Kapitel 30
Bad Wiessee, 21. 05., 20:35 Uhr
Die Sonne ging hinter ihnen unter. Die Ostseite des Sees wurde angeleuchtet wie ein Star auf einer Bühne. Auch der Wallberg glühte in gelbroten Farben. Schnee lag schon lange nicht mehr auf seinem Gipfel. Seit Anfang Mai hatte es nicht mehr geregnet, sommerliche Temperaturen waren ins Tal eingekehrt. Die Behörden warnten vor Waldbränden.
Quercher saß in Ludwigs Hollywoodschaukel und kraulte Lumpis Kopf, der in seinem Schoß lag. Hier oben am Hang war Ruhe. Weiter unten, da wo sein Elternhaus im Abendnebel lag, war nur Krach.
Julia hatte mehrere Wochen gebraucht, um sich von ihrer Suspendierung zu erholen. Arzu wie auch Querchers Schwester Anke gaben sich redlich Mühe, sie aufzumuntern. Selbst Quercher versuchte mit zum Teil obskuren Ideen, seine Exfreundin auf andere Gedanken zu bringen. Er war mit ihr in die, wie er sie nannte, ›Todeszone Rottacher Seestraße‹ gefahren und hatte Julia in den dortigen Läden zum Shoppen animiert. Als auch das nicht geholfen hatte, hatte er ein Ass ziehen wollen.
Querchers heimliche Lust waren Düfte. Nie hätte er einem Kollegen davon erzählt. Aber gute Gerüche waren ihm wichtig. Es war in seinen Augen eine herrliche Sinnlosigkeit. Eine Schulfreundin von ihm, Hildegard Bayerschmidt, führte eine kleine, aber feine Parfümerie am See. Minutenlang hielt er Julia Düfte und Flakons vor die Nase, sprühte Parfum auf ihre Handoberfläche oder schwärmte von orientalischen Seifen. Am Ende hatten sie vor der Tür der Parfümerie gestanden und Julias einzige Bemerkung war: »Hattest du was mit der?«
Er verdrehte die Augen. »Ja, die heilige Erstkommunion.«
Die letzte Station war ein Filzladen mit dem sinnfreien Namen Heimatschön in Bad Wiessee. Originelle Taschen, Schuhe und Smartphoneschützer gab es dort zu kaufen. Man konnte sich mehr oder weniger witzige Worte daraufsticken lassen. Julia kaufte ein Necessaire.
»Wofür brauchst du das?«
»Tampons!«
»Zu viel Information«, brummte er.
»Und was soll daraufgestickt werden?«, fragte die attraktive Inhaberin.
»Blutsauger!«, antwortete Julia.
Quercher verdrehte die Augen.
Kaum waren sie wieder daheim, verfiel Julia erneut in brütendes Schweigen.
Also musste Pollinger ran. Ganz alter Weiser mit dem Tod vor Augen und somit ultimativer Wahrheitskenner, wie er selbst sagte, hatte er Julia abends ins Gewissen geredet. »Julia, es mag für Sie abgedroschen klingen. Aber wir Menschen profitieren mehr von Krisen und Niederlagen als von den guten Zeiten. Im ständigen Siegen liegt keine Lehre. Man wird ja scheinbar nur bestätigt. Die Niederlage hingegen lädt zum Nachdenken ein, weist einen auf neue Wege hin. Lediglich der Stolz bekommt ein paar Schrammen. Das hält aber jeder aus.«
»Ich habe Fehler gemacht, Dr. Pollinger.«
Der nickte. »Passiert uns ständig. Sie werden diese Fehler nicht noch einmal machen. Es ist bei Fehlern von klugen Menschen, und dazu gehören Sie fraglos, wie bei den Masern: einmal gehabt, nie mehr bekommen. Wichtig ist, dass Sie neue Wege sehen. Und hier ist dafür ein guter Platz. Und noch eins: Hören Sie nie auf Quercher, das wäre fatal.«
Alle hatten gelacht. Quercher hatte hinter Pollingers Rücken Grimassen gezogen.
Einen Tag später hatte Julia mit Arzu Querchers Haus inspiziert, und am Abend hatten sie ihm zu seinem Entsetzen ihre Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Ihm war klar, dass an diesem düsteren Haus etwas verändert werden musste. Aber zum einen fehlten ihm die Ideen, zum anderen war er mit seiner maladen Hüfte nicht in der Lage, körperliche Arbeit zu verrichten. Die beiden Frauen hatten Stunden auf ihn eingeredet, bis er schließlich gottergeben zugestimmt hatte.
Ein Fehler!
Schon am darauffolgenden Tag warfen die beiden mit der nur Frauen eigenen Besessenheit alles Unnütze aus dem Haus in einen Container, den sie, ohne Quercher gefragt zu haben, bestellt hatten. Sie waren zum Sommerhaus, einem Einrichtungshaus nördlich des Sees, gefahren und hatten munter eingekauft – auf Querchers Kosten. Sie schoben, trugen und stellten alles voll, wie er fand. Am Mittag hatte Julia bis auf ein Tanktop, eine viel zu kurze Hose und ein Kopftuch nichts an. Und genau das ließ Quercher nervös werden. Sex mit der Ex verstieß gegen seine Prinzipien. Niemals aufgewärmt. Aber so, wie sie hier herumlief, war es schwer, nicht zumindest mal hinzuschauen. Er war sich sicher, dass sie das extra machte. Als er sich leise bei Arzu darüber beschwerte, wertete sie seinen Einwand als narzisstische Kränkung eines älteren Mannes mit Hüftschaden.
Am nächsten Morgen war er dann zu seinem Freund, dem Orthopäden Manfred Appel, gegangen und hatte sich weitere vier Wochen krankschreiben lassen. Die Hüfte wurde zu einem ernsthaften Problem, fand der.
Julia hatte ihm einen kurzen Neoprenanzug, einen Shorty, geschenkt. Und so fuhr er am Abend zum See, der wegen der unerwartet hohen Temperaturen dieses Jahr schon außergewöhnlich warm war. Quercher schwamm tausend Meter. Lumpi, die Wasser scheute, blieb im Auto liegen und schlief. Danach fuhr er hinauf zum Jägerwinkel, wo sein Chef und Freund Pollinger schon am Empfang wartete, um mit ihm zu Querchers Freund Ludwig Steinleitner zu fahren. Steinleitner hatte für Pollinger Weißbier bereitgestellt. Das war aus magentechnischer Sicht natürlich ein Debakel.
Also verzichtete Pollinger. »Ich habe zwei Flaschen Heilwasser aus Kreuth dabei.«
Quercher verdrehte hinter ihm die Augen.
»Ich bin krebsfrei, mein Lieber, das haben mir die Ärzte bestätigt. Der Magen ist jetzt halt kleiner, na und? Aber nichts spricht gegen den Genuss von drei Flaschen dieses guten Wassers.«
Quercher widersprach nicht, bröselte sich etwas von Steinleitners Kraut in das Zigarettenblättchen, krümelte noch etwas Tabak hinzu und zündete sich das Dope an. Pollinger verzog keine Miene. Wie jeder halbwegs aufgeklärte Mensch wusste er um die segensreiche Wirkung von Steinleitners Pflanzen.
Quercher zog den Rauch tief ein, wartete und blies ihn dann vorsichtig aus. Lumpi schnupperte der Wolke hinterher und steckte ihren Kopf unter Querchers Arm. Minuten später spürte er, wie der Schmerz aus der Hüfte sich verflüchtigte und es ihm deutlich besser ging.
»Dope ist der Sex der über Vierzigjährigen«, kalauerte Steinleitner, dem Quercher die Zigarette in den Mund steckte. »Wie läuft es unten bei euch?«, fragte er, bevor er den Rauch einzog, in seinen Lungen behielt und langsam ausblies.
»Themen, die heute Abend nicht angeschnitten werden sollten: Erstens, zwei Furien bauen um; zweitens, Max, was macht dein Liebesleben?«, stoppte Quercher ihn sofort.
»Was der feine Herr nicht sagt, ist, dass er seit Tagen mit geschwollenen Eiern an der Kollegin Dahmer vorbeihumpelt. Wenn er so weitermacht, ist auch Lumpi gefährdet«, lachte Pollinger.
»Ferdi, Sex ist für dich so weit weg wie für mich Salina. Warum also über unerreichbare Dinge reden?« Quercher legte den Kopf entspannt an die Polster in seinem Rücken und sah hinauf in den tiefblauen und bald nachtschwarzen Himmel.
»Mich interessieren solche Geschichten angesichts meines überschaubaren Bewegungsradius immer. Also, geht da noch was mit der Julia? Die wirkt doch ganz apart …«, fragte Steinleitner.
»Die Frage ist ja, ob sie noch Interesse an einem hüftkranken, alten Mann hat«, stichelte Pollinger, wissend, dass Quercher genau darunter litt.
»Ehe ihr euch noch weiter in meiner temporär begrenzten Bewegungseinschränkung suhlt, erzähle ich euch was. Noch vor einem Jahr bin ich nach langer, durchtanzter und durchschwitzter Nacht mit irgendeiner Namenlosen in den Brunnen am Stachus gelaufen und habe den Moonwalk getanzt!«
Steinleitner unterbrach Querchers Schwärmerei: »Einziger Wermutstropfen: Die Dame war so jung, dass sie Michael Jacksons Tanz nicht kannte – aber lachte.«
»Unsinn. Und jetzt sitze ich inmitten von Siechenden und Kranken. Das Ganze hat etwas von einem Videoabend im Studentenheim: Unten Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, hier oben Walking dead.«
Die Herren kicherten. Ihr Ton war zweifellos hart und rau, aber sie genossen diese Frotzeleien.
»Was macht dein Freund Sareiter eigentlich jetzt? Gründet er eine eigene Partei?«, fragte Steinleitner.
Quercher zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Und von ›Freund‹ kann da auch keine Rede mehr sein. Er lädt mich immer zu solchen Veranstaltungen mit Wutbürgern ein. Ich bin da nicht gern. Mir machen Menschen mit einfachen Lösungen immer Angst.« Das Dope ließ ihn schläfrig werden. Quercher nickte ein.
Steinleitner drehte seinen Kopf mühevoll in Richtung Pollinger, der die rostige Flüssigkeit in seinem Glas betrachtete. »Ich habe mich, wie du mich gebeten hast, um Sareiter gekümmert. Er hatte Ende der Neunzigerjahre hier in der Nähe tatsächlich eine Einrichtung für jugendliche Intensivstraftäter gegründet. Das Geld kam von seiner Frau. Da war er noch der ultraliberale Strafverteidiger. Das Ganze ging ein paar Jahre gut, dann gab es immer mehr Druck aus dem Justizministerium. Man wollte die harte Linie, brauchte keine sozialpädagogischen Bergwanderungen, sondern wollte junge Mörder in Handschellen und im Knast. Bevor die Einrichtung geschlossen wurde, kam der Unfall. Seine Frau wurde totgefahren. Er zog sich zurück, ging nach Indien und vor einem Jahr war er plötzlich wieder da.«
Pollinger schwieg. Er hatte erfahren, dass Steinleitner sehr an Sareiter interessiert war. Das hatte er sich zunutze gemacht und ihn darum gebeten, etwas über Sareiter herauszufinden. Quercher hatte er davon nichts erzählt. Pollinger war altes CSU-Gestein. In seiner politischen DNA war die Abwehr jeder Partei, die rechts der CSU hervorkroch, tief verankert. Und Sareiter konnte gefährlich werden. Pollinger war jede Verschärfung des jetzigen Strafrechts zuwider. Wie Quercher glaubte auch er nicht an einfache Lösungen. Die Stimmung in der Republik sah aber Differenzierungen nicht vor.
Seit mehr als drei Wochen waren die Kinder verschwunden. Keiner ging mehr von einer Entführung aus. Das sagten die offiziellen Stellen zwar nicht. Aber es deutete einiges auf einen sexualstrafrechtlichen Hintergrund. Die verschwundenen Kinder waren quasi die Abschussrampe für Sareiters Partei geworden, die sich jetzt Bürgerfreiheit nannte. Landesverbände sollten sich gründen. Abtrünnige Abgeordnete aus anderen Parteien schlossen sich ihm an. Das Monster wuchs.
»Was hat er eigentlich in Indien gemacht?«, wollte Pollinger wissen.
»Tantrasex?« Quercher richtete sich auf. »Ferdi, ich bin breit, aber nicht bewusstlos. Findest du das nicht eklig, einen vom Hals ab gelähmten Mann für deine schmierigen CSU-Machenschaften zu instrumentalisieren?«
»Jeder braucht eine Aufgabe«, antwortete Pollinger lakonisch und blinzelte Steinleitner zu.
»Ich komme da auch nicht weiter«, schränkte der ein. »Seine Frau war hier so was wie die gute Seele der Region. Die haben in einem Bauernhaus irgendwo zwischen Autobahn und Tal gewohnt, ich glaube, Weyarn oder Warngau. Dann kam der Unfall.«
Quercher wurde ungeduldig. »Worauf willst du hinaus, Ferdi? Was suchst du? Irgendeine Schmutznummer, mit der man den politisch unliebsamen Feind aus dem Weg räumen kann? Dass du auf deine letzten Tage so sehr Parteisoldat wirst, hätte ich nicht wirklich geglaubt.«
»Spiel nicht den Moralapostel. Dir stinkt seine erzreaktionäre Nummer doch auch. Und das Ganze gemischt mit dieser Drecksyogaruhe, diesem Gutmenschenton. Ich will wissen, wer ihn finanziert. Früher hat das wenigstens der Staatsschutz gemacht, aber mit so was geben die sich nicht mehr ab.«
Quercher atmete tief durch. »Warum macht das nicht der brave Picker?«
»Der kümmert sich immer noch um die entführten Kinder. Er soll aber eine sehr heiße Spur haben, wie du sicherlich weißt.«
»Wer ist Picker?«, fragte Steinleitner.
»Ein Arschloch.«
»Ein Kollege, der den Ostin-Fall leitet«, verbesserte Pollinger.
»Ja, aber eben auch ein Arschloch«, ergänzte Quercher und zog den Rauch wieder tief in seine Lungen.
»Kollege Picker hat dem Herrn in der Hollywoodschaukel unter anderem die Frau ausgespannt, was ihn somit zu einem Intimfeind werden lässt, oder was ist der Fachbegriff dafür?«, stichelte Pollinger.
»Lochschwager, Ferdi, Lochschwager. Und wäre Marille hier, würdest du das niemals so offen aussprechen. Du bellst auch nur, wenn der große Hund hinterm Zaun steht.«
»Marille war deine erste Frau?«, fragte Steinleitner, der den Interna genüsslich folgte. Wann hatte man schon die Chance auf so ein Bullentheater?
»Ja, ich war verheiratet. Meine erste Frau – das klingt ja, als ob noch weitere dazugekommen wären.«
»Womit wir wieder bei Julia angelangt sind.«
»Könnten wir über etwas anderes als meine Libido reden?«
»Max, deine Libido wird hier nicht besprochen. Das wäre ein zu kurzes Kapitel. Es geht um Paarbildung im Alter.« Pollinger versuchte, das Gespräch wieder auf eine sachliche Ebene zu bringen. »Also, was macht der Ostin-Fall? Das wolltest du doch eigentlich wissen, Ludwig, oder?«
Quercher hustete. »Vor allem du, lieber Ferdi, wolltest das eigentlich wissen. Also, Pickers Truppe hat sich auf drei Spuren eingeschossen. Zum einen ist da Mark, der Exmann einer Frau, deren Sohn unter den verschwundenen Kindern ist. Der Typ ist bislang immer noch nicht aufgetaucht. Man hat am Tatort in Ostin in den Resten eines Tempotaschentuchs DNA-Spuren von Mark gefunden. Das ist insofern interessant, als Mark seinen Sohn angeblich wochenlang nicht gesehen hat und somit das Taschentuch schwerlich von seinem Sohn dort liegen gelassen wurde. Das ist nicht viel, aber immerhin etwas. Mark selbst ist allerdings nicht die hellste von drei Glocken, will sagen: Er braucht eher Hilfe beim Klogang. Allein wird er so eine Tat nicht durchziehen können. Obwohl: Man kann auch mit wenig Kapazitäten zum LKA-Chef befördert werden – wenn das Parteibuch stimmt.«
Quercher sah zu Pollinger, der die zweite Flasche mit dem ominösen Heilwasser öffnete und nur milde lächelte. »Das Kälbchen weiß nicht immer, was sich hinter dem Mond zuträgt.«
»Aha, und Quercher ist jetzt das Kälbchen?«, fragte Steinleitner grinsend.
»Eher der Ochs, gern auch der Eber«, korrigierte sich Pollinger. »Die zweite Spur, Max?«
»Nun, Spur Nummer zwei kommt aus Spanien. Dort wurde ein Kinderpornoring von Interpol ausgehoben. Einer der Festgenommenen hat in einer Vernehmung von Filmaufnahmen mit zwei Jungen und einem Mädchen aus Deutschland gesprochen. Eigentlich seien es vier gewesen, eines sei aber beim Transport nach Andalusien verstorben. Das könnte passen.«
Steinleitner riss die Augen auf. »Das ist ja grauenhaft! Um Gottes willen!«
»Ja, aber das ist Routine. Zwei aus der Picker-Truppe fliegen mit Bildmaterial der Kinder nach Madrid und treffen den Zeugen.«
»Was glaubst du?«
Quercher wiegte den Kopf. »Eher unwahrscheinlich. Wenn die Kinder verkauft und noch benutzt – ich bitte diesen Ausdruck zu entschuldigen – werden sollen, geht man erstens vorsichtiger mit ihnen um und legt zweitens nicht so seltsame Fährten wie am Sylvensteinspeicher. Man hat wenig Zeit, verlässt so schnell wie möglich das Land. Aber es könnte eine kluge Ablenkung sein. So bleiben die Ermittlungen erst einmal in der Region. Wer weiß?«
»Und die dritte Spur?«, fragte Steinleitner, jetzt deutlich leiser, beinahe ängstlich, eine noch schlimmere Version zu hören.
»Die hat ein Forensiker vom Bundeskriminalamt aufgebracht. Die Voyeurvariante.«
»Was ist das?«
Pollinger hob die Augenbrauen. »Ein Forensiker? Soso.«
»Voyeurvariante heißt: Der oder die Täter haben die Kinder noch in der Nähe des Tatorts beziehungsweise in der Nähe der Eltern deponiert. Tot oder lebendig. Sie beobachten, wie die Polizei ermittelt, weiden sich daran, mehr als andere zu wissen, quasi den Ermittlern und Eltern die Lösung vor der Nase zu präsentieren, wie eine Katze mit der Maus spielt. Sie ergötzen sich daran, dass vielleicht eine Mutter oder ein Vater jeden Tag an ihrem oder seinem Kind vorbeifährt – oder läuft oder gar neben oder über ihm lebt. So ein Fall ist aus Holland bekannt. Da hat ein Mann ein Mädchen entführt, es in einer leer stehenden Wohnung über den Eltern deponiert. Die Wohnung sollte vom Vater der Tochter renoviert werden. Dieser aber hatte einen anderen Auftrag vorgezogen und so unfreiwillig dafür gesorgt, dass seine Tochter verdurstete.«
Steinleitner schwieg.
»Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich diesen Fall nicht übernehmen wollte? Es ist das eine, sich mit irren Islamisten, mit Immobilienbetrügern, Bankern oder anderen Staatsfeinden anzulegen. Aber sich in die Gedankenwelt von Typen, die Kinder verschleppen, hineinzuversetzen, ist mir zu viel. Sie sind krank, ohne Zweifel. Aber wenn du sie dann festnimmst, wenn sie so wimmernd oder vielleicht auch großschnäuzig vor dir sitzen, sich mit dir verbrüdern wollen, dann wünschst du dir nur noch, ihnen aufs Maul zu hauen. Aber um welchen Preis? Und was würde es bringen? Ich jedenfalls will nicht in diesen Abgrund schauen. Ich bin Polizist geworden, um das Recht zu verteidigen gegen Gier und Hass. Aber gegen Kranke?«
Pollinger sah Quercher, der jetzt die Augen schloss, lange still an. Er kannte ihn seit zwei Jahrzehnten. Aber selten hatte er ihn so klar und gleichzeitig ruhig sein Credo erklären hören wie heute Abend. Pollinger zog daraus jedoch einen anderen Schluss als Quercher: Quercher war in seinen Augen geradezu prädestiniert, sich auf die Fährte der Täter von Ostin zu setzen. Ekel konnte verschiedene Wirkungen haben. Bei einem wie Quercher sorgte er für kühle Distanz. Davon war Pollinger überzeugt.
Sie wollte das Bett. Unzweifelhaft. Das machte ihn an, ließ seinen Schwanz anschwellen.
Er blieb im Türrahmen stehen und verlagerte das Gewicht auf sein anderes Bein, sodass die Dielen knarzten und ihr seine Anwesenheit verrieten.
»Komm her«, sagte sie mit rauer Stimme.
Er lächelte und bewegte sich keinen Zentimeter, genoss das Bild, das sich ihm bot: Sie lag auf dem Rücken. Die Beine hatte sie angewinkelt und breit gespreizt auf die Matratze gestellt. Ihre modulierten, fast sehnigen Beine waren straff mit schwarzem Nylon bespannt, das auf der Mitte ihrer Oberschenkel endete.
Er wanderte mit dem Blick ihren Körper entlang. Über ihre nackte Scham, den erregt angespannten Bauch, die aufgerichteten Brüste, den Hals hinauf bis zum nächsten Fetzen Stoff – ein schwarz-weißes Seidentuch, mit dem sie sich die Augen verbunden hatte. Ihre Arme waren locker nach hinten gelegt und an den Gelenken mit Handschellen an den beiden Bettpfosten befestigt.
Kreuzigungsgestik. Opfergabe.
Als sie die Hände bewegte, schlug das Metall gegen das Holz. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. Metallschellen. Kein gepolsterter Anfängerquatsch.
Er ging in einem Bogen zum Fußende des Betts. Dabei vermied er jedes Geräusch. Er kannte jede Diele.
Nun hatte er freien Blick. Die Lippen und Vertiefungen glänzten feucht. Noch bevor sie ihre erneute Aufforderung, er solle endlich seinen Arsch zu ihr bewegen, zu Ende sprechen konnte, kniete er auf der Bettkante, presste ihre Knie ruckartig seitlich auseinander und umschloss ihre Klitoris fest mit seinen Lippen. Ihr entfuhr ein spitzer Laut, vor Überraschung, vor Schmerz oder Lust. Reflexartig schnellten ihre Knie zurück, klatschten an seine Ohren, sodass er ihr »Gib’s mir hart!« wie durch Watte hörte. Sollte sie bekommen.
Er öffnete seine Gürtelschnalle und die Hose, zog den Stoff mit einem Ruck herunter, streifte die Schuhe ab und kickte sie unters Bett. Sein Schwanz zeigte bereits in voller Größe auf das Ziel.
In einer fließenden Bewegung umgriff er ihre Hüften und drehte sie schwungvoll auf den Bauch. Die Handschellen schlugen hart gegen das Holz und das Metall schnitt in ihre Haut, als sich die Arme durch die Drehbewegung kreuzten und maximal spannten. Er sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, wodurch ein dünnes Rinnsal Blut aus den schmalen Wunden gepresst wurde und über ihre Haut rann.
Dennoch, das Stöhnen klang nach Wollen.
Er hob ihr Becken an und kniete sich hinter sie, hielt inne. Er würde sich niemals sattsehen können an den Tälern und Hügeln ihrer Wirbelsäule, die sich vor ihm wie eine Gebirgskette erstreckten, eine Schlucht zwischen ihren Schulterblättern bildeten und in ihrem dunklen Haaransatz endeten.
Während er mit der linken Hand ihren Bauch umfasste und sie dadurch in Stellung hielt, ließ er seine rechte Hand sachte über ihre Lendenwirbel gleiten und nacheinander in den beiden Kuhlen oberhalb des Kreuzbeins kreisen. Eine ihrer empfindlichsten Stellen, wie er mittlerweile wusste. Sie quittierte seine Berührungen mit einem Stöhnen und streckte sich ihm entgegen. Er führte seinen Zeigefinger an ihrem Steißbein entlang, spreizte mit den übrigen Fingern leicht ihre Pobacken und wanderte mit der Fingerkuppe langsam durch die Pofalte. Unten angekommen überlegte er kurz, den Finger einzutauchen, Feuchte aufzunehmen und oben anzusetzen.
Ein andermal.
Mit beiden Händen fasste er ihre Hüften und stieß sich tief in sie hinein. Die Handschellen gaben Widerstand, ihre Schultergelenke traten hervor, ebenso ihre Rippenbögen. Sie keuchte, aber entzog sich ihm nicht und presste ihre Wange auf die Matratze. Während er sich ein Stück aus ihr herauszog, griff er mit der rechten Hand vorn über ihren Bauch hinweg und ertastete den angeschwollenen Punkt. Er stieß erneut in sie hinein, beschleunigte sein Tempo und ließ seinen Finger kreisen. Wieder und wieder.
»Beeil dich«, stieß sie zwischen feuchten Haarsträhnen hervor.
Er spürte bereits, wie sie sich anspannte und ihn fest umschloss, in sich hineinzog. Als ihr Orgasmus sich Bahn brach, er ihre Kontraktionen spürte und sich ihre Kontrolle auflöste, sie sich ihm hingab, ließ auch er in einem letzten tiefen Stoß los und ergoss sich in ihr, bevor sie unter seinen Händen in sich zusammensank.
Erst dann ging sie, noch tropfend, hinüber zu der Luke im Boden. Die Kinder mussten wach sein, doch sie hörte nichts. Sie öffnete das Verlies, schloss die Augen, um sich an die Dunkelheit da unten zu gewöhnen. Dann erst ging sie die Holzstufen hinunter.
Vier Betten. Zwei Körper. Zwei fehlten.
Sie wollte schreien. Hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Die Kinder durften nicht wach werden. Sie betastete die Wände, das abgeklebte Fenster. Natürlich! Die tägliche Dosis hatte bei den beiden nicht sofort gewirkt. Sie mussten halbwegs wach durch den Keller geirrt sein, hatten mit ihren verdammten kleinen Fingern tatsächlich das Schloss öffnen und sich durch den Schacht nach oben winden können.
Sie verriegelte das Fenster wieder, schob einen Schrank, der links danebenstand, davor und eilte nach oben. Kaum hatte sie die Luke wieder verriegelt, rief sie ihm zu, dass er sich anziehen sollte.
»Zwei und vier sind entkommen. Los, wir müssen sie finden!«
Er fragte nicht, wie das passieren konnte. Es war schließlich egal. Jetzt mussten die Kinder gefunden werden, ehe sie auf andere Menschen stießen.
Sie griff in ihre Metallkiste und suchte nach der Leuchtspurmunition und dem Revolver.
Er sah sie fragend an.
»Was?«
»Willst du sie wirklich …?«
»Wir müssen sie aufhalten. Wir sind sowieso schon zu weit gegangen. Also?« Sie machte eine Handbewegung in Richtung Tür.
Während er vor ihr aus der Tür trat, lud sie die Waffe mit sicherer Hand.
Sie würde sie finden.
Den Bächen folgen. Such einen Bach, dachte das Mädchen. Ihr Atem ging schnell. Aber sie wollte kein Geräusch machen. Sie fiel, ein hervorstehender Ast bohrte sich in ihren Oberschenkel. Sie wollte schreien, schob sich die Hand in den Mund. Tränen schossen ihr in die Augen. Es brannte. Sie fror. Nicht stehen bleiben. Weiter. Es war ein Instinkt, gar nicht so sehr ein klarer Gedanke. Sie wusste einfach, dass sie in dem Kellerloch sterben würde. Obwohl sie gar keine Vorstellung vom Sterben hatte. Aber sie würde nie mehr den Opa oder die Oma sehen. Die Ronja, Opas Hund. Der Mann und die Frau, die da hinter ihr herliefen, waren böse. Taten ihr weh. Die hatten ihr den Arm verletzt mit diesen Spritzen.
Weiterlaufen.
Es wurde steiler. Sie versuchte, ihre Beine unter Kontrolle zu halten. Immer schneller wurde sie. Sah nicht den Brombeerstrauch, ihr Fuß hakte ein, sie überschlug sich dreimal, ehe sie benommen liegen blieb.
Das Licht einer Taschenlampe war zu sehen. Sie kamen.
Ihre Verzweiflung wurde übermächtig. Sie sah sich nach allen Seiten um und hätte am liebsten ihre Hände vor das Gesicht geworfen, gewartet. Das Mädchen war müde. Wohin? Sie krabbelte in ihrer Erschöpfung auf allen vieren. Plötzlich sackte ihre linke Hand in eine Mulde, ein Schmerz zog von den Fingern nach oben.
Aber sie verstand. Das war ein Bau.
Maria von Homstein war ein kräftiges Kind, das den Wald kannte. Ihr Großvater hatte sie früh mit zur Jagd genommen. Das Töten der Tiere hatte sie bald nicht mehr schlimm gefunden. Der Alte hatte ihr den Sinn erklärt, in seiner ruhigen und klugen Art. Und so war sie manchmal noch vor der Schule mit hinauf in das Revier gegangen. Sie hatte zu ihrem Opa ein besseres Verhältnis als zu ihren Eltern. Die waren beide berufstätig und hatten nicht viel Zeit für sie. Aber bei ihrem Opa hatte sie alles über den Wald, über die Tiere und ihre Behausungen gelernt. Deshalb wusste sie, dass das vor ihr ein Fuchs- oder Dachsbau war.
Sie schob das modrige, nasse Laub beiseite. Tatsächlich – da war der Eingang. Mit dem Kopf oder den Füßen zuerst? Es war egal. Sie zog sich an Baumwurzeln, die links und rechts des Eingangs herabhingen, hinein. Es roch modriger, eklig. Sie musste die Nase rümpfen, schob sich aber weiter in den Bau.
Die Stimmen kamen näher.
Sie hielt die Luft an.
Jetzt standen sie direkt über ihr. Sie konnte deutlich verstehen, was sie sagten.
Alles an ihr war angespannt.
Sie waren stehen geblieben.
Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, um ein- und ausatmen zu können. Dabei geriet Sand in ihren Mund. Sie atmete durch durch die Nase. Wieder Sand. Es juckte im Gesicht. Aber sie konnte sich nicht kratzen, weil ihre Hände eingeklemmt waren. Ihr Kopf schmerzte. Alles schmerzte. Sie wollte weinen.
Dann entfernten sich die Schritte und die Stimmen.
In ihrem Bau wurde es still. Es juckte unerträglich. Sie wollte sich wieder rückwärts zur Öffnung hinausschieben. Es gelang nicht. War sie stecken geblieben? Würde sie jetzt hierbleiben müssen? Mitten im Wald? Sollte sie schreien? Dann würden sie kommen. Ihr Großvater hatte ihr erklärt, dass Fuchsbauten an Hängen auch Wasser aufnehmen konnten. Würde sie hier bei Regen ertrinken? Noch einmal. Mit aller Kraft. Sie presste, aber ihre kleine Hüfte klemmte zwischen zwei Steinen fest.
Sie weinte. Laut. Es war ihr egal. Sie war so allein.
Erst mit Verzögerung spürte sie die Hand an ihrem Fußgelenk. Das Rucken. Jemand drehte sie, schob sie nach vorn und dann ruckartig nach hinten.
»Da bist du ja.«
Kapitel 31
München, 21. 05., 21:24 Uhr
»Es ist das eine, ob man sein Kind tot weiß. Das andere, ob man noch eine Hoffnung besitzt.«
Der Verleger macht eine Pause. Reden halten war ihm sonst eine große Freude. Er konnte es, fühlte sich meist sicher. Aber dann sprach er über verlegerische Dinge, über Zeitungen, Geschäfte oder Politik. Heute ging es aber um ihn, um seinen Sohn Lukas. Der seit drei Wochen nicht mehr bei ihm, sondern irgendwo da draußen in der Nacht war. Er war ihm kein guter Vater, dachte Welde. Er, der so viel Einfluss hatte, konnte seinen Sohn nicht beschützen. Er atmete durch und suchte in seinen Gedanken nach Bildern, die ihm die Tränen, die langsam in seine Augen traten, vertreiben konnten. Wie Lukas in sein Zimmer tapste. Wie er auf seinem Bauch einschlief, während er die Zeitung las. Sein ruhiger Atem. Sein Zucken im Schlaf. Die wirren Geschichten, die er mit anderen seines Alters austauschte. Welde liebte es, den Kindern dabei zuzuhören, wie sie Fantasiegeschichten erzählten. Das beruhigte ihn.
Dann fuhr er fort. Denn es war seine Veranstaltung.
Er hatte einen hochkarätigen Freundeskreis aus Politik und Wirtschaft eingeladen. Sie alle waren sicher aus Sensationslust oder purem Mitleid erschienen. Ausgewählte Fotografen würden die Entscheider, wie sie sich selbst gern nannten, ablichten. Das würde den Ostin-Fall wieder mehr in den Fokus rücken. Er hätte verzweifeln können. Die Aufmerksamkeit schien ihm wie Wasser durch die Finger zu gleiten. Die Entführung verlor von Tag zu Tag an Bedeutung. Keine Sondersendungen mehr, nicht einmal ein Zwischenstand hinsichtlich der Ermittlungen wurde vermeldet. Es war, als ob die Entführung von vier deutschen Kindern vor langer Zeit passiert war. Aber es waren weniger als fünfhundert Stunden vergangen. Für jede Stunde, die sie seinem Sohn genommen hatten, würden sie bezahlen, das schwor er sich. Lukas’ Zimmer roch noch nach ihm. Heute Morgen hatte Welde eine Stunde auf dem Bett seines Kindes gesessen. In die Stille hineingehört. Aber da war kein Geräusch von Lukas, kein Lachen, kein Kreischen, nichts. Das war sein Tiefpunkt gewesen. In diesem Moment hätte er am liebsten alles abgesagt. Aber er war es ihm schuldig. Er war der Vater.
Welde hatte alles versucht. Hatte sich mit dem Innenminister getroffen. Sogar der Ministerpräsident hatte sich eingeschaltet, aber nicht mehr als beruhigende, eher mitleidige Worte gefunden. Am Ende war jeder Einzelne von ihnen zum Tagesgeschäft übergegangen. Und auch der Skandal, den diese Ermittlerin am Anfang, als alles noch so frisch und verheißungsvoll war, verursacht hatte, blieb ohne Folgen. Kein internes Disziplinarverfahren war eingeleitet worden. Die Dame war vorläufig suspendiert worden, mehr nicht. Zudem besaß sie auch noch die Chuzpe, nicht weit von ihm am See bei einem Kollegen unterzukriechen. Ihn, die Stütze der Gesellschaft, hatte man im Stich gelassen. Aber das würde sich rächen. Er würde neue Schritte wagen. Der erste war bereits gemacht.
Welde hatte das Restaurant eines befreundeten Großgastronomen im Englischen Garten gemietet. Eine externe Krisenkommunikationsagentur hatte alle Informationen zusammengetragen. Jede Ermittlungspanne wurde analysiert und in einen Zusammenhang gebracht.
Dieser Sareiter war ein kluger Hund. Nicht dass Welde seiner Partei eine Chance eingeräumt hätte. Aber er konnte Sareiter für seine Zwecke nutzen, ihn groß werden lassen und bei Gelegenheit wieder die Luft aus ihm herauslassen. Und jetzt brauchte er ihn. Welde würde nur die einleitenden Worte sprechen und über seinen Schmerz und seine Trauer berichten. Dann würde Sareiter alle Fakten zu der desaströsen polizeilichen Ermittlung der Polizei vorstellen und in einen größeren Zusammenhang bringen. Er, Welde, würde am Schluss nur noch den Scheck übergeben und seine Mitgliedschaft in dieser Partei bekannt geben. Sollten die Herren in der Regierung doch ein wenig zittern.
Kapitel 32
Bad Wiessee, 22. 05., 18:58 Uhr
Picker rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte zwei Leute mit der ersten Maschine nach Madrid geschickt. Der Zeuge war im Staatsgefängnis V, besser bekannt als Soto del Real, untergebracht worden. Das lag vierzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt und war für seine neuartigen Verwahrformen bekannt. Liberaler und offener sollte es da zugehen, hatte sich Picker, der Chefermittler, von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft sagen lassen. Die spanischen Kollegen waren äußerst kooperativ. Das hatte sicher mit ein paar Telefonaten auf höchster Ebene zu tun, die Picker mit seinem alten Dienstherren, dem Bundesinnenminister, vereinbart hatte. Denn auch die Politik spürte den Druck aus der Bevölkerung, angefacht von den Angehörigen, allen voran dem verdammten Zeitungsboss Welde.
Jetzt wartete Picker auf das Zustandekommen einer Videokonferenz, die ihn mit seinen Kollegen vor Ort in Madrid verbinden sollte. Man hatte in der Turnhalle der Wiesseer Schule auf Anweisung von Picker ein Lagezentrum eingerichtet. Er wollte im Ort präsent sein und auch demonstrieren, dass er die anderen Kinder auf eine indirekte Weise beschützen würde. In den ersten Tagen hatten die Grundschüler noch neugierig am Zaun zur Turnhalle gestanden und die vielen Polizisten bestaunt, die immer wieder hinaus- und hineingingen. Aber nach einer Woche war das Spektakel zur Normalität geschrumpft. Lediglich die Eltern, die am Morgen die Kinder zur Schule brachten, wurden daran erinnert, wie knapp und zufällig es gewesen war, dass ausgerechnet ihr Kind nicht unter den Opfern war. Picker hatte Wert darauf gelegt, dass immer ein psychologisch geschultes Team für alle ansprechbar war, die sich Sorgen machten oder etwas bemerkten, was sie für ungewöhnlich hielten. Mit dem Ergebnis, dass anfangs auch Nebensächlichkeiten zu Auffälligkeiten erklärt und gemeldet wurden. Aber schon am Anfang der dritten Woche wurde den meisten klar, dass die Polizei diese Maßnahme lediglich zur Beruhigung der Bevölkerung eingerichtet hatte.
Die Gefühlslage der Talbewohner war insgesamt sehr gespalten. So kehrte bei einigen, die nicht betroffen waren, ein merkwürdiger Wunsch nach Normalität ein. Picker schien es, als ob man den Eltern der entführten Kinder und der Polizei wortlos die Schuld an der schlechten Stimmung im Tal gab. Andere wiederum solidarisierten sich und machten die scheinbare Inkompetenz der Staatsmacht für die Misere verantwortlich. Das äußerte sich in wütenden Leserbriefen und Foreneinträgen des hiesigen Onlineportals, der Tegernseer Stimme. Dort wurden unzählige wirre, aber auch durchaus ernst zu nehmende Thesen und Hinweise gepostet, durch die die Polizei noch mehr unter Druck geriet. Auch aus diesem Grund hatten Picker und der Landrat für den Abend zu einer Informationsveranstaltung im Gasthof zur Post, nicht weit vom provisorischen Lagezentrum entfernt, geladen. Picker wollte dort einige Gerüchte richtigstellen und über den neuesten Stand der Ermittlungen berichten.
