine Schwestern treten mich auch.«
»Ja, gewöhn dich dran. Das wird immer so bleiben.«
Quercher humpelte zu seinem Wagen, in dem Lumpi schon mit sehnsüchtigem Blick wartete. Er öffnete die Tür, schaltete sein Handy an und fuhr aus der Parklücke. Sofort blinkte das Telefon und zeigte ein Dutzend nicht angenommener Anrufe an. Die Mailbox musste voll sein. Er stellte auf laut und hörte zu, während er langsam durch das alte olympische Dorf Richtung Autobahn fuhr.
»Hier ist Gerass. Rufen Sie mich bitte sofort zurück, wenn Sie Ihr Handy wieder einschalten.« Pause. »Ich weiß, dass Sie in Österreich sind. Wir brauchen Sie HIER!«
Der nächste Anruf. Pollinger.
»Ich verstehe, dass du Auszeiten brauchst. Aber jetzt solltest du nach München kommen. Ich fürchte, deine Kollegin und ehemalige Beischlafpartnerin hat ein Problem.«
Neuer Anruf. Arzu.
»Scheiße, Quercher! Nimm dein verfluchtes Handy mit. Bist du in einem verdammten Puff oder was? Es ist scheißdringend! Es geht um Julia. Los jetzt. GEH RAN!«
Kapitel 26
München, 02. 05., 06:45 Uhr
Constanze Gerass genoss die Ruhe. In wenigen Minuten musste sie dem Innenminister die Katastrophe erklären. Jedes Wort würde dokumentiert werden. Dafür würde sie schon allein aus dem Wunsch, beruflich zu überleben, sorgen. Sie sah hinunter zu den weißen und schwarzen Kleinbussen mit den Satellitenschüsseln auf dem Dach. Die Journalisten warteten auf Beute. Für einen kleinen Moment war sie versucht, den alten Pollinger anzurufen. Aber könnte er helfen? Klar, seine Kontakte waren legendär, seine Methoden zweifelhaft, aber effektiv. Jemand wie Pollinger nutzte so wirre Geister wie den Quercher, um spektakuläre Ergebnisse zu erzielen. Aber alles, wofür Pollinger stand, war so ziemlich das Gegenteil dessen, was ihrem Prinzipienkanon entsprach. Nur: Galt das jetzt noch? Vier Kinder waren seit Tagen vermisst. Darunter der Sohn eines mächtigen Zeitungsverlegers. Sie hatten den Täter – und dann passierte das! Ein Sturm würde losbrechen. Und wo würde dieser Sturm sie hinwehen? Aus dem Amt, das sie gerade kommissarisch übernommen hatte? Jetzt musste alles auf den Tisch, das war ihre Strategie. Selbst wenn ihr oberster Dienstherr riete, es nicht zu tun, würde sie die volle Verantwortung übernehmen.
Das Telefon klingelte. Ihre Sekretärin.
»Der Herr Innenminister.«
»Danke.«
Sie hörte eine schleppende, müde Stimme am anderen Ende, die darum bat, den Fall in kurzen Worten zusammenzufassen. Gerass war sich sicher, dass der Politiker schon längst das ganze Ausmaß der Tragödie von einem Zuträger aus dem Haus hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert bekommen hatte. Dennoch blieb sie sachlich. Sie biss ein weiteres Stück Haut von ihrem malträtierten Finger und begann.
»Wir hatten den Täter gestern Morgen um 6:35 Uhr nach einem gelungenen Zugriff in Gewahrsam. Ein MEK-Kommando und Kollegen der Bereitschaftspolizei überführten den Verdächtigen zu uns hier nach München in die Maillingerstraße. Den ganzen Tag vernahmen wir ihn. Er schwieg. Seine Anwältin durfte ihn besuchen – mehrfach. Auch ihr fiel nichts auf. Auf ihre Frage, ob man ihn gut behandeln würde, hat Knöchel positiv geantwortet. Zu Beginn einer weiteren Vernehmung wurde der Verdächtige bewusstlos. Der Notarzt wurde sofort gerufen und kam nach wenigen Minuten. Auf dem Weg in die Notaufnahme fiel der Täter ins Koma. Im Krankenhaus stellten Ärzte eine nicht diagnostizierte, unbehandelte Kopfverletzung fest. Sofort stand, aufgrund einer Mutmaßung des behandelnden Arztes, der Verdacht der Folter im Raum. Der Arzt vermutete einen Schlag. Dieser Schlag hatte eine Anschwellung des Hirns zur Folge, was wiederum zum Platzen eines Gefäßes im Kopf führte. Seit einer halben Stunde operieren die Ärzte in einem Krankenhaus im Westen der Stadt. Die Anwältin will um elf Uhr an die Presse gehen.«
Schweigen am anderen Ende.
Gerass fuhr fort. »Wir haben hier beim LKA jede Vernehmung dokumentiert. Sie alle werden gerade gesichtet. Alle vernehmenden Kollegen versichern, den Verdächtigen nicht oder nur sehr leicht berührt zu haben. Es soll zu keiner Form von Handgreiflichkeit oder gar körperlichem Übergriff gekommen sein.«
»Wo ist denn da der Unterschied, Frau Dr. Gerass?«, fragte der Innenminister leise.
»Zuweilen versucht ein Verdächtiger, sich zu wehren, zu fliehen oder schlicht zu randalieren. Dann wird er fixiert. Aber genau das ist nicht vorgekommen.«
»Kann es sein, dass er sich die Verletzung selbst zugezogen hat?«
»Das ist auch im Bereich des Möglichen. Vielleicht hat Knöchel sich schon vor dem Zugriff verletzt. Die leitende Ermittlerin Julia Dahmer hatte allerdings eine Untersuchung von Knöchel durch einen Amtsarzt hier im Präsidium vor der ersten Vernehmung aus Zeitgründen abgelehnt. Und der aktuell behandelnde Arzt meint, dass die Verletzung nicht älter als vierundzwanzig Stunden ist. Sonst wäre das Koma früher eingetreten.«
»Was wird die Anwältin der Presse sagen? Können wir auf sie einwirken?«
»Negativ. Sie ist zwar jung. Aber sie sieht auch, dass sie mit diesem Fall richtig groß rauskommen kann. Das wird sie sich nicht nehmen lassen.«
Der Innenminister, selbst Jurist, lachte bitter. »Klar, aus einer Pflichtverteidigerin wird die große Streiterin für Recht und Würde und gegen Folter sowie Willkür.«
»Und wir stehen wieder als die Bösen da.«
»Nein, Frau Dr. Gerass. Eher als die Blöden. Da ist so ziemlich alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte. Sie hatten den Täter, haben ihn aber nicht untersucht. Das war der erste Fehler. Der zweite ist, dass wir nicht sagen können, wann und wo er den Schlag bekam. Das gibt Raum für Spekulationen. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir es bei einem Angehörigen der Kinder mit einem Medienvertreter der größeren Dimension zu tun haben. Hat der Verdächtige irgendeine für Sie wichtige und vor allem positive Aussage vor seinem Wegdämmern getätigt? Wissen Sie etwas vom Aufenthaltsort der entführten Kinder? Kurz: Haben Sie irgendetwas in der Hand?«
Sie hatte bereits registriert, dass der Innenminister von ›wir‹ auf ›Sie‹ gewechselt war. Gerass kannte das schon. Man suchte jetzt einen Schuldigen.
»Nein, Herr Innenminister. Faktisch stehen wir wieder am Anfang. Wir analysieren Knöchels Computer, sein Umfeld, seine Gespräche, seinen Aktionsradius. Aber bislang ist nichts gefunden worden, was uns näher an die Kinder bringt.«
»Wer ist noch einmal die Chefermittlerin?«
»Julia Dahmer, eine sehr kompetente Mitarbeiterin. Ich stütze sie vollumfänglich.«
»Soso, das ist ja honorig. Tun Sie das auch, wenn es heute Abend in den Nachrichten heißt: ›Bayerische Polizei – zu blöd zum Verhören‹ oder ›Koma statt Geständnis – vier Kinder frieren noch immer, weil bayerische Polizei Anfängerfehler macht‹? Ich fliege heute nach Berlin zu einer Talkshow mit dem Sareiter. Ich möchte wenigstens nicht gänzlich mit runtergezogener Hose dastehen. Alles, was jetzt passiert, ist Wasser auf die Mühlen dieses Mannes und all jener, die hinter ihm stehen. In solche Runden geht man nur, wenn man einen Erfolg zu vermelden hat oder den Skalp eines Schuldigen in der Hand hält. Sie kennen doch das Spiel. Ich werde jetzt den Ministerpräsidenten informieren. Sie werden noch vor der Anwältin mit der Presse sprechen. Denn noch können wir das niedrig hängen. Tenor: Verdächtiger entzieht sich Verhör. Derweil finden Sie heraus, wie der kleine Scheißer seine Beule bekam. Es wäre wünschenswert, wenn er sie im Chaos des Zugriffs erhalten hätte. Verstehen wir uns?«
Gerass dachte fieberhaft nach, ob das eine Falle sein könnte. Aber es klang zu verlockend.
Julia Dahmer wollte schreien. Sie fühlte sich, als würde sie in einem Meer treiben, die Lichter einer rettenden Insel sehen und dann feststellen müssen, dass stattdessen ein riesiger Tanker auf sie zusteuerte.
Dahmer neigte nicht zu Panik. Sie liebte das Risiko, sportlich wie beruflich. Aber das hier glich einer Lawine. Noch nie waren die Ergebnisse ihrer Arbeit so sehr ins Licht der Öffentlichkeit gezogen worden wie in diesem Fall. Und die Ergebnisse waren katastrophal. Opfer nicht gefunden, Täter im Koma – und keiner wusste, wer ihn geschlagen hatte. Sie hatte Gaugenrieder sofort angerufen, der am Tegernsee für ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte.
»Das kann nur während des Zugriffs passiert sein«, rief er nun zum wiederholten Mal.
Dahmer musste sich beherrschen. Gaugenrieder verstand nicht die Dimension ihrer Wut, ihrer Ohnmacht. Es musste raus. Sie trat gegen den Mülleimer, der mit leeren Joghurt- und Kaffeebechern gefüllt war, sodass sich alles vor ihr auf dem Boden verteilte.