Aber vorher hatte er noch die Videokonferenz zu absolvieren, von der er sich viel versprach. Neben ihm saß ein Forensiker, der das Gespräch mitverfolgen sollte.
Dieser Fall könnte ihn für immer von dem Makel des letzten Jahres befreien, den er erlitt, als er Max Quercher ein Vergehen anhängen wollte, was dieser nie begangen hatte. Seine politischen Freunde hatten sich anschließend schützend vor ihn gestellt und ihn nach Berlin geholt.
Nun konnte er sich wieder beweisen. Wenn er müde zu werden und zu resignieren drohte, machte er sich mit dem Bild eines Erfolgs munter. Wie er die Reporter auf der Pressekonferenz nur beiläufig erinnern würde, dass Max Quercher diesen Fall abgelehnt hatte. Wie er belobigt werden würde. Wie ihn die Eltern der vermissten Kinder feiern würden.
Picker verspürte den tiefen Wunsch, sich einfach auf den Turnhallenboden zu legen und zu schlafen. Sicher war er außergewöhnliche Arbeitszeiten auch in Berlin gewöhnt. Aber dieser Fall war anders. Er hatte mit der Prominenz und dem öffentlichen Druck durch diese neue Partei eine andere Dimension bekommen. Am Mittag hatten ihm die Kollegen von der Internetfahndung das Bildmaterial der Spanier gezeigt und es für ihn eingeordnet. Gewalt war Picker nicht fremd. Und auch Sexualstraftaten kannte er. Aber diese Bilder waren besonders grauenhaft. Er wusste, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte. Auch mit seinem Team nicht. So war er nach der Sichtung des Materials allein hinauf in die Umkleidekabine der Jungen gegangen und hatte sich dort minutenlang auf die Toilette verkrochen. Eine Szene hatte ihn besonders verstört. Jemand hatte Küchengeräte benutzt, um …
»Dr. Picker, wir wären so weit.«
Er sah seine zwei Kollegen in einem grün gestrichenen Raum, fast zweitausend Kilometer entfernt. Einen Nachmittag und einen Abend hatten sie mit dem Zeugen reden dürfen.
»Es ist ein vierundfünfzigjähriger Österreicher. In seinem Pass stand der Name Jörg Kimmritz. Die Kollegen in Wien haben uns noch nichts bestätigt. Aber angesichts seines schmierigen Wiener Dialekts wird Österreich schon stimmen. Er ist klein, untersetzt und hat schütteres Haar. In einer stillgelegten Hotelanlage an der Costa Brava hat er mit Straßenkindern aus Marokko Pornos gedreht – und dabei selbst mitgespielt. Bei seiner Festnahme schien er sich gewehrt zu haben. Er trug mehrere Prellungen, vornehmlich im Intimbereich, davon. Bei unserem ersten Gespräch bat er um Hilfe. Stefan besorgte ihm einen Kühlbeutel, den er auch brav zwischen die Beine legte.«
Picker war zu müde für blöde Späße. Natürlich hatten die spanischen Spezialkräfte bei der Festnahme zugelangt. Jeder, der Kinder hatte, würde das tun. Und so ein Tritt passierte ja auch manchmal zufällig. Aber das war ihm jetzt egal. Er wollte etwas zu Ostin, den Kindern wissen.
»Also, Jungs. Was habt ihr?«
»Die gute Nachricht zuerst. Er hat die Kinder gesehen. Er glaubt auch zu wissen, wo sie sich befinden.«
Pickers Puls raste plötzlich. »Leben sie?«
»Will er nicht sagen. Der will nach Deutschland oder Österreich ausgeliefert werden. Es gibt aber auch ein Auslieferungsbegehren von Marokko. Die dortige Polizei scheint auch schon länger an ihm dran zu sein.«
Picker musste sich beruhigen. War das womöglich der Durchbruch? »Der Hund kann ja viel erzählen. Wo und wann hat er sie gesehen? Hat er Belege? Etwas Stichhaltiges?«
Die beiden Kollegen waren völlig erschöpft. Auch sie hatten die letzten Wochen rund um die Uhr gearbeitet, waren heute Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Madrid geflogen und hatten dann in einem Gefängnis ein Verhör unter Aufsicht der spanischen Polizei durchgeführt. Eigentlich wollten sie nur noch schlafen.
»Er kannte die Namen, er wusste, woher sie kamen. Er hat sie vor drei Tagen in einer Villa bei Nizza gesehen, sagt er. Sie trugen keine der Kleidungsstücke, die wir ihm vorgelegt haben. Die beiden Mädchen seien stark geschminkt gewesen. Die Jungs hätten überall am Körper Striemen.«
Der Forensiker wiegte langsam den Kopf. Das klang zu eindeutig, zu sehr nach Drehbuch, fand er, wollte aber noch abwarten.
Picker bohrte weiter, allmählich wurde er ungeduldig. »Und? Was noch?«
»Er wird erst wieder den Mund aufmachen, sagt er, wenn er von uns und der spanischen Justiz in ein Flugzeug nach Deutschland oder Österreich gesetzt wird. Die spanischen Kollegen wollen ihn in einen Trakt mit inhaftierten ETA-Terroristen verlegen. Die fürchtet er wohl.«
»Kann ich verstehen. Was sagt euer Bauch?«
»Schwer zu sagen. In der Pädophilenszene sind einfach viele Schwätzer, viele, die sich aufblasen, wichtigtun. Der will hier weg. Und so ein Wissen kann für den Typen ein Freifahrtschein zurück nach Ösiland sein. Zudem weiß er, was ihm blüht, wenn er zu den Basken kommt. Die haben hier so eine Spezialbehandlung. Da schauen die Wärter weg. Aber am nächsten Tag hat er sein Gemächt im Mund.«
»Lecker«, grinste Picker und drehte sich zu seinem Kollegen um. »Wir brauchen einen Haftbefehl und ein dringendes Auslieferungsbegehren wegen erheblicher Gefahr im Verzug. Der Zeuge kann …«
Der Forensiker sah ihn zweifelnd an. »Wenn Sie ihn holen, ist das binnen weniger Stunden in der Öffentlichkeit. Und wenn sich der Mann dann als Luftnummer entpuppt, wird das sofort als Fehlschlag interpretiert.«
Picker nickte. Er verstand. Nicht alles, was ermittlungstechnisch sinnvoll war, hatte auch politisch und öffentlichkeitswirksam einen Sinn.
»Ihr bleibt da. Der soll ruhig erst ein wenig von seinen baskischen Freunden bearbeitet werden. Ihr werdet mit den Spaniern zusammenarbeiten, während ich euch die nötige Unterstützung besorgen werde. Und jetzt viel Spaß mit Paella und Rioja.«
Er nickte dem Forensiker zu und beide machten sich zu Fuß auf den kurzen Weg zum Gasthof zur Post. Der Abend war angenehm, ein kühler Wind wehte von den Bergen hinab ins Tal. Jemand aus den benachbarten Häusern schien schon zu grillen. Er roch Steaks und Bratwürste. Wie gern hätte er sich mit dem Kollegen jetzt zu einem Bier zusammengesetzt, den Tag Revue passieren lassen. Aber diese verdammte Bürgerversammlung stand ihm noch bevor.
Ihm war das Tal zuwider. Eine üble Mischung aus vertrottelten Ureinwohnern und reichen Lodenträgern, die sich in ihren Landhäusern versteckten. Zudem wohnte hier mittlerweile Quercher, das blöde Arschloch.
Gaugenrieder hatte ihm erzählt, dass der verhasste Kollege mit der Türkin und seiner Vorgängerin Dahmer unter einem Dach wohnte. In Pickers Fantasiewelt entstanden diffuse sexuelle Bilder, die ihn verärgerten, weil sie seinen Neid erzeugten.
Neid war das prägende Gefühl Quercher gegenüber. Er hatte Quercher die Frau ausgespannt, und als diese depressiv daheim lag, war ihm klar geworden, dass er wieder nur den zweiten Platz bekommen hatte. Dachte Picker an Quercher, zogen sich seine Magenwände zusammen, verkrampften sich unmerklich seine Hände und eine schlechte Stimmung schob sich wie ein übler Duft in seine Welt.
Der Forensiker bemerkte es. »Sie glauben nicht, dass die Täter von außerhalb kommen?«
Picker wies auf eine Bank, die an einem Bach stand. »Wir haben noch ein paar Minuten. Ich will es Ihnen erklären.«
Er kramte in seiner Jacke nach zwei Dosen eines Energydrinks und bot dem Forensiker eine an. Der lehnte dankend ab und zündete sich einen Zigarillo an.
Ein Mann in einem grünen Janker kam den Weg herauf. Sein Gesicht war gerötet. Er schien getrunken zu haben. Es war ein Frührentner, den jeder im Ort wegen seiner dämlichen Kommentare in einschlägigen Kneipen kannte. Die alkoholisierte Art des Dorftrottels. Er sah die beiden Ermittler auf der Bank, erkannte Picker, den er schon auf Bildern in der Zeitung gesehen hatte, und nahm all seinen Mut zusammen. »Muss ich da hingehen oder höre ich da nur wieder Gerede für die Weibsbilder?«, fragte der angetrunkene Mann eine Spur zu aggressiv.
Picker war genervt. »Sie können auch daheimbleiben und RTL 2 schauen. Ist ein freies Land.«
»Schlau daherreden könnt ihr. Aber die Kinder bringt ihr net zurück.«
»Guter Mann, wir tun unser Bestes.«
»Einen Scheißdreck tut ihr. Den Toni habt ihr fast totgeprügelt. So sieht’s aus. Ich kenn den. Das war kein Schlechter.«
Der Mann schaute ihn herausfordernd an, aber Picker hielt dem Blick stand. Wenige Sekunden später hatte sich der Mann getrollt.
Picker zerdrückte seine Dose und warf sie in den Bach.
»Diese Menschen hier sehen das Böse immer außerhalb des Tals«, versuchte der Forensiker zu erklären.
»Ach was, die haben fürchterliche Angst vor allem, was von außen kommt: Asylbewerber, Preußen, neue Technik, eine andere Partei. Insofern passt es nicht in ihr Weltbild, dass der oder die Täter aus den eigenen Reihen kommen könnten.«
Der Forensiker nickte. »Es ist das Wesen der kleinen Welten wie hier im Tal, sich gegen außen zu verbünden. Wir, die Polizei, sind nicht ihre Freunde. Wir sind Gegner. Wir kommen aus der Stadt, wo alles anders und schlechter ist.«
Sie sahen, wie ein Kleinbus auf einem Parkplatz hielt und vier Frauen in schwarzer Tracht ausstiegen.
»Wenn wir glauben, dass diese Menschen unsere Arbeit unterstützen, sind wir auf dem Holzweg«, sagte Picker mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme. »Diese Bürgerveranstaltung ist doch nur Makulatur. Ich werde nett sein, erklären. Aber am Ende lasse ich die Bombe platzen. Ich will dieses Dreckstal umkrempeln, jeden Stein will ich hier hochheben, die Vorgeschichte eines jeden Mannes im geschlechtsfähigen Alter erfahren. Die denken, wir sind dumpfe Bullen, die brav vor sich hinarbeiten. Aber ich werde ihren Starrsinn brechen!«
Der Forensiker schwieg. Er hatte diese Emotionalität nicht erwartet. Aber auch er glaubte längst nicht mehr daran, dass der Täter von außerhalb kam. Die Frage war nur, wie man das örtlichen Würdenträgern und Einwohnern erklären sollte. Denn er ahnte, dass Picker hier ein Exempel statuieren wollte.
Sie stemmten sich von der Bank hoch und schritten zum schräg gegenüberliegenden Haus.
Der große Saal im Gasthof zur Post war zu klein. Zu viele Menschen wollten von den Ermittlern wissen, ob es noch Hoffnung für die vier Kinder gab. Es war eine Veranstaltung, die der Landrat des Kreises angeregt hatte. Denn anders als in den Medien war die Entführung der Kinder hier im Tal noch längst nicht von der Tagesordnung verschwunden. Und ein Landrat, der wie ein kleiner Fürst regierte, spürte solche Stimmungen.
Es hatte mit einem Unterstützerkreis aus besorgten Müttern angefangen. Frauen, die die Kinder von gemeinsamen Schulausflügen, aus dem Trachtenverein oder von der Wasserwachtjugend kannten. Sie fühlten mit den Eltern, ahnten, dass ihre eigenen Kinder nur durch einen Zufall verschont worden waren. Etwas, was in dieser Form nur auf dem Land entstehen konnte, bahnte sich seinen Weg: Solidarität mit den Opfern. Aus der Fürsorge, die teils unbeholfen war – einige wollten Kleider oder Geld spenden – und teils sehr rührend, wurde langsam Wut gegen die Ermittler. Dann kam Maria Strasser. Die Vorsitzende des Wiesseer Trachtenvereins, selbst Mutter eines Sohnes und einer Tochter, hatte einen Unterstützerkreis organisiert. Das war insofern interessant, als er alle Talgemeinden einschloss. Jene Orte, die sich gegenseitig meist nicht den Dreck unter den Fingernägeln gönnten, schlossen sich mit großer Vehemenz an. Sie stellten eigenmächtig Suchmannschaften auf und riefen im Internet, in Zeitungsanzeigen und Radiointerviews den Fall immer wieder in das Gedächtnis der Mitmenschen.
Als die letzten großen Wagen der Polizei, die Suchmannschaften und Hubschrauber verschwunden waren, weil man »sich jetzt auf die Feinarbeit konzentrieren wollte«, als am Tatort nur noch weggeworfene Pappbecher und Tüten von Fast-Food-Ketten im Straßengraben lagen, wussten auch die Unterstützer, dass sie ihre Strategie ändern mussten. Vor wenigen Tagen waren zwanzig Frauen in Tracht im Landratsamt Miesbach aufgetaucht und hatten nach einer lautstarken Diskussion den Landrat zu einer Informationsveranstaltung in Bad Wiessee gedrängt.
Alle Besucher wurden von Polizisten vor der Tür durchsucht, was die sowieso schon angespannte Stimmung deutlich anheizte. Die Menschen waren mehrheitlich in Tracht gekommen. Keine Tracht, wie sie die Zugezogenen aus der Stadt bei Loden Frey in München erstehen, nicht das billige Zeug »für das Oktoberfest«, sondern »a Gwand, a gscheit’s«. Sie trugen es mit Stolz, und selbst der Verleger war so gekleidet, ebenso die Familie des Kunstschlossers Baumschneider. Mehr als drei Dutzend trugen die Tracht der Schalkfrauen, jene traditionelle Kleidung, die nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde. Meist prachtvoll und mit teurem Silber und Gold ausgestattet, trugen sie an diesem Abend nur eine rote Nelke und keinen Hut. Für Eingeweihte ein Zeichen, denn diese Art der Aufmachung wurde nur für Beerdigungen empfohlen.
Der Verleger, tags zuvor noch groß in Form bei seiner Spendengala in München, hatte neben der Strasser Maria an der Tür vor den beiden Polizisten gestanden, als die großgewachsene Frau nur leise zischte: »Long mi net o, oder du kriegst a Fotzn.« Ein Wink des Landrats reichte und man ließ die beiden passieren.
Vorn in der ersten Reihe saßen die Angehörigen wie Ankläger. Ihre Gesichter waren verschlossen. Es musste ihnen unglaubliche Kraft abverlangen, sich hier und heute allen anderen Mitbürgern zu präsentieren. Aber auf eine sonderbare Weise fühlten sich die Verkäuferin Viervogel wie auch die von Homsteins aus Rottach-Egern gut beschützt von den Trachtlern in den Reihen hinter ihnen. So als ob ein Wall aus Menschen den Wellen an Information und Desinformation Einhalt gebieten würde. Alle waren da. Eltern wie Großeltern. Nur Weldes Frau war daheimgeblieben. Sie hatte sich unwohl gefühlt und sich mit einem schweren Beruhigungsmittel ins Bett gelegt. Auch Arzu und Querchers Schwester waren gekommen – ohne Julia. Zu nah war der Fall noch für sie, außerdem wollte sie Gaugenrieder, dem alten Kollegen, nicht begegnen. Aber die beiden Frauen hatten versprochen, ihr alles haarklein zu berichten.
Gaugenrieder war als Sprecher ausgewählt worden. Er kannte die Talbewohner besser, sprach ihren Dialekt. Neben ihm saßen auf dem Podium der Landrat, die Polizeichefin von Bad Wiessee und Picker mit dem Forensiker. Links von ihnen, an einem Extratisch, versammelten sich die fünf Talbürgermeister, so als ob sie zwischen Ermittlern und Bürgern stehen würden.
Psychologen und ein externer Medienberater des Innenministeriums hatten den Termin hastig vorbereitet. Sie ahnten den Zorn der Menschen und hatten schon einen Fragen-und-Antworten-Katalog für den Abend erstellen lassen. Gaugenrieder ließ eine Karte an die Wand projizieren. Der junge Kollege, der den Beamer betätigte, tat sich schwer. Das Publikum wurde unruhig. Gaugenrieder begann zu reden und sehr schnell kamen spontan Fragen aus dem Publikum.
Nach gut einer Stunde war die Luft im Raum abgestanden und heiß. Die Menschen tranken ihr Bier, diskutierten leise untereinander. Der Abend drohte zu zerfasern, bis Picker noch einmal das Wort ergriff.
»Wir werden von morgen an für alle männlichen Talbewohner einen freiwilligen Gentest durchführen. Der Test wird dann sukzessive auf die umliegenden Gemeinden im Landkreis ausgeweitet. Wir wollen damit sicherstellen, dass der oder die Täter nicht hier im Tal wohnen.«
Die Aussage schlug ein wie eine Bombe, plötzlich schrien alle wild und unkoordiniert durcheinander.
Die Strasser Maria erhob sich. »Wenn keiner von den Mannsbildern etwas zu verheimlichen hat, geht er hin.«
»Was soll das? Und wenn es eine Frau ist?«, fragte einer von hinten laut.
Einige lachten leise.
»So was macht keine Frau«, erwiderte Strasser entrüstet.
Gaugenrieder versuchte zu beruhigen. »Wir haben hier Herrn Dr. Liebler, einen Forensiker vom Bundeskriminalamt. Dieser Experte versucht, sich in das Tatverhalten zu versetzen. Sie haben das sicher schon einmal im Fernsehen gesehen. Vielleicht geben Sie ihm eine Chance, die Hintergründe zu erklären.«
Es wurde nur langsam ruhiger. Der Forensiker erhob sich und ging mit dem Mikrofon um die Tischreihe herum. Er wollte eine Verbindung zu den Menschen haben, sie erreichen. Frontalinformation war ihm zuwider. Aus den Erfahrungen in anderen Fällen wusste er, dass die Wachsamkeit der Bevölkerung immer aufrechterhalten bleiben musste. Wer wach war, sich als Teil der Ermittlungen sah, beobachtete seine Umgebung anders. Was er den Menschen nicht verraten würde, war, dass er den Raum mit kleinen Kameras aufnehmen ließ. Jeder hatte am Eingang seinen Ausweis zeigen und sich in eine Liste eintragen müssen. Vielleicht hatte sich der Täter eingeschlichen, um etwas über den Stand der Ermittlung zu erfahren oder sich am Leid der Angehörigen zu ergötzen. In einem kleinen umgebauten Lkw hinter der Gastwirtschaft beobachteten drei seiner Kollegen die Leute. Schauten, wer schwitzte, wer vielleicht heimlich Aufnahmen mit dem Handy machte, wer unruhig wurde, wer sich nur auf die Eltern konzentrierte.