»Fritz, das ist eigentlich wurscht. Wir müssen etwas finden, und zwar schnell. Da ist kein Platz für ›kann‹, verdammt! Wir sind am Arsch, verstehst du? Die werden uns hängen, dich und mich. Wir waren für den Zugriff verantwortlich sowie für den Transport und auch für die Vernehmung. Und wir, du und ich, haben keinen Wert auf eine intensive ärztliche Untersuchung gelegt. Und jetzt liegt das Arschloch auf der Intensivstation und das wenige Hirn, das das Schwein noch hat, weicht gerade auf. Also, Fritz, es wäre fein, wenn du zu unserem Überleben etwas beitragen könntest.«
Schweigen.
Dann: »Julia, ich war hier am See. Du warst in München. Die Untersuchung ist nicht meine Baustelle gewesen.«
Sie wusste es. Fehler haben meist keine Eltern. Sie war jetzt ganz allein. Das spürte sie. Und sie nahm es Fritz Gaugenrieder auch nicht übel. So war das eben. Sie legte einfach auf. Knipste ihn weg.
Jemand klopfte.
Sie konnte nicht gleich öffnen, Tränen standen in ihren Augen. Sie rieb sie weg. Hustete, stellte den Mülleimer auf und spuckte den Rotz aus ihrem Mund in den Eimer. »Ja?«
In der Tür stand eine Kollegin der Bereitschaftspolizei.
»Ja?«
»Ich glaube, dass Sie etwas wissen sollten.«
Dahmer setzte sich an den Schreibtisch. Sie war unendlich erschöpft. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine junge Kollegin mit Geltungsdrang. »Ja, was denn?«
Die Frau schloss die Tür. Langsam ging sie auf Dahmer zu. Sie griff in eine Tasche ihres dunklen Overalls mit dem bayrischen Wappen auf dem Ärmel und zog ein Handy heraus. Sie tippte ein paarmal auf das Display, ehe sie es Dahmer entgegenhielt.
Die sah einen undeutlichen Film mit miesem Sound. Es war irgendwo in einem Wagen. Sie erkannte Knöchel. Jemand, der ihm gegenübersaß, filmte ihn. Dann erhob sich jemand vor ihm, verdeckte Knöchel. Es waren nur noch Stimmen zu hören. Ein Flüstern, jemand rief etwas. Es klang ärgerlich. Dann ein stumpfer Stoß. Jemand stöhnte. Eine Frauenstimme redete auf jemanden ein. Noch ein Schlag, wieder ein Stöhnen. Ein Flehen. Schreien. Dann brach es ab.
»Was ist das? Und vor allem: Wo ist das?«
Die Kollegin schüttelte den Kopf. »Ich mache viel. Aber meine Existenz werde ich für Sie und diesen Scheißkerl nicht aufs Spiel setzen!«
Sie drehte sich um und ging. Dahmer war fassungslos. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn machen würde, diesem Dokument hinterherzulaufen. Auch wenn sie nicht ahnen konnte, dass die Kollegin nur kurze Zeit später das Handy in einen Wagen der städtischen Müllabfuhr warf. Der jungen Frau ging es darum, Dahmer nicht nur zu zeigen, wie es passierte, sondern vielmehr, dass es intern und vorsätzlich passierte. Dahmer würde, wollte sie die Kollegin darauf festnageln, gegen eine Mauer des Schweigens rennen.
Jetzt, wo sie keinen Verdächtigen mehr zum Befragen hatten, würde sie sich wieder auf die anderen Hinweise konzentrieren müssten. Zudem musste nun noch intensiver Knöchels Vorleben durchleuchtet werden. Hatte er Komplizen? Mit wem hing er ab? Hatte er heimliche Verstecke?
Etwas glimmte in ihr. Ein kleines Stückchen Hoffnung inmitten all ihrer Verzweiflung. Sie wollte nicht aufgeben. Als Sportlerin war Julia Dahmer Niederlagen gewohnt. Sie war Marathons gelaufen, kannte die Einsamkeit in so einem Tief und hatte auch Methoden gefunden, sich da wieder herauszuziehen. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen. Die Pressekonferenz, so hatte ihr Gerass gesagt, würde diese allein mit dem Polizeipräsidenten führen. Dahmer war dort nicht nötig, hatte sie fast fürsorglich zu ihr auf dem Flur vor ihrem Büro gesagt.
Dahmer brauchte mit ihrem Rennrad nicht einmal zehn Minuten bis zum Nymphenburger Kanal. Sie setzte sich die Kopfhörer in die Ohren und rannte los. Niemand hätte der schlanken Frau mit den muskulösen Armen und Beinen diese Musik zugetraut. Julia Dahmer hörte Motörhead.
Eine Stunde später stand sie schon wieder unter der Dusche im LKA-Gebäude. Ihre Verzweiflung war einer trotzigen Energie gewichen. Sie würde auch ohne Knöchel die Kinder finden. Fast gut gelaunt und noch mit nassen Haaren rannte sie die Treppe zu ihrem Büro hinauf, wollte sich noch schnell ein Haarband holen. Die betretenen Gesichter derer, die an ihr vorbeigingen, registrierte sie nicht schnell genug. Erst als sie am großen Einsatzraum vorbeihastete, sah sie Gaugenrieder in der Tür stehen. Er hob entschuldigend die Arme.
»Was ist? Warum bist du nicht am See? Geht ihr nicht Knöchels Zimmer durch, seine Freunde – all das Zeug?« Und während sie das fragte, ahnte sie schon, dass etwas nicht so lief, wie sie sich das noch vor einer halben Stunde im Nymphenburger Park vorgestellt hatte. Ihre Idee vom Weiterermitteln zerplatzte wie ein rohes Ei auf Beton. Sie stand da mit ihren nassen und strähnigen Haaren und sah Gaugenrieder beim Sprechen zu, aber sie verstand nichts.
»Julia, hörst du mich?«
Sie lächelte wie unter einer angenehmen Betäubung. »Enthoben«, wiederholte sie das Wort, das er leise zu ihr gesagt hatte.
Er nickte.
»Und wer soll das alles«, sie zeigte auf den Raum mit den herumlaufenden, telefonierenden und lesenden Kollegen, »weitermachen?«
Gaugenrieder sah betreten zu Boden und flüsterte den Namen.
Ganz langsam kroch das Wort in Julia Dahmers Kopf. Sie ließ es sacken.
Dann schrie sie es laut heraus. »Niemals! Nur über meine Leiche. Das lasse ich mir nicht gefallen!«
Kapitel 27
Berlin, 02. 05., 22:45 Uhr
Sareiter hatte, nachdem die Berliner Polizei vor Übergriffen durch linke Aktivisten gewarnt hatte, das ursprünglich gebuchte Hotel durch den Kücheneingang verlassen und war in ein Motel gezogen. Das Gebäude glich einem Zylinder, hatte schon bessere Zeiten gesehen und diente meist Vertretern der nahe gelegenen Messe als Unterkunft. Unter ihm der Verkehr, der in die Hauptstadt hinein- und hinausfuhr, über ihm der Stern einer Automarke. Es gab schönere Plätze, aber Sareiter hatte wenige Ansprüche. Seine Vision, das war ihm von Anfang an klar, würde ihm viel abverlangen.
Er hatte nach der Talkshow noch ein Dutzend Interviews geben müssen. Sein Verleger hatte ihn aufgeregt angerufen. Das Buch war jetzt schon auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste. Kein Journalist hatte es vorher lesen dürfen. Das war eine der Bedingungen Sareiters gewesen. »Ich will den Lesern eine unvoreingenommene Sicht geben, kein Journalist soll seine eitle und linksliberale Meinung darüber ausgießen dürfen«, hatte er noch gestern in der Talkshow vollmundig erklärt. Morgen früh würde das Buch Schlagzeilenthema bei den meisten großen Tageszeitungen sein. Am Nachmittag würden weitere Radio- und Fernsehinterviews folgen.
Jetzt nahm er sich eine Auszeit. Die nächste Phase musste eingeläutet werden. Die Aufregung um das Buch würde nicht mehr lange anhalten. Das Thema Justiz hielt sich nicht so lange in den Schlagzeilen wie zum Beispiel das Thema Migranten. Das wusste er von Klaus Lorassi, seinem PR-Berater im Hintergrund. Der ehemalige Chefredakteur einer Boulevardzeitung kannte alle Möglichkeiten, ein Thema lange am Köcheln zu halten und es auf die Spitze zu treiben. Aber irgendwann war die Luft raus. Aus dem kurzen Hype musste eine Bewegung werden, etwas, was nachhaltig und intensiv genug war, die Menschen zu elektrisieren. Sareiter hatte immer schon den Wunsch verspürt, politisch tätig zu sein, wollte nicht nur reagieren, sondern etwas anstoßen. Anwalt sein, das war eine Reaktion auf etwas. Politik war Gestalten. Das war sein Wunsch.
Er saß in einem Restaurant und starrte versonnen auf die Autos, die sich in die Stadt hineinschoben, als ein sehr kleiner Mann mit einem großen Kopf auf ihn zukam. Er wirkte von Weitem unscheinbar und sein Charisma nahm auch nicht zu, als er direkt vor Sareiter stand.
Erst als seine Stimme erklang, drehte sich Sareiter zu ihm. »Klaus, du bist ja ein Geist.«
»Ja, mehr werde ich für dich auch nie sein. Nur eine Jeannie, ein Flaschengeist.«
Sareiter wies auf den Platz gegenüber. Nach einem kurzen Geplänkel kamen sie zum Kern.
»Was soll der nächste Schritt sein?«, fragte Lorassi.
Aus dem Stehgreif spulte Sareiter sein Programm ab.
Lorassi kannte das. Er würde diese Schwurbeleien auf knackige Kernthesen reduzieren müssen und dabei immer darauf achten, dass der ›Meister‹ sein Werk ja nicht gefährdet sah.
Lorassi dachte immer in Schlagzeilen. Er schwieg scheinbar ergriffen, als Sareiter fertig war, ehe er leise begann: »Kurz: Angriff auf Bürokratiefilz, weg mit Landesfürsten und Kleinstaaterei, Kampf gegen Reformpädagogik, Ausländer härter anfassen und in die Verantwortung nehmen, Schluss mit Steuerirrsinn. Die Erklärung muss auf einen Bierdeckel passen.«
Sareiter nickte. Er war zufrieden, wusste er doch, dass Lorassi mit diesen Thesen würde arbeiten können. Hier einen willigen Journalisten ein Essay schreiben lassen, dort die große Überschrift fabrizieren.