»Eine Idee, die wir verfolgen, ist etwas spekulativ. Aber damit ist sie nicht unwahrscheinlich. Sie geht davon aus, dass der oder die Täter sich noch mit den Kindern hier im Tal befinden. Diese Tätergruppe neigt dazu, die Kinder in der Nähe der Eltern zu verstecken – meist lebend …« Er räusperte sich, weil er wusste, wie sehr diese letzte Bemerkung die Eltern schmerzen musste. »Wir können aber nun einmal nicht mit einem Schlag jedes Haus hier im Tal aufgrund dieser Theorie durchsuchen lassen. Das werden Sie verstehen. Zu Recht gibt es den Grundsatz von dem Schutz des Privateigentums.« Wieder eine Pause, damit sich diese Aussage in den Köpfen der Zuhörer festsetzen konnte.
Schon kam der erste Widerspruch. »Durchkämmt die Häuser. Wer nichts zu verbergen hat, macht die Tür schon auf.«
Zustimmendes Gemurmel. Aber auch entrüstete Ausrufe. Wieder wurde es laut, was Picker insgeheim gefiel.
»Sosehr das wünschenswert wäre: Weder ist das rechtlich möglich noch haben wir die Kapazitäten dafür. Aber Sie alle können uns helfen. Schauen Sie genauer hin. Gehen Sie in die Keller Ihrer Mehrfamilienhäuser, klingeln Sie beim Nachbarn, wenn Sie ihn lange nicht mehr gesehen haben. Rufen Sie uns an, wenn Sie Verdächtiges beobachtet haben. Wenn Menschen, denen Sie das nicht zuordnen können, Kinderkleidung oder -nahrung kaufen, wollen wir das wissen. Gehen Sie, wenn Sie jetzt wandern, zu jeder Hütte, jeder Alm hier im Umkreis. Tun Sie sich organisiert mit anderen Menschen zusammen und suchen Sie nach Vorgabe der Polizei einzelne Hänge ab. Das alles kann helfen. Und wenn wir nur einen Schuh, eine Strumpfhose oder einen Schlüssel finden, hilft uns das. Ihr Engagement ist uns wichtig.«
Für einen Moment schien das Publikum von dieser Aufforderung positiv bewegt worden zu sein. Doch dann erhob sich der Vater der kleinen Mathilde. Seine Frau hatte ihn noch am Arm gezogen, ihn gebeten sitzenzubleiben, aber er schüttelte sie wie ein lästiges Insekt ab.
»Ich kann euer Getue nicht mehr ertragen! Seit drei Wochen schafft ihr hier rum. Und wenn der feine Verleger – nichts für ungut, Herr Welde – nicht auch betroffen wäre, dann würdet ihr den Fall doch schon längst zu den Akten legen. Sprecht es doch aus. Ihr lasst diesen Toni ins Koma fallen und jetzt wisst ihr nicht mehr weiter! Ihr habt nicht einen blassen Schimmer, wo die Kinder sein können. Ihr habt alles nach 08/15 durchgezogen und jetzt steht ihr da und habt keinen Plan mehr. Ihr stochert doch im Nebel!« Sein Kopf, sowieso schon einem Ochsen gleichend, war gerötet.
Die uniformierten Polizisten, die am Rand des Saals standen, wurden unruhig. Würde der Baumschneider sich zusammenreißen können? Jetzt erhoben sich auch andere und riefen wild durcheinander. Die Stimmung drohte zu kippen. Gaugenrieder sah besorgt zum Landrat, der wiederum von seinem jungen Referenten gedrängt wurde, den Saal durch den Hinterausgang zu verlassen. Noch schüttelte der Politiker mit dem Kopf, schaute aber schon einmal in Richtung Tür.
Gaugenrieder rief laut gegen die Männer an. Picker kratzte mit dem Fingernagel über das Mikrofon. Der scharfe Ton einer Rückkopplung durchzog den Raum. Alle sahen nach vorn.
Picker räusperte sich. »Ich glaube, da ist einiges nicht klar geworden. Hier noch einmal für alle zum Mitschreiben: Es gibt den begründeten Verdacht, dass der Täter aus euren Reihen kommt, in einem eurer Häuser wohnt, die Kinder in einem eurer Keller, auf einem eurer Dachböden oder einer eurer Almen oder in einer eurer Zweitwohnungen versteckt hat. Statt das Maul aufzureißen, solltet ihr froh sein, dass wir euch von morgen an erneut mehrere Hundertschaften an Bereitschaftspolizei ins Tal schicken, die jeden EURER Steine umdrehen. Ich will die Kinder. Ich nehme keine Rücksicht auf Befindlichkeiten.«
Eine Sekunde war es still, dann riefen die Leute wieder wild durcheinander, forderten Entschuldigungen, aber Picker blieb ungerührt einfach stehen.
Plötzlich war da der Schrei.
Er kam von weiter hinten. Alles drehte sich um. Zwei Frauen hatten sich erhoben. Gaugenrieder reckte den Kopf, wies mit einem Kopfnicken einen der Beamten am Rand an nachzuschauen.
Das war aber nicht mehr nötig. Eine der Frauen hatte ihn erkannt. Sie hatte ihn hochgehoben, sodass jeder der mehr als dreihundert Bürger ihn sehen konnte.
Das war Lukas Welde, der Sohn des Verlegers.
Der Junge wurde, ehe die Polizisten sich versahen, nach vorn gereicht. Jeder strich ihm über den Kopf. Picker rief Befehle. Die Beamten sollten sofort draußen nach den anderen Kindern schauen. Welde senior war aufgesprungen und zwischen den Stühlen zu seinem Kind gestolpert.
So hockte er mit dem Jungen, der einen weißen Ganzkörperanzug trug, vor einer Stuhlreihe, weinte, schluchzte und streichelte seinem Sohn über das Gesicht. Einige Männer waren ebenfalls nach draußen gestürmt, um mit der Polizei bei der Suche nach den anderen Kindern zu helfen. Aber die Straße vor dem Gasthof war leer.
Nachdem die Eltern der noch vermissten Kinder das erfahren hatten, sahen sie still auf den Vater mit seinem Sohn. Sie sagten es nicht. Aber jedem war klar, was sie dachten. Warum nicht mein Kind?
Welde bekam nichts davon mit. Er bemerkte auch nicht, dass der Mund seines Sohnes weit geöffnet war. So, als wolle er etwas sagen. Aber es kam kein Ton über seine Lippen.
Kapitel 33
Listerhütte, 22. 05., 22:43 Uhr
»Was macht dich so sicher?«
»Es ist die Dosis. Alles, was er erlebt hat, wird er nicht mehr abrufen können. Ich erkläre es dir noch einmal.«
Er hatte gar kein Interesse daran. Er wollte, dass sie das machte. Und dass sie auch das Wissen darüber behielt. Er hatte den Plan, sie war für die Durchführung zuständig. Das war der Deal.
»Eine manifeste retrograde Amnesie, also eine ›Was war da los? Ich weiß von nichts‹-Situation kann man nur durch eine Zerstörung oder zumindest eine gravierende Beeinträchtigung des limbischen Systems des Gehirns auslösen. Oder mit einer tiefen Narkose – keine oberflächliche Sedierung. Bei Kindern ist das immer etwas schwierig. Die Drecksbälger vertragen noch nicht so viel wie die fetten erwachsenen Eltern.«
Er kannte ihren Hass auf Kinder. Das war das Entscheidende gewesen. Aber dennoch ängstigte es ihn auf eine sonderbare Art und Weise.
»Es bleiben also zur dauerhaften Sedierung mit Gedächtnisverlust nur die üblichen Benzodiazepine wie Midazolam oder Propofol. Das ist übrigens das Zeug, auf das Michael Jackson so stand.«
»Schon klar, und an dem er verreckte.«
»Bleib ruhig. Nach dem Erwachen aus einer solchen Narkose fühlt man sich meist sehr fit und happy. Allerdings löst Propofol eine antegrade Amnesie aus. Man vergisst also die neuen Dinge, aber nicht den Moment, in dem man die Infusion bekommen hat. Deswegen haben wir sie schon im Wagen weggeschossen. Mit einem anderem Mittel, das man nicht so oft und nicht in so einer hohen Dosis verabreichen darf. Aber es hat für die erforderlichen zwölf Stunden gereicht. Alles, was wir jetzt geben, kann über mehrere Tage verabreicht werden. Nur: Irgendwann ist auch da Schluss. Du hast gesehen, was passiert, wenn der Organismus dieser Gören anders reagiert. Zwei und vier haben schlicht schneller abgebaut. Und wir haben den Alarm der Geräte nicht gehört. Aber jetzt sind sie ja wieder da. Wichtig ist nur, dass dich niemand gesehen hat.«
Er nickte. »Die waren alle drin. Ich schob ihn vor mir her in der Wirtschaft, er konnte mich nicht sehen. Dann nahm ich ihm die Maske ab und schubste ihn in den Flur. Der Rest war ein Selbstläufer.«
Sie grinste zufrieden und erleichtert. Viele der Schritte auf der Gegenseite waren ihnen bekannt. Er hatte dann meist schon einen entsprechenden Plan. Jetzt aber hatten sie improvisieren müssen. Stundenlang hatten sie den Ort nach Videokameras durchsucht. Irgendeinen Volltrottel gab es ja immer, der privat eine Kameraaufnahme von seinem tristen Heimatort ins Netz stellte. Die Fahrt zum Gasthof war risikoreich gewesen, aber unglaublich wirkungsvoll. Der einzige Haken war, dass man jetzt die Ermittlung wieder auf das Tal einschränken würde. Mit ein wenig Glück aber würde sich auch das lösen lassen. Seit drei Tagen lief ein bettelndes Kind vor dem Mailänder Dom herum – in den Kleidern von Nummer vier. Er hatte sie in einem Container einer Mailänder Hilfsorganisation deponiert. Nicht einmal zwei Stunden später waren die Kleider verschwunden. Vielleicht stieß darauf jemand im Rahmen der Ermittlungen.
Sie liebte seine Ideen. Leider musste sie wieder die Kinder versorgen. Aber wenn sie endlich schliefen, würde sie ihm etwas Besonderes bieten. Das Bett war frisch bezogen.
»Was machen wir mit Toni?«
Er sah sie erstaunt an. »Was meinst du?«
»Ist es klug, darauf zu warten, ob er wieder erwacht?«
Er lächelte nachsichtig. »Ich muss dir doch nicht erklären, was irreparable Hirnschäden bedeuten. Der Junge ist nur noch intellektueller Brei. Der kann, sollte er jemals erwachen, nicht einmal allein aufs Klo gehen.«
Sie nickte. Es war ihr Spiel. Sie stellte die Fragen nach kritischen Situationen. Er antwortete, hatte in der Regel eine Idee. Wenn nicht, entwickelten sie sie gemeinsam. Es war ein ständiger Prozess. So hatten sie auch Unvorhersehbares bewältigt. Und so würden sie auch mit dem Mädchen umgehen. Mit Nummer vier. Die Namensgebung war auch so eine Idee von ihm. Er wollte keinerlei emotionale Beziehung zu den Kindern aufbauen. Von Anfang an bekamen sie nur Nummern. Nummern waren sachlich, ließen keinen Raum für Gefühle. Sie benötigte die Nummern, um ihren Wünschen Einhalt zu gebieten. Sie würde Kindern gegenüber nie Wärme entwickeln. Sie waren schwach, forderten Aufmerksamkeit, wenn sie einfach das Maul halten sollten, und waren zu nichts zu gebrauchen. Zuweilen entwickelte sie einen richtigen Ekel, wenn sie an den Geruch ihrer kleinen schwitzigen Hände dachte. Wenn sie unbeholfen waren, konnte sie kaum an sich halten, ihnen nicht wehzutun. Noch konnte sie sich beherrschen. Weil die Zahlen halfen. Aber kamen die Namen ins Spiel, verkrampften ihre Hände und sie brauchte viel Kraft, um ihre Fantasie zu kontrollieren. Wie lange noch?
Sie mussten weg.
Kapitel 34
München, 23. 05., 09:45 Uhr
Picker wurde fast wahnsinnig. Weldes Sohn hatte man tatsächlich in dasselbe Krankenhaus wie den komatösen Toni Knöchel überstellt. Welde senior kannte den dortigen Klinikchef gut. Es war sein Wunsch gewesen. Aber der Junge war ein Zeuge, da sollte der Alte wenig mitentscheiden dürfen. Sollte das Kind wieder in der Lage sein zu sprechen, konnte es die Polizei mit seinen Hinweisen womöglich zu den anderen Kindern führen.
Er fuhr mit Gaugenrieder hinaus ins Klinikum Großhadern. Schon von Weitem sahen sie auf dem Parkplatz und im Eingangsbereich des Krankenhauses die Reporter. In zwei Stunden sollten sie eine Pressekonferenz geben. Gerass war am Morgen ganz aus dem Häuschen gewesen. Sie hatte Picker in ihr Büro bestellen lassen, wo auch schon ein Vertreter des Innenministeriums wartete. Picker genoss den Auftritt sichtlich. Am Nachmittag würde der Ministerpräsident am Rande einer Plenarsitzung die besonderen Ermittlungserfolge Bayerns hervorheben können.
»Was immer Sie an Unterstützung von uns brauchen, Picker, Sie bekommen es. Wenn der kleine Lukas lebt, dann kann man auch für die anderen hoffen«, hatte er ihm leise zugeflüstert.
Auch Gerass war nahezu euphorisch gewesen. »Das war nicht mehr zu erwarten«, hatte sie gesagt. Und in Pickers Richtung: »Gute Arbeit. Mit Ihrem Druck, innerhalb des Tals suchen zu lassen, dem Gentest und dieser Bürgerversammlung haben Sie den Täter aus dem Konzept gebracht. Das war es. Da bin ich mir sicher.«
Alle hatten genickt. Gaugenrieder hingegen blieb still. Denn es gab einen kleinen Haken.
Auf dem Rücken des Jungen hatte ein Papier geklebt. Sie hatten nicht verhindern können, dass es einige der Menschen in der Gastwirtschaft lesen konnten. Welde hatte die Schrift als die seines Sohnes identifiziert.
Wir haben euer Gält bekomm. Ihr habt Junge von Värleger. Jetzt Ruhe. Anders Kinder weg.
Das war natürlich eine Finte. Sie hatten weder Kontakte zu den Entführern gehabt noch irgendwelches Lösegeld übergeben. Das war absurd. Aber nun war es in der Welt. Genauer: in der virtuellen. Jemand aus dem Ort hatte diese Nachricht dem Onlineportal Tegernseer Stimme zugeschickt und dort wurde prompt gefragt: Sonderbehandlung für Millionäre? Binnen weniger Stunden waren Hunderte von Kommentaren eingegangen. Wurde erst noch spekuliert, stand für viele schnell fest, dass die Polizei wohl mit zweierlei Maß vorging. Noch ehe Picker vor die Presse treten und die neuen Erkenntnisse in einer Pressemitteilung geraderücken konnte, war diese Theorie in ganz Deutschland zu einem Gesprächsthema geworden.
Gaugenrieder hatte noch früh am Morgen in Bad Wiessee die anderen Eltern getroffen. Welde hatte sein Anwesen als Besprechungsort angeboten. Aber die Betroffenen hatten abgelehnt. So waren sie in der Polizeistation zusammengekommen. Auch dort warteten die Kamerateams und die Reporter, fotografierten in die Autos der Eltern, bis es zwei Handwerkern aus Wiessee zu bunt wurde. Sie fuhren in Schrittgeschwindigkeit, aber ohne zu bremsen, haarscharf mit einem Kleinbagger an der Meute vorbei. Im Windschatten des Fahrzeugs waren die Eltern dann durch das Tor der Polizeistation gekommen und hatten sich mit Gaugenrieder getroffen. Ihre Gesichter offenbarten Misstrauen und Feindseligkeit. Die Saat schien schon jetzt aufzugehen.
»Ich versichere Ihnen, dass wir das nie tun würden. Glauben Sie diesen Verbrechern nicht. Die wollen genau das erreichen. Zwietracht zwischen den Opfern und der Polizei säen.«
»Woher sollen wir das wissen?«, unterbrach ihn Sepp Baumschneider, der Vater der kleinen Mathilde.
»Der Text ist zu offensichtlich in einem osteuropäischen Slang geschrieben. Niemals würden wir nur für ein Kind zahlen. Das ist doch wohl klar!«
Baumschneider saß mit verschränkten Armen neben seiner Frau, deren Augen rot geweint waren. »Herr Gaugenrieder, ich schließe bei diesem Fall gar nichts mehr aus. Ihr habt euren einzigen Zeugen ins Koma geprügelt.«
»Hören Sie, das ist reine Spekulation«, unterbrach Gaugenrieder sofort.
Aber Baumschneider ließ sich nicht beirren. »Warum nur? Wusste der etwas? Und jetzt dieser Brief. Und das Kind vom Herrn Welde spricht kein Wort – angeblich. Das alles sollen wir schlucken?« Er erhob sich und beugte sich zu Gaugenrieder. »Einen Scheiß werden wir tun! Ihr glaubt, dass euch nur der feine Millionär unter Druck setzen kann. Aber ihr habt euch getäuscht. Ihr seid hier auf dem Dorf. Da halten die Leut zusammen.«
Er hatte den Polizisten noch zwei Sekunden hasserfüllt angeschaut und dann mit seiner Frau den Raum verlassen. Auch die von Homsteins waren mit hinausgegangen, obwohl die Mutter, Luise von Homstein, fand, dass man Gaugenrieder ruhig noch etwas hätte zuhören können. Aber das äußerte sie erst leise und weinend im Auto, während sie im Blitzlichtgewitter der Fotografen zurück nach Rottach-Egern fuhren.
Gundel Viervogel war als einzige Betroffene in der Polizeistation von Bad Wiessee geblieben.
Picker hatte zunächst geschwiegen und dann auf sie eingeredet.
Irgendwann hatte sie ihn mit einer kleinen Handbewegung unterbrochen. »Ich habe keinen Menschen, der mir hilft. Ich habe kein Geld, mit dem ich meinen Sohn freikaufen könnte. Ich bin allein. Da sind nur Sie, diese Menschen da draußen und ich. Und irgendwo ist mein Sohn. Bringen Sie ihn zurück.«
Dann war die kleine, aber zähe Person aufgestanden und hinausgegangen. Vorbei an den Reportern, hinein in den Supermarkt, wo noch vor wenigen Wochen alles in Ordnung war.
Die Reporter liefen ihr hinterher. Aber kaum hatten sie den Flur erreicht, erschien ein junger Fleischergeselle, der mit großer Geste zwei sehr lange Fleischermesser schliff. Man wich zurück und verstand.
»Wir reden erst mit dem behandelnden Arzt«, wies Picker Gaugenrieder an, der das Auto in die Tiefgarage des Klinikums lenkte.
Kurz darauf saßen sie in einem Besprechungszimmer vor einem Schreibtisch. In einem Leuchtgerät lagen Röntgenbilder von einem Kopf. Darunter standen die Buchstaben L und W. Picker verstand, dass es sich um den Kopf des kleinen Welde handelte.