»Was können wir noch tun?«, fragte Sareiter. Er wollte den nächsten Termin noch im Kopf vorbereiten.
»Markus, in vier Wochen heirate ich am Tegernsee. Es werden einige prominente Personen aus dem öffentlichen Leben kommen. Es wäre hilfreich, wenn du dabei sein könntest.«
»Ich bin nicht der Typ für solche Veranstaltungen. Ich stehe für ernsthafte Themen.«
»Schon, aber du solltest dich da auch ein wenig öffnen.«
»Warum am Tegernsee?«, fragte Sareiter. »Ein Dreckstal mit fürchterlichen Menschen. Geht’s nicht auch in München?«
Lorassi seufzte. »Meine Frau würde es gern romantisch-bayerisch haben. Im Übrigen kenne ich das Tal. Ich habe da als Kind gewohnt.«
»Na ja, dann weißt du ja, dass dir diese Diebe dort das Geld aus der Tasche ziehen werden, sobald sie für dich den Paradebayern spielen müssen.«
Lorassi grinste bitter. Ja, das wusste er nur zu genau.
Kapitel 28
Bad Wiessee, 02. 05., 11:34 Uhr
Arbeit sollte alles besser machen. Das hatte sich Gundel Viervogel immer eingeredet. Sie war, obwohl die Polizei ihr davon abgeraten hatten, wieder in ihren Supermarkt an der Hauptstraße zur Arbeit gegangen, hatte die Waren eingeräumt, an der Kasse gesessen und versucht zu lächeln, wenn jemand mit unbeholfenen Worten bemüht war, sie zu trösten. Meist aber kamen die Menschen nur herein und glotzten heimlich in ihre Richtung. So sah also die Mutter des verschwundenen Jungen aus. Sie spürte die Blicke. Ahnte, was die Menschen dachten. Aber lieber diese stechenden Blicke, als daheimzusitzen und zu warten und zu hoffen und zu weinen und zu verzweifeln.
Eine Kollegin löste sie an der Kasse ab. Gundel Viervogel schritt mit gesenktem Kopf in den Aufenthaltsraum, griff nach der Schachtel Zigaretten und ging hinaus an die Luft. Mit zitternden Händen zündete sie die Zigarette an, zog den Rauch tief ein, bis die Lunge schmerzte. In ihrem Kopf hämmerte es. Ihre Lippen hatte sie zerbissen.
Wo war Laurenz? Sobald ihr der Gedanke an seinen Tod in den Sinn kam, versuchte sie, ihn wegzuscheuchen. Er lebte. Er musste noch irgendwo leben. Eine Mutter spürt doch so was. Dachte sie zumindest. Aber sie spürte nichts. Nur Verzweiflung und Angst. Ob er überhaupt noch hier am See war?
Am Morgen war sie hinaus in den Garten gegangen, weil sie ein Geräusch gehört hatte und dachte, dass er zurückgekommen sei. Aber es war wohl nur ein Fuchs. Als sie barfuß und im Nachthemd wieder in ihre kleine Wohnung gegangen war, war sie über Laurenz’ Kettcar gestolpert und der Länge nach hingefallen. Minutenlang hatte sie auf den kalten Fliesen gelegen, gewimmert und der Rotz war ihr aus der Nase gelaufen.
Hatte Mark ihn mitgenommen? Sie hatte den Polizisten alles über Mark gesagt und war sich sicher, dass sie ihn finden würden. Aber sie glaubte nicht wirklich, dass Mark dahintersteckte. Er hätte nur Laurenz entführt und nicht auch noch die anderen Kinder. Gegenüber dem Supermarkt befand sich die Polizeistation des Ortes. Dort schien normaler Betrieb zu herrschen, vielleicht hatte die Polizei schon aufgegeben. Aber nein, nicht, solange der Sohn des Verlegers noch nicht gefunden war. Der hatte Macht, Geld und Einfluss. Um den kümmerten sich die Polizisten. Ihr hatte man eine ehrenamtliche Kriseninterventionstante an die Seite gestellt. Und sie wusste seit heute, dass sie überwacht wurde. Auf dem Parkplatz des Supermarktes stand ein blauer BMW mit zwei jungen Männern, die immer wegschauten, wenn sie zu ihnen hinüberblickte. Dachten die, dass Mark zu ihr käme? Mit den Kindern?
Heute Morgen war sie während einer Pause zum Auto der beiden gegangen. Sie hatten nicht einmal die Scheibe heruntergedreht, sondern nur ihre Ausweise an die Scheibe gelegt und den Finger auf den Mund gelegt. Sie konnte gerade noch lesen, dass sie von der Kripo Rosenheim kamen. Den Verleger würden sie nicht überwachen, nur beschützen. Sie wurde nicht beschützt, nur verdächtigt. Weil ihr Kind einen kriminellen Vater hatte. Ihr Sohn aber war genauso verletzlich wie das Kind der Reichen. War genauso wichtig.
Sie hatte den ganzen Tag nicht so intensiv an ihren Jungen denken müssen wie in diesem Moment. Jetzt überrollten sie die Emotionen. Sie schwankte und lehnte sich an ein Auto. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es kroch ein Gefühl in ihren Kopf, das sie nicht kannte: unbändige Wut.
Ihre Schicht war in einer Stunde vorbei. Sie würde in den Wagen steigen und zu den Reichen fahren. Sie wollte wissen, wie die so betreut wurden, was sie alles bekamen, und wollte ihren Teil einfordern. Aber zurück im Aufenthaltsraum konnte sie nur auf dem Stuhl zusammensinken und hemmungslos weinen. Leise, damit keiner der Kunden da draußen gestört wurde.
Kapitel 29
München, 02. 05., 15:51 Uhr
Als Quercher auf dem Rückweg von Innsbruck in Bad Wiessee stoppte, hatte Arzu ihn gleich weiter nach München geschickt. Zuerst war er ins LKA gefahren, dann zu Julia.
Er fand sie neben ihrem Bett. Sie hatte gekotzt und war neben dem Erbrochenen eingeschlafen. Lumpi stieß ihre lange Nase gegen den nackten Fuß von Julia. Doch die rührte sich nicht.
Quercher hob sie hoch. Ihr T-Shirt verrutschte, er berührte aus Versehen ihre Brüste. Er zog sie weiter hoch. Öffnete mit einer Hand ihren Mund. Ein Stöhnen. Sie erbrach noch einmal. Er trug sie ins Badezimmer, hielt sie über das Duschbecken, umarmte sie von hinten und presste ruckartig seine Arme gegen ihren Bauch. Ihr Mageninhalt schoss heraus und Quercher bekam diverse Spritzer ab. Er beugte sich weiter nach vorn, drehte den Hahn auf und kaltes Wasser lief aus der Brause. Es war nicht zu vermeiden, dass auch er dabei nass wurde.
Julia stöhnte lauter, wehrte sich plötzlich. Riss die Augen auf. Schlug gegen seine Hüfte.
Ein Schmerz durchzuckte ihn, ließ ihn in die Knie gehen. Gemeinsam rutschten sie an den Kacheln entlang auf den Boden der Duschkabine. Quercher hielt Julia im Arm. Sie weinte.
Eine Stunde zuvor hatte er im Büro von Frau Dr. Gerass gestanden. Sie hatte ihm ruhig und sachlich die Situation geschildert. Eine Situation, in die sie Gerass’ Einschätzung nach allein Julia Dahmers Ehrgeiz geführt hatte. Gerass glaubte zu wissen, dass sich Dahmer und Quercher nicht mochten. Und dass sie ihm einen Gefallen tat.
»Sie werden sofort von diesem Suizidfall abgezogen und übernehmen Ostin. Das ist mit dem Innenminister so abgestimmt. Auch wenn Sie als Quertreiber gelten, sind Ihre Qualitäten unbestritten. Deshalb werden Sie das neue Team anführen.«
»Was genau soll Kollegin Dahmer denn falsch gemacht haben? Soll sie den Verdächtigen geschlagen haben?«
»Nein, das hat sie bestimmt nicht. Aber sie hätte ihn besser beobachten lassen sollen.«
»Und diese medizinische Beurteilung hätte Kollegin Dahmer nach Stunden der Ermittlung und ersten Verhören leisten sollen? Interessant. Was noch? Eine Erdnuss wie Supergoof einwerfen und dreimal ums Haus fliegen?« Quercher war sich sicher, dass eine wie Gerass nie Comics gelesen hatte und somit auch den Supergoof nicht kannte.
»Ihr Hang zur Sprechblase ist bekannt, Kriminalrat Quercher. Aber Sie sind nicht hier in meinem Büro, um die Integrität Ihrer Kollegin zu beurteilen und zu verteidigen. Sie sollen den Fall Ostin übernehmen.«
»Wer macht bei Denke weiter?« Es war eine sinnlose Frage, denn er wusste die Antwort bereits.
»Stefan Denke ist nach Überprüfung durch die Rechtsmedizin und nach dem jetzigen und abschließenden Erkenntnisstand durch eigene Hand zu Tode gekommen. Ihr Kollege vom MAD, Oberleutnant Brindöpke, hat dazu mehrere Mails von Denkes Kameraden vorgelegt, in denen Denke nicht nur vage Andeutungen zu einem Freitod macht. Der Fall wurde daher auf Anordnung der Staatsanwaltschaft geschlossen.«
Der Fall war einfach geschlossen worden, ohne dass man ihn zumindest angehört hatte? Das roch, dachte Quercher. »Und wenn ich neue Erkenntnisse in Innsbruck gewonnen hätte?«
»Dann haben Sie bei unseren Nachbarn ohne jede Anfrage nach Kooperation eigenhändig und ohne Rücksprache gegen geltendes Recht verstoßen. Oder lag ein Notfall vor, der Sie in die Hochhäuser nach Innsbruck zog?«
»Vielleicht?«
Gerass sah auf den roten blinkenden Knopf an ihrer Telefonanlage. Lange würde sie sich nicht mehr mit diesem bockigen Mitarbeiter abgeben. Sie wollte nicht bitten. Nicht dass sie zu stolz dazu gewesen wäre. Auf solche männlichen Mätzchen konnte sie verzichten. Aber hier ging es um eine Machtprobe. Quercher wollte nicht. Klar, er konnte nicht viel gewinnen. Mehr als zweiundsiebzig Stunden waren nach der Entführung vergangen, man hatte sich auf Knöchels Täterschaft fokussiert. Selbst wenn andere Spuren weiterverfolgt wurden, so blieb es nicht aus, dass alle, die an diesem Fall beteiligt waren, auf null schalteten. Quercher musste die Kollegen motivieren. Aber er war ein Einzelgänger, keiner für die große Gruppe. Ihr kamen immer mehr Zweifel.