»Nun, wir sind noch mitten in den Untersuchungen«, begann der Arzt. »Lukas ist rein äußerlich, bis auf ein paar sekundäre Verletzungen, unversehrt.«
»Aha, was sind das für Verletzungen? Sind die dokumentiert worden?«
Der Arzt nickte. Er drehte seinen Computerbildschirm in Richtung der beiden Polizisten. »Hier am Oberschenkel. Brandmale. Nicht wirklich schlimm. Schon verheilt. Hämatome an Rücken und Hals. Und noch ein paar weitere am Arm von einer falsch gesetzten Spritze, was insofern wohl seltsam ist, als die Person, die Lukas sedierte, offensichtlich ihr Handwerk verstand.«
Gaugenrieder notierte eifrig mit. Das war eine echte Neuigkeit und sehr hilfreich.
»Nun zu den eigentlichen Schädigungen und Beeinträchtigungen. Wie Sie ja schon wissen, ist die Artikulationsfähigkeit des Jungen unterbrochen. Kurz: Er kann sich weder mitteilen noch reagiert er. Zudem scheint er einen erheblichen Hörverlust erlitten zu haben. Sein Kiefer ist in Permanenz geöffnet. Er ist apathisch. In seinem Blut fanden wir manifeste Hinweise auf eine ständige Sedierung.«
Picker konnte es nicht glauben. Sie hatten einen Zeugen, der aber nicht sprach und nichts verstand – und zu allem Übel auch noch den Mund nicht zubekam. Was war das hier? Eine Schnitzeljagd mit Sonderübungen? Das war doch kein Zufall. Jemand spielte mit ihnen.
»Wie kann das passieren? Was ist da vorgefallen?«, fragte Gaugenrieder leise.
Der Arzt erhob sich und ging zu dem Leuchtgerät. »Die Kiefersperre erklärt sich optimal durch eine Lähmung des Nervus mandibularis, das ist der dritte Ast des fünften Hirnnerv, des Nervus trigeminus. Hier …« Er zeigte auf das Skelett des Kopfes. »Der versorgt nämlich alle für den Mundschluss zuständigen Muskeln, den Musculus masseter, den Musculus temporalis und den Musculus pterygoideus medialis.«
Das war das Problem, wenn man mit diesen verdammten Klinikaffen sprach. Anders als die gut geschulten Gerichtsmediziner brabbelten diese Pfeifen ständig in ihren lateinischen Begriffen und keiner verstand etwas.
»Geht’s womöglich auch ohne großes Latinum?«, fragte Picker angesäuert.
Der Arzt lächelte milde. »Ja, Bildung ist ein knappes Gut.« Er fuhr fort: »Die Hirnnervenschädigung könnte durch das Medikament der Entführer ausgelöst worden sein. Wir suchen noch nach einem Mittelnachweis. Das wird nicht leicht, Ihnen aber wohl sehr wichtig sein. Hat bestimmt auch keinen lateinischen Namen.«
»Verstanden, Dr. Mabuse«, murmelte Picker leise.
»Die Stummheit lässt sich gut mit dem Phänomen des totalen Mutismus erklären. Das ist – kurz und ohne Latinum gesagt – eine überwiegend durch Schockerlebnisse ausgelöste, häufig mit Depressionen einhergehende Sprachlosigkeit oder Kommunikationsstörung, die besonders im Kindes- und Jugendalter auftritt.«
»Und daher die Apathie?«
»Ja, infolgedessen sind durchaus auch apathische Zustände denkbar.«
»Nach wie vielen Tagen kann man damit rechnen, dass sich sein Zustand ändert? Ich meine, er wird ja nicht mehr sediert, ist in seinem häuslichen Umfeld und wieder bei seinen Eltern.«
»All das kann theoretisch ewig andauern oder aber reversibel sein«, erwiderte der Arzt.
»Könnten die Entführer diesen Zustand bewusst herbeigeführt haben?«, fragte Gaugenrieder.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Man kann ihn innerhalb einer Therapie billigend in Kauf nehmen, aber ihn derart punktgenau hervorzurufen, ist kaum möglich. Allerdings bin ich kein Ermittler, das werden meine Kollegen aus der Rechtsmedizin sicher besser beurteilen können. Fest steht, dass hier professionell gehandelt wurde, das Sedieren muss jemand vollzogen haben, der sich auskennt.«
»Warum?«, fragte Picker und biss sich ein Stück Fingernagel ab.
»Weil der Junge sonst tot wäre.«
»Sind nicht irgendwelche anderen Hinweise am oder im Körper gefunden worden, die uns eine Idee davon geben könnten, wo der Junge untergebracht wurde?«
»Schauen Sie, wir wissen, dass Lukas äußerst lichtempfindlich ist. Ich glaube, dass er lange in Dunkelheit oder künstlichem Licht verbracht hat. Zudem ist der Rücken erheblich von Druckstellen belegt. Er scheint viel gelegen zu haben. Des Weiteren wurde er an Händen und Füßen fixiert. Aber es waren keine sehr harten Fixierungen, also weder Metall noch Plastik, was Einschnittstellen auf der Haut hinterlassen hätte. Ihre Kollegen haben bereits Haar-, Speichel- und Hautproben bekommen. Noch können wir Ihnen keine Stuhlproben geben. Auch Urinproben sind nicht angefallen. Bekommen Sie aber.« Leise fügte er hinzu: »Was auch immer der Junge erlebt hat, er wird es garantiert nie mehr vergessen. Daran wird keine Therapie dieser Welt etwas ändern können.«
Picker nickte und erhob sich. »Wir werden neben dem normalen Wachschutz auch zivile Kollegen in Ihrem Haus postieren. Sie sollten das wissen. Es ist mit der Klinikleitung abgestimmt. Täter neigen dazu, sich dem Risiko auszusetzen und ihrem Opfer noch einmal in einem vermeintlich geschützten Bereich aufzulauern. Das Opfer soll sich nie sicher fühlen!«
Der Arzt hatte sich ebenfalls erhoben, war um den Tisch herumgegangen und hatte Picker in die Augen gesehen. »Sie müssen das Schwein kriegen.«
Picker konnte sich den Zynismus nicht ersparen. »Ist doch sicher nur ein kranker Mensch.«
Kaum hatten sie das Krankenhaus verlassen, klingelte Pickers Handy.
»Wir haben etwas aus Italien.« Es war eine Kollegin von der SoKo Ostin.
»Was?«
»Carabinieri haben eine rumänische Bettlersippe am Dom in Mailand hochgehen lassen. Das Übliche. Man fand Schmuck und andere Wertgegenstände.«
»Was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Eines der Kinder trug die Jacke und die Hose von der kleinen von Homstein.«
Sie standen im Stau auf dem Mittleren Ring. Umso übler wurde seine Laune, als ein Streifenwagen mit zwei jungen Kollegen neben ihm auftauchte und die beiden zu ihm hinübersahen.
Er telefonierte ungeniert weiter. »Was haben die Italiener gemacht? Sind die Scheißrumänen noch in Haft?«
Die junge Frau am anderen Ende wurde kleinlaut. »Nein, die Familie konnte nachweisen, dass der Schmuck zur Aussteuer für eine der Töchter gehört.«
»Klar, bevor sie auf dem Straßenstrich verhökert wird. So ein Bullshit. Und jetzt sind die wieder unterwegs, oder was?«
Im Streifenwagen neben ihm wurde das Fenster heruntergelassen, eine Kelle kam zum Vorschein. Ihm wurde von einem sehr jungen Mann in Uniform bedeutet, dass er rechts in eine Baustelleneinfahrt zu fahren habe.
»Was zum Teufel …? Herrgott!«
Gaugenrieder streckte seinen Dienstausweis aus dem Fenster, doch der junge Kollege schüttelte nur den Kopf, wies auf die Einfahrt hin.
»Die Italiener haben die Sippe wieder laufen lassen? Wie haben sie das mit der Kleidung denn herausbekommen?«
»Über das Fernsehen. Ein Fernsehteam hat eine italienische Polizeistreife begleitet. Das Material wurde ausgestrahlt und ein in München lebender Italiener hat es gesehen. Der kannte die Klamotten der Kinder aus einer der Sondersendungen im deutschen Fernsehen. Also hat er sich von Mailand bei uns gemeldet und wir sind der Sache nachgegangen. Die Kollegen in Mailand allerdings hatten die Familie schon gehen lassen. Aber wir haben von ihnen genug Material bekommen. Die Fotos wurden eben ausgewertet. Es wäre ein verdammter Zufall, wenn ein Kind dieselbe Kleiderkombi tragen würde wie das entführte …«
»Moment, warten Sie!« Picker hatte den Wagen in der Einfahrt für die Baufahrzeuge gestoppt, war mit dem Handy aus dem Wagen gesprungen und auf den Kollegen zugelaufen. »Pass auf, du kleiner Scheißer! Hier ist mein Dienstausweis. Wir sind vom LKA, und wenn du Dimpfelmoser jetzt so freundlich wärst, uns unsere Arbeit machen zu lassen, hätten wir alle einen glücklichen Tag.«
»Das mag ja sein, Herr …«, der junge Polizist las den Namen vom Ausweis, »… Herr Picker vom Landeskriminalamt. Aber auch für Sie gilt die Straßenverkehrsordnung.« Er sprach mit einem deutlich hörbaren Dialekt aus Franken.
»Was willst du werden, du Nürnberger Würstchen? Bulle des Monats? Geh mir nicht auf den Sack, sonst …«
Gaugenrieder ging dazwischen.
Picker drehte sich weg und telefonierte ungerührt weiter. »Was haben die Italiener jetzt gemacht?«
»Ach, Sie wären dann wieder so weit? Ja, also die Mailänder Kollegen haben eine Sonderfahndung nach der Sippe laufen. Sie gehen in die Vororte, wo sich die Illegalen meist aufhalten.«
»Müller und Grobender sollen gleich von Madrid nach Mailand weiterfliegen. Ich will da Leute vor Ort. Ich traue den Nudelfressern nicht. Die würden die Gören auch diesem fetten Berlusconi verhökern, wenn der Bock auf Kinder hätte.« Picker beendete das Gespräch und setzte sich wieder zu Gaugenrieder in den Wagen.
Wieder klingelte sein Telefon.
Es war Gerass. Picker stellte den Lautsprecher seines Handys an. Der Italiener, der sich aus Mailand gemeldet hatte, war mit seinem Wissen an die Presse gegangen. Prompt wurde von einem italienischen Sender der Verdacht geäußert, dass eine Zigeunersippe die Kinder entführt hätte.
»Das ist doch Unsinn, Picker, oder? Wenn das so wäre, dann können wir uns den ganzen Aufriss um den freiwilligen Gentest sparen. Das ist rechtlich im Grenzbereich. Was wollen Sie machen?«
Picker sah zu Gaugenrieder.
Der zuckte nur mit den Achseln. »Ich glaube, dass man uns den Jungen quasi als Knochen hingeworfen hat. Die sind mit den anderen Kindern schon in Italien«, mutmaßte er.
»Also?« Gerass’ Stimme hallte durch das Wageninnere.
»Nun, vom Tegernsee nach Mailand braucht’s fünf Stunden hin und fünf zurück. Ein Katzensprung. Aber ich bin mir sicher, dass die Kinder im Tal sind. Wenn wir uns jetzt zurückziehen, wird es für die Bewohner, aber vor allem für die Täter so aussehen, als ob wir ihren Vorgaben folgen würden. Das wäre fatal. Ich will das ganze Programm«, forderte Picker.
Was sollte er auch sagen? Sie hatten über das rumänische Kind, das in den Kleidungsstücken der kleinen von Homstein aufgetaucht war, bislang noch keine näheren Informationen bekommen. Stattdessen kamen laufend einzelne bruchstückhafte Nachrichten herein, die sie erst einmal sortieren mussten. Aber der Druck der Öffentlichkeit würde jetzt ins Unermessliche steigen. Der Fall wurde immer unüberschaubarer. Picker aber musste etwas liefern. So wie es jetzt schien, war das kein Einzeltäter. Und wenn doch, dann war er sehr mobil und legte ständig falsche Spuren.
Picker hatte sich festgelegt. »Wir ziehen das jetzt durch.«
Kapitel 35
Bad Wiessee, 23. 05., 08:59 Uhr
Julia Dahmer war um sechs Uhr, noch vor Sonnenaufgang, hinauf in den Wald gelaufen. Sie nannte es ihren ›Übungshang‹, ein fast zugewachsener Forstweg mit umgestürzten Bäumen, den sie mit gleichbleibender Geschwindigkeit bezwang. Schnurgerade war sie den Semmelberg, der immerhin eintausendeinhundert Meter hoch war, hinaufgerannt und anschließend durch den Bergwald wieder hinabgesprintet. Gut anderthalb Stunden später war sie am Anwesen eines bayerischen verurteilten Fußballpräsidenten vorbeigekommen und wandte sich dann Richtung Prinzenruhe, einer Lichtung mit Blick auf den See und die Gemeinde.
Es war Lumpi, die sie als Erste bemerkte. Der Hund bellte und lief auf sie zu, sprang an Dahmer herauf und winselte glücklich.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie Quercher, der in einer kleinen Hütte für müde Rentner saß und einen Kaffee aus einer mitgebrachten Thermoskanne trank.
»Dumm rumsitzen wie ein alter Mann eben.«
»Aha, schmerzt die Hüfte?«
»Ja, und mehr will ich davon auch nicht erzählen.«
Sie lächelte. »Du bist ein echter Morgenmensch, Quercher.«
Julia hatte ihre Aversion gegen Quercher aufgegeben. Nicht nur, weil er sie zu sich geholt hatte, was ihr viel bedeutete. Denn sie wusste um seine Liebe zur Einsamkeit und rechnete ihm hoch an, dass er sich stillschweigend mit seiner aktuellen Wohnsituation arrangierte. Denn mit ihr, Arzu, ihrem Sohn und seit einigen Tagen nun auch Pollinger, der sich gern selbst einlud, wenn er zwischen den Behandlungen Zeit fand, glich sein Zuhause zuweilen einem Irrenhaus und war laut und hektisch. Selbst Lumpi wurde das häufig zu viel. Die alte Hundedame verkroch sich dann in ihrem Bastkorb und rollte sich ein.
»Setz dich, ich muss mit dir reden.«
»Schon gut, Max. Ich bin bald weg und fall dir nicht mehr zur Last.«
»Unsinn, ich fürchte, dass ich dich bitten muss zu bleiben.«
Sie sah ihn mit einem erstaunten Gesichtsausdruck an. Was wurde denn das jetzt?
Quercher hatte sich am Abend zuvor von Arzu und seiner Schwester die neuesten Entwicklungen im Fall Ostin erzählen lassen. Kurz bevor er sterbensmüde in sein Bett fallen wollte, hatte er eine SMS von Steinleitner erhalten. Dessen neuestes Hobby war Markus Sareiter. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, den Rechtspopulisten, der durch die Entführung der Kinder einen ungeheuren Auftrieb bekam, genauer zu durchleuchten.
Obwohl ihm die Augen zufielen, hatte Quercher Steinleitner zurückgerufen. »Was ist so wichtig?«
»Kennst du die Geschichte von deinem Freund Sareiter?«
»Findest du nicht, dass das auch noch morgen ein Spitzenthema für einen Cannabisabend sein könnte?«
»Der Sareiter steckt in der Sache mit drin.«
»Ludwig, in welcher Sache?«
»Du hast das von seiner Frau gehört?«
»Die ist vor Jahren bei einem Unfall zu Tode gekommen oder so. Deswegen ist Sareiter auch nach Indien gereist. Wieso?«
»Das war nicht irgendein Unfall. Seine Frau starb nicht weit von hier. Sie fuhr von diesem Heim für schwer erziehbare Jugendliche in Holzkirchen nach Tegernsee. Die Sareiters wollten dort ein Haus beziehen. Kurz hinter Warngau wurde sie von einem Wagen bedrängt. Es waren vier junge Männer aus Rottach-Egern, die von einer Party in München heimkamen. Der Fahrer versuchte mehrfach zu überholen, schaffte es zunächst nicht, zog dann aber in einer lang gezogenen Kurve an ihr vorbei. Er touchierte sie leicht. Sie konnte nicht gegenlenken. Der Wagen brach aus, sie kam von der Fahrbahn ab und landete kopfüber in einer Wiese. Die Jungs hielten an, gingen zu dem Wagen, glaubten, dass die Fahrerin tot wäre. Einer von ihnen klaute die Handtasche, ehe sie, ohne Hilfe zu rufen, wegfuhren. Die Unfallstelle lag so, dass sie von der Straße nicht einsehbar war. Ein Bauer, der Holz schlagen wollte, fand die Frau am nächsten Morgen.«
Quercher hatte die Geschichte noch nie gehört. »Okay, das ist schlimm. Aber was ist dann passiert, dass Sareiter sich so verändert hat?«
»Jetzt kommt ja erst das Entscheidende. Die Jungs waren allesamt aus reichem Hause hier am Tegernsee. Der Jugendrichter verurteilte die Herren zu einer Bewährungsstrafe. Und das, obwohl der Fahrer und einer der Insassen schon vorher straffällig geworden waren. Sareiter legte als Nebenkläger Berufung ein. Das nächsthöhere Gericht wies sie aber ab. Und jetzt rate bitte mal, wer der Richter an diesem Gericht war?«
»Keine Ahnung. Sag schon, ich will schlafen.«
»Georg von Homstein.«
»Von Homstein, wie das entführte Kind?«
»Genau, wie das kleine Mädchen. Georg von Homstein ist der Großvater der kleinen Maria. Und das ist noch nicht alles. Der Großvater ist mit den Eltern der vier Jungs aus dem Unfallwagen im Lions Club Tegernsee tätig. Das aber kam erst später heraus, als Sareiter schon in Indien war.«
»Du meinst, da ist eine Seilschaft aktiv gewesen? So nach dem Motto ›Wir bringen unsere Kinder nicht in den Knast‹?«
»Ja, klar.«
»So, und nun? Was ist deine Theorie?«
»Das ist eine alte Rechnung, die von Sareiter aufgestellt wird. Er will sich an dem alten von Homstein rächen.«
Quercher atmete tief durch, ehe er müde antwortete: »Ludwig, sei so lieb und geh schlafen.«
Julia Dahmer schwieg. Schwieg, weil sie überlegen musste, ob sie sich mit dem Fall, der ihr so brutal aus den Händen gerissen worden war, noch einmal auseinandersetzen wollte. Und warum ihr Quercher diese Story erzählte.
»Max, warum erzählst du mir das?« Sie erhob sich, dehnte ihre Beine an einem Holzzaun, was Quercher die Möglichkeit gab, ausgiebig ihren Po zu bewundern. Sie drehte ihren Kopf so, dass sie es bemerkte.
Sofort stand er ebenfalls auf. »Warte, ich bin noch nicht fertig. Ich habe bis heute Morgen auch gedacht, dass das nur Steinleitners Spinnereien sind. Aber dann fiel mir etwas ein, was ich bei einem Besuch vor einigen Wochen in Sareiters Bücherregal entdeckte.«
»Lass mich raten: ein Buch mit dem Titel Kindesentführungen für Dummies oder Rache für Einsteiger.«
»Sehr witzig. Nein, Märchenbücher!«
Sie drehte sich nun ganz zu ihm um. »Hör auf mit dem Scheiß. Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich hierher gebracht hast. Das hat mir gutgetan. Ich werde auch bald wieder verschwinden, dir nicht mehr auf die Nerven gehen. Aber komm mir nicht mit so was. Was soll das? Ich bin aus dem Fall raus. Das ist dir als gefühltem Frührentner vielleicht wurscht. Ehrgeiz für die Sache ist bei dir ja nicht mehr vorhanden. Aber mich hat das sehr verletzt. Und ich weiß bis heute, dass ich den Fall gelöst hätte. Nur komme ich jetzt nicht mit so einem Miss-Marple-Scheiß um die Ecke. Märchenbücher! Rache für die tote Frau und so. Du beleidigst meinen Intellekt, du, du … Märchenonkel!«
Quercher fand ihre Wut ungemein sexy. Aber wenn er ihr das jetzt gesagt hätte, wäre sie wohl vollends ausgeflippt. Er brauchte sie. Denn noch hatte er nur eine Ahnung. Eine Spur, die bislang niemand ins Auge gefasst hatte. Auch vielleicht, weil sie so absurd war.
Sie wollte loslaufen. Er hielt sie fest. »Fertig mit der I-will-survive-Nummer, Gloria Gaynor? Dann würde ich wenigstens gern zu Ende reden. Diese Wegrennerei ist echt kindisch.«
Sie blieb stehen und sah ihn auffordernd an.
»Kennst du das Märchen vom Rattenfänger in Hameln?«
»Von!«
»Was?«
»Es heißt Rattenfänger von Hameln, nicht in Hameln.«
»Mir egal, aber dann kennst du es ja.«
Sie nickte. »Ein Mann kommt nach Hameln, verspricht, die Stadt von Ratten zu befreien, wird nicht entlohnt und nimmt daraufhin alle Kinder mit. Zwei kommen wieder. Eines taub, das andere blind. In eine Höhle sollen sie gegangen sein.«
»Genau. Und wer kam gestern wieder?«
Sie verstand nicht.
»Na, der Sohn vom Verleger Welde. Stumm und nicht fähig zu beschreiben, wo er festgehalten worden war.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Kommt da noch etwas? Irgendetwas, was nach Logik riecht, nach Hinweis oder gar Beweis? Andernfalls sollten nach deiner Theorie so ziemlich alle Märchenbuchbesitzer, die von einem der Angehörigen der entführten Kinder geärgert oder verletzt wurden, verdächtig sein. Kein besonders überschaubarer Verdächtigenkreis. Aber vielleicht fragst du bei der NSA an, ob sie dir die Daten zusammenstellt.« Sie trabte los.
Quercher humpelte hinterher. »Julia, jetzt hör doch mal zu.«
»Nein, Max. Jetzt hörst du mir mal zu. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht der bunte Hund vom LKA mit Narrenschutz. Ich habe keinen Pollinger, der auf mich achtgibt. Ich muss mich in wenigen Tagen wieder auf der Leiter nach oben kämpfen. Ich habe kein beschissenes Haus auf einer Insel. Ich muss für mich allein sorgen.« Sie erhöhte das Tempo und nur Lumpi lief mit, während Quercher atemlos innehielt und sich an die Hüfte fasste.
»Und was ist mit Sex?«, rief er ihr hinterher.
Aber sie blieb nicht stehen, sondern hob nur ihren Arm und zeigte ihm den Mittelfinger.
Kapitel 36
Listerhütte, 23. 05., 13:05 Uhr
Noch eine Woche. Dann war alles vorbei. Sie standen am Tor zu einer anderen Welt. Beide konnten ihr altes Leben abstreifen wie einen zu eng gewordenen Mantel und ein neues Leben beginnen. Sie hatte anfangs nicht gewusst, wie sehr diese Geschichte sie verändern würde. Diese letzten Tage würden noch einmal spannend und anstrengend werden. Keine Fehler. Diese Woche war der Höhepunkt. Der Gipfel des Angriffs auf die da unten.
Nummer drei hatte jetzt mehr als zwei Wochen kein Licht gesehen. Kein Sonnenstrahl war auf die Iris getroffen, nicht einmal das Licht einer funzeligen Lampe. Alles war nachtschwarz für Nummer drei.
Sie zog ihren Overall über, setzte ihre Gesichtsmaske auf und öffnete die Luke. Mit vorsichtigen Schritten ging sie in den Keller hinunter. Es roch nach Urin, Schweiß und Angst. Die drei schliefen fest, sonst hätten die Maschinen längst Alarm geschlagen. Sie ging zu Nummer drei, löste die Fixierungen, penibel darauf bedacht, weder Haut noch Stoff zu berühren. Ihre Haare waren kein Problem. Aber der Teufel ist ein Eichhörnchen, sagte sie sich immer, wissend, wie schnell irgendwo etwas hängen bleiben konnte, was Rückschlüsse auf sie zuließ. Sie umfasste den Hals des Kindes. Das musste sie sich gönnen, sie genoss diesen kurzen Moment. Ein Zudrücken, nur wenige Augenblicke lang – und das Leben wäre verflogen. Nicht einmal mehr die Augen hätte Nummer drei noch geöffnet.
Mit einem Rest an Verstand griff sie mit der rechten Hand nach der linken und zog sie vom Hals weg. Sie schnaufte. Hob den Körper hoch, vorsichtig bemüht, dass die Augenmaske des Kindes nicht verrutschte. Sie hatte Klebeband vorgeschlagen, aber er meinte, dass der Kleber Spuren hinterlassen würde und so wieder ein Hinweis sei. Als sie die Nummer drei hinaus an die frische Luft trug, strömte ein warmer Wind vom Gipfel herunter über die Wiese zur Hütte, kräuselte das Wasser im Holztrog und nahm den Duft der Gräser mit. Sie schmiss das Kind mit einem Schwung auf die Pritsche des Wagens.
Sie zog die Plane über die Ladefläche, ging zurück in die Hütte und warf die Luke wieder in das Schloss. Dann zog sie die Tracht an. Das Tal würde Besuch bekommen. Und der Besuch hatte ein Geschenk dabei.
Kapitel 37
Rottach-Egern, 23. 05., 16:45 Uhr
Die Eventhalle lag am südöstlichen Zipfel des Sees. Hier würden heute Abend mehr als zweitausend Menschen zu seiner Veranstaltung kommen. Er hatte bewusst diesen Ort für die Gründung der Partei gewählt. Denn es war der Ort der entführten Kinder. An diesem Fall wollte er exemplarisch die Inkompetenz der juristischen und polizeilichen Strukturen beschreiben.
Sareiter hatte jetzt drei Wochen lang Deutschland bereist und Lesungen gehalten, die dank seines Präsentationstalents und seiner geschliffenen Sprache den Charakter von Taufmessen in Brasilien besaßen. Er war in Talkshows, Diskussionsrunden und Konferenzen aufgetreten, hatte sich gestritten und konnte mit seiner Wut gegen linke Sozialromantik und verfilzte Bürokratie jeden Abend neue Mitglieder für die Partei gewinnen. Schon jetzt lagen ihm über sechzigtausend Mitgliedsanträge vor. Mit seiner vorausschauenden Art hatte er Personal aus anderen Parteien abgeworben und sein eigenes Team frühzeitig zusammengestellt, sodass Chaos vermieden und sein Zeitplan eingehalten werden konnte.
Er sah auf sein Handy. Wann kam diese verdammte SMS? Draußen heulten plötzlich Polizeisirenen auf. Der Stress der letzten Wochen hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Wenig Schlaf und permanente Aufmerksamkeit forderten ihren Tribut. Er stand in der noch leeren Halle und trank einen Ingwertee. Während Angestellte Stuhlreihen aufbauten, den Boden reinigten und umtriebig um Sareiter herumwerkelten, trat eine ältere Dame auf ihn zu.
»Herr Sareiter, mein Name ist Inge Krabbe. Ich würde Sie gern zwei wichtigen Befürwortern Ihrer Ideen vorstellen.« Die Frau mit den kurzen blonden Haaren im Garconschnitt trug ein grünes Kostüm aus grobem Stoff, das knapp die Knie bedeckte. Hohe Stiefel reichten über die Waden.
Klassische Kampfrüstung, dachte Sareiter. Er war solche Kontaktaufnahmen in letzter Zeit gewohnt. Entweder waren es reiche Eigenbrötler, die sich mit seinen Zielen zuerst identifizierten, dann aber gern »noch bessere Ideen wie die Todesstrafe« einbringen wollten. Dafür waren sie auch bereit, einen hohen Spendenbetrag zu überweisen. Oder es kamen welche, die wilde Verschwörungstheorien formulierten. Diese Dame roch jedoch etwas anders.
»Gern, aber ich muss noch an meiner Rede arbeiten. Geht es auch ganz kurz?«
Sie nickte, lächelte und zeigte mit dem Finger zu einem Seitenausgang, der auf einen Parkplatz führte. Er folgte ihr. Ihm war ein wenig unbehaglich zumute, aber dennoch wollte er keine Schwäche zeigen. Was, wenn ihm ein politischer Gegner …
In diesem Moment erhielt er einen Schlag in den Nacken. Der Schmerz war atemberaubend. Er fiel nach vorn, suchte Halt, fiel in eine Pfütze. Wieder ein Schlag. Jemand übergoss ihn mit einer roten Flüssigkeit, die stank und sofort in seine Augen lief. Es brannte. Er versuchte verzweifelt, sich aufzuraffen. Aber wieder trafen ihn Schläge und Tritte. Der letzte schenkte ihm die gnädige Bewusstlosigkeit.
Nicht mehr als zehn Minuten konnte er dort gelegen haben. Vorbeischlendernde Handwerker, die ihn sahen, riefen die Polizei und Sanitäter.
Es war ein Überfall, so viel stand kurze Zeit später fest. Die Internetseite der Partei war zudem gehackt worden, ein Bekennerbanner hatte sich über die Startseite gesetzt. Dort hieß es, man habe sich erstmals gegen den neuen reaktionär-faschistischen Populisten Sareiter zu Wehr gesetzt. Man wolle nicht mehr tatenlos zusehen, wie er und seine Gefolgsleute ungestraft Stimmung gegen Migranten, junge Delinquenten und liberale Rechtsstaatlichkeit machten. Ab heute sei Krieg, hieß es am Schluss von der bis dato unbekannten Gruppe Aktion gegen Populismus aus Bielefeld.
Sareiter erlitt Prellungen, Schürfwunden und Verstauchungen. Sein Gesicht war stark lädiert. Aber mit Schmerzmitteln und dem Wissen um die Kraft der Bilder würde er am Abend ungewaschen auf die Bühne treten. Zweitausend Zuschauer würden ihm frenetisch zujubeln, und da die Veranstaltung zudem zeitgleich live im Internet übertragen wurde, kämen noch ein paar Millionen Zuschauer hinzu. Besser hätten die jungen Revolutionäre Markus Sareiter nicht helfen können.
Kapitel 38
Bad Wiessee, 23. 05., 16:55 Uhr
Arzu war sofort Feuer und Flamme. Hätte Quercher erzählt, dem wahren Kennedy-Mörder auf der Spur zu sein, sie wäre genauso ernsthaft mit ihm in die Ermittlungen eingestiegen. Er beschützte sie, er und Pollinger. Und so wie Quercher ihr wie ein älterer Bruder war, empfand sie Pollinger als einen milden Ersatzvater. Pollinger liebte im Gegensatz zu Quercher auch ihren Sohn. Er konnte sich an dem kleinen Wurm, wie er ihn nannte, kaum sattsehen.
Tatsächlich hatten die Behandlungen, aber auch die Erholung von der Arbeit Pollingers Gesundheitszustand verbessert. Pollinger selbst allerdings schwor noch immer auf das Heilwasser. Der alte Mann nutzte jede Gelegenheit, zwischen den Behandlungen zu Quercher zu gehen, wo er ihn an der Tür meist mit einem kurzen Gruß abfertigte und sofort weiter zur Wiege von Max Ali schlenderte. Sobald das zerknautschte Gesicht von Querchers Chef über dem Baby erschien, hörte der Kleine auf zu schreien. Der alte Kriminalbeamte ließ einen dauerhaften Brummton aus den Tiefen seines Leibes erklingen und Max Ali lächelte sofort. Nur bei einem einzigen anderen Wesen erzielte Pollinger einen ähnlichen Effekt: bei Lumpi. Wenn Pollinger vorbeikam, nahm er zunächst den Kleinen, brummte vor sich hin, setzte sich aufs Sofa und rief leise nach Lumpi. Die Hündin hüpfte neben ihn, drückte sich an seinen Körper und senkte dann langsam die Augenlider. Erst schlief der Hund ein, dann das Baby und kurz danach Pollinger. Fanden das die Mutter und Julia erst kurios, gewöhnten sie sich schnell an dieses Ritual. Pollinger garantierte den Restbewohnern des Hauses mindestens eine Stunde völlige Ruhe.
So konnte Arzu jetzt auch Querchers Ausführungen auf der Terrasse hören, ohne einen Blick auf ihr Kind werfen zu müssen.
»Wir müssen außerordentlich vorsichtig vorgehen. Klar, ich muss dir nicht sagen, dass wir keinen offiziellen Ermittlungsauftrag haben. Aber mich interessieren Sareiter und sein Hintergrund. Vielleicht fällt dir was ein, wie wir uns ein paar Informationen verschaffen, ohne …« Er sah Arzu sehr ernsthaft an. »… viel Wind zu machen. Schön leise und diskret. Der Mann ist vermutlich sowieso unter Beobachtung der üblichen staatlichen Stellen. Dazu ärgert er das politische Establishment in Bayern zu sehr.« Quercher sah durch die geschlossenen Fenster zu Pollinger, der genau für dieses System stand, aber im Wohnzimmer friedlich vor sich hin schnarchte.
»Gut, in einem Punkt muss ich Julia recht geben. Die Märchennummer ist nicht wirklich ein Spitzenhinweis. Ich bin jetzt nicht so im Rapunzelthema drin …«
»Es ist der Rattenfänger. Der Rattenfänger von Hameln.«
»Ich stelle mir gerade bildlich den Ermittlungsrichter vor, der den Haftbefehl für Sareiter ausstellen soll. ›Euer Ehren, der Mann wird dringend verdächtigt, nach den Vorgaben der Gebrüder Grimm ein übles Verbrechen …‹«
»Arzu, verschone mich damit. Mir kommt es einfach komisch vor, dass ausgerechnet dann vier Kinder entführt werden, während der feine Herr Sareiter seine Hardlinerkampagne fährt. Mehr ist es nicht. Vergiss die Märchennummer. Ich will einfach wissen, was Markus in den Jahren gemacht hat, als er untergetaucht war. Und wer heute so mit ihm zusammenarbeitet. Ich will mehr über seinen letzten Fall als Rechtsanwalt wissen. Alles eben, was uns ein besseres Bild von ihm verschafft. Die Zeit drängt nicht. Es sieht ja nicht gerade nach Fluchtgefahr aus bei dem Herrn Freizeitpolitiker. Der will ja ganz groß hinaus.« Quercher merkte, dass Arzus anfängliche Begeisterung für den Fall zu erlahmen drohte. Er sah sie aufmunternd an. »Vielleicht schauen wir uns erst mal die möglichen Motive der Entführer an. Erstens: ein Triebtäter, der mit den Ermittlern und den Opfern spielen will. Ist dir irgendein Fall bekannt, wo ein Sexualstraftäter eine derart durchdachte Tat begeht? Nein. Selbst wenn es sich um eine Gruppe handelt, ist so ein perfides Spiel nicht bekannt. Es setzt eine lange Beobachtung des Tatorts, der möglichen Opfer, der Unterbringung der Opfer und der ganzen scheinbaren Hinweise voraus. Also unwahrscheinlich. Zweitens: eine Entführung, um etwas zu erpressen. Selbst bei den dümmsten Kriminellen hat sich herumgesprochen, dass sich Entführungen selten lohnen. Zu groß ist der Ermittlungsdruck, zu groß die Wahrscheinlichkeit, bei der Geldübergabe beschattet und entdeckt zu werden. Drittens: Rache. Kein Trieb hindert den Täter. Geld spielt eine untergeordnete Rolle. Er kann die Kinder lebend, aber genauso gut auch tot zurückgeben. Rache ist ein sehr langlebiges Gefühl, das kann man noch Jahre später auskosten. Und jetzt frag mich noch einmal, warum ich auf Sareiter komme. Sareiter kennt sich am Tatort aus. Er wohnte nicht weit von hier. Er ist zumindest einem Menschen gegenüber, nämlich dem Großvater der kleinen von Homstein, sehr von Rachegefühlen erfüllt.«
Arzu wiegte den Kopf. »Also, nehmen wir einmal an, Sareiter lässt tatsächlich Kinder entführen, um sie mehr oder weniger halbwegs gesund nacheinander wieder freizulassen. Der Mann ist pausenlos unterwegs. Wie sollte er das denn steuern?«
Quercher atmete tief ein. Da war die Lücke in seiner Theorie. Sareiter musste Komplizen haben. Und wenn einer kein Teamplayer war, dann Sareiter. Nicht umsonst war er Anwalt geworden. Er wollte immer und stets allein glänzen. Und niemals hätte er sich mit gewöhnlichen Kriminellen abgegeben. Aber andererseits hatte er mit seiner Frau ein alternatives Projekt für Jugendstrafgefangene in Holzkirchen aufgezogen. Das war schon lange her, aber zumindest hatte er damals und auch in seiner Zeit als Strafverteidiger genug Kontakt zu dieser Klientel gehabt.
Arzu bemerkte seine Unsicherheit. »Deine Theorie hat Löcher groß wie Scheunentore. Warum ist keiner aus der SoKo Ostin bei der Überprüfung der Angehörigen auf diese Spur gekommen?«, fragte sie.
»Du fragst die Eltern. Vielleicht noch die Geschwister der Eltern. Aber mal ehrlich, wer kommt denn auf so eine Spur …«
»… außer dem Instinktbullen Quercher?«, spottete Arzu.
»Wir brauchen etwas mehr Informationen aus seiner Zeit als Anwalt«, ignorierte Quercher Arzus Stichelei. »Vielleicht liegt da ja der Schlüssel. Außerdem wüsste ich gern, mit wem er so telefoniert. Auch das bitte diskret!«
Arzu schmunzelte. Quercher ahnte, dass sie längst einen Plan ausheckte, dessen Details er lieber nicht wissen wollte. Arzu Nishali nahm es mit dem Datenschutz nicht sehr genau. Das war noch freundlich formuliert.
»Ich werde mich noch einmal mit dem Unfall seiner Frau beschäftigen. Ich glaube, dass uns da mein alter Freund Appel weiterhelfen kann. Der war damals als Rettungsarzt vor Ort. Das zumindest sagte mir Steinleitner.«
Arzu sah zu Pollinger, der sich kurz schlaftrunken und etwas desorientiert umsah, dann aber wieder die Augen schloss. »Nur eins will ich wissen: Was reizt dich daran? Bist du genervt, dass sie dich von diesem Kläranlagenselbstmord abgezogen haben?«
Quercher streckte sich, trank langsam aus seiner Teetasse und schwieg. Irgendwo knallte es zweimal. Es klang für Quercher wie Schüsse. Berufskrankheit, dachte er. Vermutlich Jäger, die in der beginnenden Abenddämmerung oben in den Bergen auf Wild geschossen hatten.