»Wissen Sie, Quercher, Ihre Kläranlagenleiche ist ja ein schön verzwickter Fall. Und wie ich hörte, quälte der Soldat auch Tiere. Da draußen aber sind Kinder, vier an der Zahl. Vielleicht sind sie schon tot, vielleicht auch nicht. Fakt ist, es gibt bislang noch keinen Hinweis auf eine Entführung, einen Brief oder Ähnliches. Das heißt: Wir müssen von einem schrecklichen Verbrechen mit krankem Hintergrund ausgehen.«
Er nickte.
»Und jetzt glaube ich, dass genau da der Hund begraben liegt. Ihnen ist das zu igitt. Der große Quercher, Aufklärer so vieler Politkriminalfälle, will sich nicht die Finger im Psychopathensumpf schmutzig machen. Gibt ja keine große Show. Keinen Lorbeerkranz in der Heimat. Weil sowieso alle erwarten, dass Sie den Fall lösen. Sie sind in Ihrem Tal seit dem letzten Fall ja der Säulenheilige. Und den Ruf will man sich als Schustersohn natürlich nicht verscherzen. Bloß kein Fleck am weißen Heldenhemd.«
Sie wollte ihn provozieren, das wusste er. Aber er reagierte nicht, auch wenn es ihn wütend machte. Er hatte gelernt, Unterstellungen in einer Schublade seines Gedächtnisses zu platzieren und diese Akten wieder herauszuholen, wenn es sich lohnte zurückzuschießen. Noch blieb er ruhig.
Gerass sah seine regungslosen Gesichtszüge und griff zum letzten Trumpf. Sie hatte für diesen Fall schon eine Lösung parat. Das war ihr Geheimrezept bei der Führung: immer einen zweiten Plan in der Hinterhand zu haben, nie improvisieren zu müssen, immer strukturiert und vorausschauend zu agieren und zu planen.
»Ich habe mir das gleich gedacht, dass Sie nicht die Eier dazu haben, den Fall zu übernehmen. Ich zwinge niemanden dazu, obwohl ich es könnte. Ich könnte einfach einen anderen nehmen, sicher nicht so intuitiv intelligent, aber berechenbar. Und jetzt raten Sie mal, wen?«
Quercher schwieg, zuckte aber mit den Schultern.
»Ihren alten Freund Picker. Der kommt extra aus Berlin – eigens vom Bundesinnenminister abgestellt.«
Ihr Ton, das spürte Gerass selbst, war definitiv zu harsch. Speziell jemand wie Quercher mochte so etwas nicht. Aber Stil und Form befanden sich momentan nicht ganz oben auf ihrer Liste. Sie stand unter Druck. Wenn jetzt etwas falsch liefe, wäre der nächste Kopf, der rollen würde, ihrer. Sie selbst wäre nie auf Quercher gekommen. Seine ständige Quertreiberei war ihr zuwider. Aber Quercher war ein Schützling ihres Vorgängers Pollinger. Mit der Beauftragung Querchers hoffte sie, Pollingers Intrigen, die er ihrer Meinung nach noch vom Sterbebett aus spann, zu durchkreuzen. In einer Stunde wollte sie den Medien einen neuen Chefermittler präsentieren. Die Zeit drängte.
Quercher war zu lange in seinem Beruf tätig, als dass er nicht gewusst hätte, wann man eine Schlacht verloren hatte. Diese aber hatte noch nicht einmal angefangen. Denn zum einen würde er Julia niemals so unkollegial in den Rücken fallen, wie Gerass es von ihm verlangte. Zum anderen wollte er nicht noch einmal im Tal ermitteln – das war ihm einfach zu nah. Zu allem Überfluss sollte jetzt auch noch Picker zurück nach München kommen. Picker war mittlerweile Politiker. Zwar nicht offiziell, aber er agierte so. Er würde den Fall nur für sich ausschlachten. Und die erste Amtshandlung wäre ein übles Nachtreten gegen Julia.
Was sollte er tun? Er brauchte eine personelle Alternative. Nur wen?
Vielleicht Gaugenrieder? Quercher würde ihm zuarbeiten. Das glaubte er zu beherrschen. Hauptsache, er selbst musste nicht in der ersten Reihe stehen.
»Frau Dr. Gerass, ich glaube nicht, dass wir zwei Verständnisprobleme haben. Ich weiß meine Berufung durch Sie zu schätzen. Aber das wird nicht helfen. Ich bin in dem Thema nicht drin. Als neuer, starker Mann bin ich der denkbar Falsche. Darf ich dennoch eine Idee unterbreiten? Wenn Sie …«
Gerass fiel eine Akte vom Tisch. Quercher beugte sich nach vorn, um sie aufzufangen, aber der Akteninhalt verbreitete sich auf dem Boden. Quercher wollte sich hinknien, als der Schmerz in seine Hüfte schoss. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor den Augen. Er schnappte nach Luft und konnte nicht einmal schreien, nur die Luft scharf einziehen.