»Versteh mich nicht falsch, Max. Ich mach alles für dich. Das weißt du. Aber du hast echt wenig in der Hand. Und noch vor einigen Wochen warst du nur scharf darauf, von dem Fall nicht mehr als nötig mitzubekommen.«
Er atmete durch. Polizeisirenen hallten durch das Tal. Sollte er ihr erzählen, wie er Andreas, den kleinen Freund von Mathilde, wiedergetroffen hatte? Jenen Jungen, den er am See in Kaltenbrunn aufgegriffen hatte? Vor ein paar Tagen war der Kleine an der Aral-Tankstelle im Ort zwischen den Autos auf ihn zugelaufen, hatte ihn umarmt und geweint. Mehr nicht. Nicht dass Quercher so etwas umwarf. Aber dann hatte Andreas ihn angesehen und ihn gebeten, ihm seine Freundin endlich wiederzugeben. Seine Mutter hätte ihm erzählt, dass Quercher ein Held sei und so etwas könne.
Er hatte die letzten Tage erst richtig gespürt, wie ein solcher Fall, den er sonst routinemäßig behandelt hätte, eine ganze Region komplett verändern konnte. Gerade jetzt, wo er sich in Bad Wiessee wieder ein wenig heimisch fühlte. Natürlich waren Arzu und das Kind, Julia und jetzt auch der alte Pollinger eine Belastung für den nach Einsamkeit gierenden Quercher. Aber diese Lebensumstände waren andererseits herrlich zusammengeschustert. Nicht nach Plan. Eine Idylle mit vielen Ecken und Kanten. Ihm gefiel das. Und was hinzukam, er aber niemals offen aussprechen würde: Ihm gefiel Julia.
Immer mehr Polizeisirenen waren zu hören.
Pollinger stand mit dem Kleinen im Arm in der Tür zur Terrasse. »Mir wäre nach Kuchen – und dem jungen Mann hier nach Milch, glaube ich.«
Arzu erhob sich und streckte die Hände nach ihrem Sohn aus.
»Bevor ihr zwei Privatermittler den neuen Politstar auf illegale Art und Weise durchleuchtet, gebe ich ein wenig Futter. Drinnen auf dem Sofatisch liegt eine umfangreiche Dateisammlung über Sareiter.«
Quercher sah den Alten mit großen Augen an.
Pollinger deutete auf die Klappe, die für Lumpi in der Tür eingefasst worden war. Sie stand offen. Pollinger hatte eine Spielzeuguhr aus Stoff hineingeschoben und so das Gespräch der beiden munter mitverfolgt. »Ich hatte Magenkrebs, keinen Hörsturz. Und wenn ich es höre, hören es andere vielleicht auch. Also seid das nächste Mal bitte etwas diskreter.«
»Und wer hat deine Privatdateiensammlung zusammengestellt?«, fragte Quercher, wohl wissend, dass einer wie Pollinger niemals seine Quellen verraten würde.
»Ihr seid nicht die Einzigen, die sich um den Anwalt kümmern. Er ist auch bei anderen auf dem Radar erschienen.«
Quercher ahnte, dass politische Kreise in München und Berlin ihre Finger im Spiel hatten. Er würde mit der Quellenlage vorsichtig umgehen müssen.
Während er aufstand, klingelten sowohl sein als auch Arzus Handy. Zudem tönte auch noch das Festnetztelefon im Wohnzimmer.
Sofort begann Max Ali zu schreien.
Quercher verdrehte die Augen. Er nahm ab. »Anke? Was ist denn? Hier klingelt es gerade Sturm. – Wer? Die kleine Mathilde? – Soll ich kommen? – Ja, okay. Klar, wir fahren sofort los.«
Er legte auf und sah Arzu, die den Kleinen gerade an ihre Brust gelegt hatte, und Pollinger mit aufgerissenen Augen an. »Eines blind, das andere stumm. Wie im Märchen. Dieses verdammte Arschloch!«
Kapitel 39
Bad Wiessee, 23. 05., 16:51 Uhr
Es war lediglich eine große Gruppe, die sich auf dem Parkplatz vor der Turnhalle eingefunden hatte, keine Demonstration. Die Beamten konnten vielleicht hundert Väter und Mütter mit ihren Kindern sehen. Viele trugen die örtliche Tracht der Schalkfrauen, andere hatten nur ihre Alltagskleidung an. Der Anlass war das Entscheidende, hatte Maria Strasser, die Initiatorin, gesagt. Der Bayerische Rundfunk war mit einem Kamerateam erschienen, auch Vertreter der Printpresse waren zugegen. Hier hatte Welde senior seinen Einfluss geltend gemacht. Am Abend würde er auf dem Podium neben Sareiter in Rottach-Egern stehen. Jetzt war er noch bei seinem Sohn im Klinikum. Aber Weldes Frau war erschienen, groß, blond, mit einem kurzen Rock, High Heels mit lippenroten Sohlen. Ein wenig zu overdressed für den Anlass, wie einige Mütter leise zischten.
Autofahrer hätten glauben können, dass es sich um den Beginn einer Klassenfahrt handelte. Aber die vielen Polizisten, die zum Schutz der Gruppe und sicher auch zum Schutz des Lagezentrums herumstanden, durchkreuzten diesen Eindruck.
Maria Strasser hatte sich im letzten Augenblick etwas, wie sie fand, Spektakuläres ausgedacht. Aus dem örtlichen Blasmusikchor war ein Basstrommler gekommen. Fünfundzwanzig Tage waren seit der Entführung inzwischen vergangen. Und so schlug der junge Mann mit den vielen Pickeln auf den Wangen fünfundzwanzigmal auf seine Trommel, so laut er konnte. Dann las eine Mutter den Namen eines der verschwundenen Kinder vor, nannte das Alter, die Namen der Eltern, der Geschwister. Danach folgte eine Pause. Und wieder wurde getrommelt und ein weiterer Name verlesen. Das wollte man mehrfach wiederholen. Danach würde man sich schweigend trennen und morgen wieder zusammenfinden.
Julia stand ein wenig abseits. Damit sie die Kollegen, die sie kannten, nicht unbedingt sahen. Die Gegensätze stachen ihr förmlich in die Augen. Einerseits diese Idylle ringsherum: Bergwälder, ein im Licht der Sonne schimmernder See, das gegenüberliegende Seeufer glühte in Goldgelb. Und andererseits der krasse Kontrapunkt: Eltern, die das Grauen in die Öffentlichkeit tragen wollten. Die nicht still abwarten wollten, bis ein traurig schauender Polizeichef im Blitzlichtgewitter das eigene Versagen auf irgendetwas Schicksalhaftes schieben würde. Die sich bemerkbar machen wollten.
Julia kannte das nur zu gut. Die Bilder von einem Tatort, an dem ein Mensch zu Tode gekommen war. Die kleinen Grableuchten, die Teddybären, die Briefe der Geschwister, nach wenigen Tagen eingeweicht vom Regen und dann von einem Bauhofmitarbeiter frühmorgens, wenn es keiner sah, heimlich entsorgt.
Sie lehnte an der Mauer und schaute in ihr Smartphone. Sie musste diese Gedanken vertreiben. In einer Woche wollte sie wieder in der Maillingerstraße beim LKA anfangen. Sie brauchte die Arbeit, etwas, was ein Gerüst war.
Als Julia ihren Blick gedankenverloren in Richtung See wandte, fiel ihr das Mächen auf, das in dem Gewusel von Menschen keiner wahrzunehmen schien. Es trug einen weißen Overall. Julia sah genauer hin. Das Mädchen saß auf einem grünen Campingstuhl mit Holzarmlehnen. Das war schon seltsam. Aber was sie am meisten irritierte: Das Kind trug eine Augenbinde!
Jetzt hatte auch einer der Polizisten, die auf der anderen Straßenseite die Besucher der Mahnwache zurückhielten, das Mädchen entdeckt. Er rief seinem Kollegen etwas zu und wollte die Straße queren, als ein Lkw ihm den Weg versperrte. Es waren nur wenige Sekunden. Aber genau jetzt verstand Julia.
Das Mädchen. Die Augenbinde. Der weiße Overall. Sie stieß sich von der Mauer ab und rannte los.
»Nicht anfassen!«, schrie sie.
Der Lkw war vorbeigefahren. Dicht dahinter folgte ein weiterer Transporter. Dennoch machte der Polizist einen Schritt auf die Straße.
Kind – kein Licht – Absicht der Entführer – Polizist nimmt Augenbinde ab – Kind wird blind.
Das waren die Gedanken, die ihr in den Kopf schossen. Julia war schon fast auf der Höhe des Polizisten und rief ihm ihren Namen zu. Nur sah sie nicht nach rechts, wo ein Rentner mit seiner Frau im Schritttempo fuhr. Julia konnte noch springen, prallte auf die Kühlerhaube, wurde nach vorn geschleudert und blieb am Bürgersteigrand hängen – einen Meter vom Stuhl mit dem Mädchen entfernt. Jemand schrie. Ihr Rücken schmerzte. Neben ihr standen zwei Beine. Sie sah hinauf, erkannte, dass der Polizist das Mädchen anfassen wollte, und schlug dem Kollegen mit aller Kraft in die Kniekehlen. Der sackte zusammen, griff nach ihr.
Sie schrie. »Lass los, ich bin eine Kollegin, verdammt! Auf gar keinen Fall das Kind anfassen. NICHT!«
Sie griff in ihre Jackentasche, um ihren Dienstausweis zu zeigen. Der Polizist reagierte sofort und zog seine Waffe. Sie warf ihm ihren Ausweis vor die Füße, während sie beschwichtigend auf den Kollegen einredete. Der steckte nach endlosen Sekunden die Waffe wieder weg, reichte ihr die Hand und half ihr auf die Beine.
Hinter ihnen kamen immer mehr Menschen über die Straße gelaufen. Der Rentner, der mittlerweile aus dem Auto gestiegen war, schrie wütend, was aber gerade keinen kümmerte.
Julia erklärte in schnellen Worten, wer das Mädchen sein könnte und dass auf gar keinen Fall jemand das Kind anfassen sollte. Und tatsächlich stellten sich drei der Polizisten wie ein Wall um den Campingstuhl.
»Einen Arzt, schnell!«, rief sie, als der Rentner sie von hinten unsanft an der Schulter packte.
»He, Sie haben mein Auto kaputt gemacht. Das bezahlen Sie.«
Es lag am Adrenalin, das wegen des Sturzes und der Aufregung noch durch ihren Körper strömte. Sie drehte sich ruckartig um, packte den Alten am Hals und stieß ihn in Richtung seines Autos. »Geh da jetzt wieder rein und stirb. Du nervst, Opa.«
»Hallo?« Das Mädchen schien wach zu werden.
Die Straße war komplett blockiert von Demonstranten, Polizisten, die hilflos versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen, und Passanten, die wissen wollten, was geschehen war.
Jemand schrie laut auf. Julia drehte sich um und sah einen breitschultrigen Mann, der sich mit aller Gewalt einen Weg durch die Menge bahnte. Es war der Vater des Mädchens. Der Vater von Mathilde Baumschneider, die ihm fünfundzwanzig Tage lang einfach weggenommen worden war.
Quercher hatte Julia geholfen, aus dem Rettungswagen zu steigen. Sie wollte in kein Krankenhaus, sondern fühlte sich noch in der Lage, zu Querchers Freund, Dr. Appel, zu fahren. Dort saß Quercher nun mit ihr im Behandlungsraum, während sich Appel die Röntgenbilder ansah, auf die er bestanden hatte.
»Alles okay, es scheinen nur Prellungen und Abschürfungen zu sein. Glück gehabt, Julia. Beim Quercher wäre jetzt alles kaputt.«
Der verzog angesäuert das Gesicht. Aus irgendeinem Grund lief es nicht richtig rund für ihn. Denn statt Mitleid für seine kranke Hüfte erntete er von seinem Umfeld nur Spott.
»Du hast jedenfalls intuitiv richtig gehandelt. Das war sehr klug von dir, Julia«, lobte Appel, während er auf den Schürfwunden eine rote Flüssigkeit verschmierte.
»Was hätte mit Mathilde passieren können, wenn sie Licht gesehen hätte, Manfred?«
»Komplette Erblindung. Wenn man aus vollkommener Dunkelheit ungeschützt ins grelle Licht tritt, wird man geblendet. Das kennt ihr.«
Julia zog sich ihren Pullover wieder über, der an mehreren Stellen große Löcher von ihrem Unfall aufwies. So sah sie fast noch besser aus, fand Quercher.
»Hauptgrund dafür ist eine massive starke Überreizung der sogenannten Ganglienzellen der Netzhaut. Wenn die Entführer das Mädchen nur immer mal wieder im Dunklen eingesperrt haben, sieht das nicht so schlimm aus. Dann adaptiert sich das Auge nach etwa einer halben Stunde an die neuen Lichtverhältnisse. Aber sollte das Mädchen sehr lange im Dunklen gewesen sein, wäre sie, wie gesagt, höchstwahrscheinlich sofort erblindet.«
»Und sollte Mathilde lange Zeit im Dunklen verbracht haben, wird sie auch nicht viel dazu sagen können, wo und wie sie untergebracht war«, seufzte Julia.
Appel schüttelte den Kopf, während er sich die Hände wusch. »Bei längerem absolutem Lichtmangel kommt es außerdem zu einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus und neben der zeitlichen auch noch zu einer räumlichen Desorientierung.«
»Kann man das therapeutisch wiederherstellen?«
»Du meinst, mit Hypnose und anderem Firlefanz?«, antwortete Appel spöttisch. Er war kein Freund alternativer Ansätze. »Drei Wochen in völliger Dunkelheit wären eine echte Katastrophe, denn vor allem bei jüngeren Kindern können Rachitissymptome auftreten. Das sind juckender Hautausschlag, Unruhe und Schwitzen. Das verminderte Kalzium bewirkt eine gesteigerte Erregbarkeit der Muskeln, bis hin zu sehr starken generalisierten Krämpfen. Von Spätfolgen wie Knochenerkrankungen und natürlich auch den psychischen Belastungen und Traumata will ich gar nicht erst sprechen.«
»Äußerlich machte sie, so sagte es zumindest der Rettungsarzt, einen wenig verwahrlosten Eindruck«, wandte Quercher ein.
»Na ja, das ist auch ein Hinweis. Wer immer so etwas tut, in so einer professionell ausgeführten Art und Weise, muss einen medizinischen, ich gehe sogar so weit zu sagen, einen kinderärztlichen Hintergrund haben. Sonst sterben die dir ganz schnell weg. Das sind keine Erwachsenen, die viel über ihren Willen steuern können. Wer diese Kinder sediert hat, muss sich extrem gut mit Beruhigungsmitteln auskennen. Aber das kann euch wohl wurscht sein. Ihr habt mit dem Fall ja nichts mehr zu tun.«
»Ist es möglich, Zustände wie Stummsein und Blindheit willentlich mit Medikamenten zu erzeugen?«, fragte Julia.
Appel wiegte den Kopf. »Das vielleicht nicht. Aber beides kann als Nebenwirkung auftreten. Und wer das schon einmal im klinischen Bereich erlebt hat, wird wissen, mit welcher Dosis diese Nebenwirkungen zu erzeugen sind.«
Er schrieb für Julia ein Rezept, das sie in der Apotheke direkt unter seiner Praxis einlösen sollte. »Die haben das vorrätig.«
Quercher blickte Julia fragend an. »Bist du okay? Ich würde mit Manfred gern noch ein Männerproblem besprechen«, grinste er.
Julia verstand. »Ich warte am Wagen. Aber Orthopäden sind keine Urologen, Max, das weißt du schon?«
Quercher zog eine Grimasse und wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ihr scheint euch zu mögen«, stellte Appel lakonisch fest. »Habt ihr Sex?«
»Nein. Ja. Also – äh, hatten wir. Jetzt nicht mehr. Aber schön, dass du nachfragst.«
»Was sollte die Bemerkung mit dem Urologen? Bekommst du keine Erektion mehr? Ich habe dir gesagt, lass die Finger von jüngeren Frauen, die fordern dich zu sehr. Das stresst dich. Erst recht mit der Hüfte.«
»Himmel, lass mich mit meiner Hüfte in Ruhe! Es passt schon noch alles.«
Appel lächelte. »Sieht sie aber anscheinend anders. Kommst du zu früh?«
»Manfred!«
»Kollege Ernst, vom anderen Ende des Ortes, empfiehlt Vakuumpumpen, sehr diskret. So etwas muss heute keinen Mann mehr belasten.«
Quercher brauchte dringend einen Themenwechsel. Er war zu jung für Altherrenhumor und solche Probleme. Und er wollte von Appel mehr über die Hintergründe des Unfalls von Sareiters Frau erfahren. Schließlich konnte er nicht einfach so bei seinen Kollegen der Polizeidienststelle Bad Wiessee erscheinen und nachfragen.
»Okay, Manfred. Was sagt dir der Unfall von Markus Sareiters Frau vor einigen Jahren?«
Appel sah ihn fragend an. »Puh, das ist lange her. Ich war noch Rettungsarzt, ehrenamtlich, wie du weißt.«
»Ja, bekommst von mir auch ein Sternchen. Heute gehst du allerdings stattdessen segeln.«
Appel setzte sich hinter seinen Schreibtisch und versuchte sich zu erinnern. »Das war im Winter oder Spätherbst. Schlimmes Wetter jedenfalls. Wir kamen kurz vor Sonnenaufgang an den Unfallort. Ein Bauer hatte uns gerufen. Ich war todmüde, aber hellwach, als ich die Frau sah. Warte, ich such sie in meinem System. Der Eintrag wird noch drin sein.«
Er tippte sich an seinem Computer durch seine Patientendatei, wo er auch seine Rettungseinsätze dokumentiert hatte. »Ah, da! Warte … Also, die Frau hing, das weiß ich noch, kopfüber in ihrem Gurt. Und wenn man kopfüber hängt, werden bis zu zwei Liter Blut in den Kopf verlagert, was den Blutdruck gefährlich erhöhen kann. Vor allem Menschen mit ohnehin erhöhtem Blutdruck können dabei Schlaganfälle oder Hirnblutungen erleiden. All dies kann – je nach Schweregrad – letal enden. Das war hier der Fall.«
»Sie war schwanger und mit ihrem Tod starb auch das Kind«, ergänzte Quercher.
»Aber nein. Durch die Umverteilung des Blutes beim Kopfüberhängen wird bei Schwangeren die Plazenta vermindert durchblutet. Das kann zu einer vorzeitigen Plazentalösung und einem Spontanabort führen. Oder, wenn die Minderdurchblutung zunächst noch teilweise kompensiert werden kann, zum intrauterinen Fruchttod.«
Quercher hasste es, wenn Appel sich in seinen medizinischen Fachbegriffen suhlte. »Man kann doch so was auch einfach erklären, oder, Manfred?«
Appel schaute pikiert. »Natürlich stirbt auch das Kind nach dem Tod der Mutter. Aber hier lag ein sogenanntes HELLP-Syndrom vor. Dies ist eine weitgehend unklare Komplikation ab dem sechsten Monat mit erhöhten Leberwerten und einem reduzierten Blutplättchengehalt. Das Ganze führt zudem zu einer verstärkten Blutungsneigung. HELLP wird häufig erst spät erkannt und führt oft zu irreversiblen Durchblutungsstörungen von Plazenta und Fötus. Risikofaktoren sind Diabetes und Rauchen. Und die gute Frau hat ein nicht erkanntes Zuckerproblem gehabt. Kurz und für dich schlichten Geist gesagt: Das Kind war schon vorher tot, weil falsch diagnostiziert wurde. Die Frau trug eine tote Leibesfrucht mit sich herum.«
»Das muss doch dann später beim Prozess gegen die Jungs, die den Unfall verursacht haben, eine Rolle gespielt haben?«
Appel nickte. »Natürlich. Die Gutachterin von der Rechtsmedizin konnte das nach einer Obduktion einwandfrei feststellen.«
»Das wird Sareiter etwas anders gesehen haben. Denn so sind es ja ›nur‹ ein Unfall mit Fahrerflucht, unterlassene Hilfeleistung und der Raub der Handtasche gewesen.«
»Na ja, das mit der Handtasche war merkwürdig, wenn ich mich recht erinnere.«
»Wieso?«, fragte Quercher.