Gerass sah von oben auf ihn herab. »Alles in Ordnung?«
Er konnte nur den Kopf schütteln.
Sie weidete sich für einen kurzen Augenblick an Querchers Gesichtsausdruck und verspürte ein warmes Gefühl der Überlegenheit. »Hören Sie, Quercher. Wenn das einer Ihrer dämlichen Versuche ist, sich vor der Arbeit zu drücken, sollten Sie wissen, dass ich Sie höchstpersönlich gesundspritzen werde.«
Er schnappte nach Luft. Verächtlich drehte sie sich zu ihrem Schreibtisch und wählte eine Nummer in Berlin.
Er humpelte wie ein getretener Hund aus dem Büro der neuen Chefin und meldete sich krank. In seinem Büro suchte Quercher nach einer Schmerztablette und schluckte sie gierig ohne Wasser hinunter. Er musste husten. Bekam kaum Luft. Als sein Kopf zu zersprengen drohte, sah er mit tränenden Augen, dass er Besuch bekommen hatte.
Gaugenrieder klopfte ihm auf den Rücken. »Es tut mir leid für Julia, wirklich.«
Quercher behielt seine Antwort für sich. Er hatte sich auf politisches Parkett begeben und war aufs Maul gefallen. Bürointrigen überforderten ihn. Er wollte und konnte das Spiel nicht spielen. Und bei Gaugenrieder war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob hinter dem jovialen Dicken nicht eine eiskalte Machtsau steckte. Er hatte seelenruhig zugesehen, wie Julia vor die Wand gelaufen war. Keine Warnung, kein gemeinsames Verantwortungübernehmen.
»Wo steckt sie?«
Gaugenrieder zuckte mit den Schultern. Er vermied, Quercher anzusehen. »Sie ist rausgerannt, Gerass hatte ihr gesagt, dass sie sich ausruhen solle.«
»Und wohin?«
Wieder zuckten Gaugenrieders Schultern. Er schwitzte.
Quercher ahnte, was passiert war, und so humpelte er mit beträchtlichen Schmerzen in der Hüfte zu seinem Auto und fuhr zu Julias Apartment. Arzu hatte einen Ersatzschlüssel für Julias Wohnung gehabt, den sie ihm bei seinem Zwischenstopp in Bad Wiessee zugesteckt hatte.
Es konnte nur noch besser werden. Ein Hüftkrüppel und eine Ermittlungsversagerin – beide klitschnass. Julia konnte nicht allein in ihrer Wohnung bleiben. In seiner Not griff er zum Handy, das die Duscheinlage überstanden hatte. Er rief Arzu an, denn die war schließlich mit Julia befreundet und kannte vielleicht jemanden, der sie eine Weile in seine Obhut nehmen konnte.
»Arzu, servus. Ich bin bei Julia.«
»Was ist passiert?«
»Also, ich bin ein wenig nass und meine Hüfte …«
»Was ist mit Julia?«
»Etwas mehr Mitleid mit dem Vermieter, Miss Istanbul.«
»Also?«
»Die Kollegin wollte sich ganz offensichtlich ins Jenseits schießen. Aber ich habe sie zum Kotzen gebracht …«
»Nicht das erste Mal.«
»… und ihr das Leben gerettet.«
»Und?«
»Helden wurden auch schon mal besser gefeiert.«
»Du hast sie abgeschossen. Du bist der Grund, dass es ihr schlecht geht. Also bitte.«
Sie hatte aufgelegt. Tolle Hilfe. Und dafür ließ er sie bei sich wohnen, diese undankbare Bosporusbratze. Querchers Nerven lagen blank. Mit seiner Hüfte würde er Julia nur unter größten Schmerzen hinunter zum Auto schaffen können.
Nach qualvollen Minuten des Tragens, Absetzens, wieder Tragens saß er schließlich verschwitzt und erschöpft in seinem Benz. Lumpi schnüffelte an der schlafenden Julia und rollte sich dann an ihrem nassen Körper ein. Es schien, als ob sie die Frau wärmen wollte.
Querchers Handy klingelte. Arzu rief wieder an.
»Ich werde Julia mitbringen«, sagte er ohne jede Form der Begrüßung.
»Fein, dann können wir hier ja eine Außenstelle des LKA aufmachen – Pollinger ist auch da.«
Den hatte Quercher völlig vergessen. Sein krebskranker Chef wollte ja im benachbarten Sanatorium Jägerwinkel zur Reha einkehren. Und er hatte vergessen, ihn am Bahnhof in Gmund abzuholen. Klar, dass Pollinger ihm gleich einen Besuch abstatten wollte. Und garantiert nicht nur einen. Der Alte würde wieder alles in die Hand nehmen wollen.
Quercher, der Ruhe und Einsamkeit schätzte, Quercher, der soziale Kontakte eher mühsam fand, ausgerechnet dieser Quercher durfte mit einer Kollegin, ihrem dauerschreienden Kind, seiner Exfreundin und seinem alten Chef das Haus teilen.
Er hätte Gerass’ Angebot annehmen und sich ein Zimmer in der Stadt nehmen sollen.