»Der Sareiter hatte angegeben, dass sie fehlte. Die Jungs haben das auf Anraten ihres Anwalts aber nie zugegeben. Irgendwann fand man die Handtasche in einem Mülleimer in Rottach-Egern. Es spielte aber für den Prozessausgang kaum eine Rolle. Das Gutachten von der … verdammt, wie hieß sie noch? … Also jedenfalls, das Gutachten war entscheidend.« Er suchte im Internet nach dem Namen der Gutachterin. »Mist, wie heißt sie bloß? Heute praktiziert sie drüben in Tegernsee, direkt neben dem Rathaus. Die ist doch die Schwiegertochter von meinem Lions-Freund.«
»Aha, klar, dass du in dem Verein jetzt auch mitmachst.«
»Ja und? Ich werde sogar im nächsten Jahr die Präsidentschaft übernehmen.«
»Und danach die Weltherrschaft?«
Appel erhob sich. »Im Gegensatz zu dir muss ich mir immer noch Überbeine und gerissene Menisken anschauen. Noch Fragen?«
Quercher stand mit einem leichten Stöhnen auf und humpelte Richtung Ausgang, während Appel schon im nächsten Behandlungszimmer verschwand.
Plötzlich wurde die Tür noch einmal aufgerissen und Appel rief quer durch den Warteraum: »Luise Lausinger hieß sie! Aber sie hat mittlerweile geheiratet. Jetzt ist sie eine von Homstein. Das ist die Mutter von der …«
Quercher hob eilig die Hand und legte beschwörend den Finger auf den Mund. Appel zuckte gleichgültig mit den Schultern und warf die Tür wieder ins Schloss.
Kapitel 40
München, 23. 05., 20:54 Uhr
»Sie können jetzt zu Ihrem Kind.«
Josef Baumschneider ging jeden Tag mit Metall um. Er bog es, schlug darauf ein, schnitt es oder riss es ab. Seine Unterarme waren gewaltig. Umso erstaunlicher war es, wie er seine schwieligen, von alten und neuen Narben zerfurchten Finger über die Wange seiner Tochter führte. Seine Frau hatte sich auf die Bettkante gesetzt. Die Jalousien waren heruntergezogen. Die Schwestern hatten hastig UV-Lampen besorgt, sodass der Raum in ein bläuliches Licht getaucht war.
Mathilde war kurze Zeit später aufgewacht. Die Ärzte hatten das Blut des Mädchens analysiert und Rückstände von Beruhigungsmitteln gefunden. Das Kind war die letzten Wochen wohl künstlich ernährt worden, so wie Lukas, der Sohn des Verlegers. Und wie man es auch mit Komapatienten auf der Intensivstation des Krankenhauses Großhadern machte.
Trotz der Strapazen konnte Mathilde schon wieder sprechen. Draußen wartete bereits Gaugenrieder mit psychologisch geschulten Kollegen, die sanft die ersten Fragen stellen wollten. Aber jetzt gehörte Mathilde erst einmal den Eltern. Und sie berichteten Mathilde leise, was in den letzten Wochen passiert war. Erzählten davon, was die Katze, die Mathilde so liebte, alles angestellt hatte. Und von ihrem kleinen Bruder, der sich freute, sie wiederzusehen. Es waren Familiengeschichten, die sich wie eine warme Wolke um Mathilde legten. Die Eltern spürten, dass Wochen und Monate vergehen würden, ehe der Horror aus ihrem Kopf weichen konnte. Aber die Eltern waren da. Das reichte.
Langsam verstrichen die Minuten, bevor die Eltern sich wieder losreißen konnten.
Sepp und Jutta Baumschneider waren mit zwei Autos gekommen. Denn die drei Wochen der Entführung hatten auch sie verändert. Hatten sie sich in den ersten Tagen noch gegenseitig gestützt, kam der erste Streit in der zweiten Woche auf. Denn ursprünglich hatte der Vater zugesagt, Mathilde und die anderen Kinder in den Klettergarten von Ostin zu begleiten. Noch am Abend vor der Entführung hatte er seiner Frau versprochen, bei der Gruppe zu bleiben. Aber als er mit seiner Tochter am Morgen schon im Auto gesessen hatte, wurde er von einem Kundenanruf überrascht. Er solle doch bitte sofort kommen, man sei unzufrieden mit der Arbeit seiner Angestellten. Ohne es seiner Frau zu erzählen, hatte er Mathilde der nicht weit von ihnen entfernt wohnenden Gundel Viervogel übergeben. Nach einer Woche war es aus der Mutter herausgebrochen, als er sie beim Abendbrot zur Geduld mahnte. Sie hatte leise in der Küche geweint und Sepp hatte das besorgte und fragende Gesicht seines Sohnes gesehen. Sachte hatte er sie beruhigen wollen, aber das Gegenteil erreicht. Sie hatte ihn angeschrien, ihn beschuldigt, den Tod der Tochter verschuldet zu haben. Seine Faulheit, sein Job – das alles hätte das Verschwinden verursacht. Er hatte den verstörten Kleinen ins Bett gebracht, sich wieder an den Tisch gesetzt und wortlos den Vorwürfen seiner Frau zugehört. Noch in der Nacht war er in das kleine Büro seiner Werkstatt gezogen und schlief seitdem dort auf einer harten Pritsche. Niemand im Betrieb hatte gewagt, etwas zu sagen. Kam er am Morgen vor dem Frühstück kurz nach Hause, lag sie noch im Bett, unfähig aufzustehen. Dort blieb sie, bis er wieder zur Arbeit gegangen war. Wie ein Gift hatte sich Sprachlosigkeit in die Familie geschlichen. Und niemand war da, dieses Gift zu beseitigen.
Selbst jetzt, wo Mathilde wieder zurück war, konnten die beiden nicht zueinanderfinden. Jutta Baumschneider hatte für ihren Mann nur noch Verachtung übrig. Die Liebe war wie eine Jahreszeit einfach gegangen.
Kapitel 41
Gmund, 23. 05., 21:45 Uhr
Picker ließ sämtliche Zugänge ins Tegernseer Tal dichtmachen. Über vierhundert Polizisten waren im Einsatz. Es war die größte Einzelaktion der bayerischen Polizei dieser Art seit den Terrorzeiten der RAF. Picker hatte wie ein Feldherr im Hinterland bei Miesbach und Kreuth diverse Polizeieinheiten in Mannschaftswagen gebündelt, die jetzt alle Straßen kontrollierten. Überall bildeten sich kilometerlange Schlangen, bis zur Autobahn im Norden staute sich der Verkehr. Zwei Hubschrauber wurden eingesetzt, die mit Wärmebildkameras die Bergwälder rings um den See absuchten. Meldeten sie Bewegungen, wurden sofort Geländewagen der Polizei hinaufbeordert. Meist aber waren es nur verspätete Wanderer und Forstarbeiter. Bei dieser Gelegenheit wurden auch prompt mehrere illegale Flüchtlinge in einer Berghütte entdeckt und ein örtlicher Gemeindemitarbeiter mit seiner Geliebten im Auto aufgescheucht. Und zweimal versuchten Menschen sogar, sich der Kontrolle zu entziehen. Sofort wurden die Autos verfolgt und die Personalien der Insassen festgestellt.
Gleichzeitig begannen Gruppen von Hundeführern, punktuell und scheinbar zufällig bei Hausbewohnern zu klingeln und sie zu fragen, ob sie das Haus betreten und durchsuchen dürften – natürlich auf rein freiwilliger Basis. Das Justizministerium hatte in letzter Minute mit schweren Bedenken und auf Druck des Ministerpräsidenten zugestimmt. Der hatte lapidar erklärt, dass Klagen nicht ausbleiben würden, aber dass es das Gebot der Stunde sei, auch unorthodoxe Maßnahmen zu ergreifen. So sei Bayern, manchmal etwas rustikal, aber dabei erfolgreich. Was er nicht sagte, war, dass darüber hinaus Telefonüberwachungen stattfanden. Schon seit Tagen wurden alle Handys, die sich im Umkreis vom Tatort in ihr Netz eingewählt hatten, überprüft. Jetzt wurden zudem Krankenhäuser und Zulieferer für Anästhetika angefragt, und wenn die Informationen nicht freiwillig geliefert wurden, spielte man die Identität der nicht kooperierenden Stellen an die Presse weiter. Kurze Zeit später erhielt die Polizei dann, was sie wollte.
Picker wollte in den nächsten fünf Tagen einen bislang nie vorgekommenen Ermittlungsdruck auf das Tal ausüben. Am nächsten Morgen würde in verschiedenen öffentlichen Gebäuden der ›freiwillige‹ Gentest durchgeführt werden. Bis zum Wochenende würden zehntausend Männer kontrolliert worden sein.
»Ich will ein Kurzprofil von jedem männlichen Talbewohner. Jedes nur leichte Sexual- oder Gewaltdelikt ist von Interesse. Der oder die sitzen hier und lachen sich über uns tot.«
Picker brauchte dringend Schlaf, seine Augen waren rot gerändert. Der Magen brannte. Seit gestern pfiff es in seinem Ohr. Er bemerkte selbst, wie reizbar er wurde. Das war nicht gut, aber er konnte es kaum unterdrücken.
Gaugenrieder erkannte, dass sein neuer Kollege eine Auszeit brauchte. »Okay, der Test ist gut vorbereitet. Du brauchst jetzt Ruhe. Fahr nach München und leg dich ins Bett. Ich übernehme die Nacht hier und du kommst morgen früh halbwegs erholt wieder.«
Picker wollte schon widersprechen. Aber vielleicht war das genau das Richtige. Er atmete durch und nickte. Nachdem er die Akten auf einen Haufen gelegt und sein Laptop zusammengeklappt hatte, zeigte er auf sein Smartphone. »Ich bin jederzeit erreichbar. Ich bleibe in der Nähe. Vielleicht gehe ich ins Kino. Irgend so etwas.«
Gaugenrieder nickte und schlug ihm leicht auf die Schulter. »Geh saufen oder ficken.«
Früher hatte Picker sich tatsächlich in solchen Situationen in sein Auto gesetzt, war nachts nach Nürnberg oder eine andere entfernt gelegene Stadt gefahren und hatte sich dort in einem Bordell ablenken lassen. Aber jetzt? In diesem Dreckstal gab es nicht einen einzigen Schuppen, der so etwas versprach.
Nach München würde es zu lange dauern. Er brauchte bei den Kontrollen bestimmt zwei Stunden und würde lieber morgen früh zu der anberaumten Pressekonferenz nach München fahren.
Auf dem Weg zu seinem Auto, das vor einer Pension im Ortskern von Bad Wiessee lag, fand er auf einer Mauer einen Packen mit gelben Lokalzeitungen. Er blätterte ein Exemplar durch und fand zu seiner Freude Privatanzeigen von Prostituierten. Ohne lang zu überlegen, rief er eine Nummer im benachbarten Miesbach an.
Er hatte nicht viel erwartet, als er nach zwanzig Minuten an der Tür einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus klingelte. Aber schon am Telefon war er positiv überrascht gewesen. Es war eine Einheimische, keine dieser dreckigen Huren aus dem Ostblock, wie er sie abfällig nannte. Nichts Aufregendes, einfacher Hausfrauensex, aber sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte.
Sie bot ihm zunächst sogar etwas zu essen an. So kam er mit ihr ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass sie tagsüber als Krankenschwester im benachbarten Klinikum Agatharied in der Notaufnahme arbeitete. Sie war geschieden, der Sohn in einem Internat. Das war nur möglich, indem sie auf diese Art ihr karges Gehalt aufbesserte. Nichts Körperliches war ihr fremd. Dank ihres Berufs war ihr jede Flüssigkeit, die der menschliche Körper ausschied, bekannt. Als sie beide nach dem Essen stumm an einem kleinen weißen Resopaltisch gesessen hatten, hatte sie ihr fadenscheiniges Sommerkleid geöffnet. Er hatte seinen verschwitzten Kopf zwischen ihre Brüste gesteckt und sich dann über sie geworfen. Er kam zwar nicht. Aber es war für ihn okay.
Er bezahlte sie gut und lag vor Mitternacht wieder in seinem Bett in der Wiesseer Pension. Er roch noch nach der Krankenschwester.
Kapitel 42
Bad Wiessee, 23. 05., 23:39 Uhr
»Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien«, las Arzu vor.
Julia konnte es nicht fassen. Sie hörte seit vermutlich fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal wieder ein Märchen. Im Schneidersitz saß sie vor dem Sofa, ein Tegernseer Bier in der Hand. Ihr Körper schmerzte. Aber der Alkohol und eine Schmerztablette von Appel wirkten allmählich. Neben ihr auf dem Sofa hockte Pollinger in einem Trainingsanzug mit dem schlafenden Max Ali im Arm. Quercher hatte am Esstisch Platz genommen und über den von Arzu zusammengetragenen Informationen über die neuesten Entwicklungen des Ostin-Falls gebrütet. Daneben lag die Akte, die Pollinger ihm überlassen hatte. Quercher kannte mittlerweile jeden Satz des Märchens.
»Die Bürger sagten ihm diesen Lohn zu und der Rattenfänger zog sein Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen alsbald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurückgeblieben, ging er aus der Stadt hinaus in die Weser; der ganze Haufen folgte ihm nach, stürzte ins Wasser und ertrank. Als aber die Bürger sich von ihrer Plage befreit sahen, reute sie der versprochene Lohn und sie verweigerten ihn dem Mann, sodass dieser verbittert wegging …«
Natürlich war das hier alles grenzwertig. Und natürlich war der wahre Grund für Querchers plötzlich auftauchende Ermittlungswut nicht nur einer Eingebung geschuldet. Pollinger hatte ihm in den letzten Jahren immer schon verrückte Aufträge, scheinbar harmlose Ermittlungen aufs Auge gedrückt. Und immer hatte der Alte richtiggelegen. Nie hatte Quercher dabei auf Anhieb Pollingers wahre Beweggründe durchschaut. Und auch jetzt war es möglich, dass Julia und er dem Alten bei einer Intrige gegen den aufkommenden Politstar behilflich sein sollten. Außerdem – und das war vermutlich wichtiger – behielt Pollinger so den Ostin-Fall, den er als kranker LKA-Chef nicht betreuen konnte, auf eine sehr hintersinnige Weise weiter im Auge. Arzu zapfte zudem ihre kleinen Infokanäle an. Und so wusste das Quartett mittlerweile von allen Schritten Pickers und Gaugenrieders Bescheid.
»Am 26. Juni kehrte er jedoch zurück in Gestalt eines Jägers erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und ließ, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Pfeife abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahre an, in großer Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Nur zwei Kinder kehrten zurück, weil sie sich verspätet hatten; von ihnen war aber das eine blind, sodass es den Ort nicht zeigen konnte, das andere stumm, sodass es nicht erzählen konnte. Einige sagten, die Kinder seien in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen. Es waren ganze hundertdreißig Kinder verloren.«
»Sollen wir uns jetzt etwa auf eine Massenentführung vorbereiten?«, fragte Julia nach einer Sekunde der Stille.
Quercher hob den Kopf. »Julia, das ist doch Unsinn. Was ist die Geschichte in ihrem Kern?«
Sie schloss die Augen und zählte auf. »Mann bietet sich für Dienstleistung an. Stadt ist einverstanden. Er liefert. Wird von Stadtoberen nicht bezahlt. Kommt wieder. Nimmt Kinder mit. Zwei kehren zurück – eines blind, das andere stumm.«
Quercher schüttelte den Kopf. »Noch kürzer!«
Arzu schaltete sich ein. »Mann liefert, Offizielle bezahlen nicht. Mann nimmt Rache. Entführt Kinder.«
Quercher atmete schwer die Luft aus den Lungen. »Zwei Kinder werden auf die im Märchen genannte Art und Weise zurückgebracht …«
»Na ja, nicht ganz. Mathilde ist nicht blind«, wandte Arzu ein.
Pollinger grinste. Er hatte nicht mehr geglaubt, so etwas zu erleben. Er saß hier und in seinem Arm war das junge Leben. Um ihn herum sehr angenehme Kollegen, irgendwie auch seine Kinder. Der Krebs war still geworden. Exakt vor zwei Monaten hatte er sein Testament geschrieben, hatte sich mit seinem Tod, qualvoll und lang, arrangiert. Und jetzt hatte ihm das Universum, der liebe Gott oder der blanke Zufall eine Nachspielzeit gegeben. Der Anlass war betrüblich. Aber so war das in seiner Branche eben. Was hatte er in den stressigen Jahren seines Berufslebens geschuftet, wie oft im Büro geschlafen. Seine Ehe war darüber in die Brüche gegangen. Aber die Familie, wie er das LKA manchmal nannte, war dageblieben. Und jetzt hatte er sozusagen eine Zweigstelle hier am Tegernsee aufgebaut. Was hatte er schon zu verlieren? Er hatte keinen Enkelsohn, doch dafür lag jetzt dieser dicke Fratz mit seinen pechschwarzen Haaren in seinen Armen, getauft auf eine unsinnige Namenskombination. Aber so war das Leben. Unvorhersehbar, wild und eckig – nie glatt und weich. Genau das hatte er noch einmal spüren wollen.
Er sah zu Julia, bemerkte schmunzelnd, wie sie Quercher gefallen wollte. Verstand sie, weil er Querchers Führungsqualitäten und sein Charisma kannte. Quercher wäre sein natürlicher Nachfolger gewesen. Statt dieser Aktenfresserin Gerass, die so langweilig war, dass man kaum bemerken würde, wenn sie nicht mehr atmete. Quercher hatte Instinkt, war dickköpfig wie eine sardische Ziege und konnte begeistern. Eine Schande, dass dieser verdammte Beamtenapparat so einen nicht nach oben kommen, ihn stattdessen mit aussichtslosen Fällen verhungern ließ. Pollinger wusste, dass der Krebs nur auf eine neue Gelegenheit wartete, irgendwo in einem Organ schlummerte, sich versteckte. Vielleicht war es ja sein Vermächtnis, seine Mitarbeiter so gut ausgebildet zu haben. Quercher brauchte eine feste Burg, dachte Pollinger versonnen.
»Wird er oder sie es euch so leicht machen? Legt der Täter oder die Täterin nicht eher Spuren, um Zeit zu gewinnen?«, fragte er leise in Richtung der Frauen. »Übrigens, sehr schön vorgelesen, Arzu. Das haben Sie wirklich beeindruckend gemacht«, lobte er sie. Nie würde er Julia und Arzu duzen. Er nannte sie zwar beim Vornamen, siezte sie aber konsequent. Das Duzen war etwas, was man sich bei ihm verdienen musste.
Arzu strahlte und fragte: »Und wenn das Märchen nur dazu dient, Zeit zu schinden? Und warum sprechen Sie überhaupt von einer Täterin? Sareiter ist männlich.«
Pollinger lächelte. »Andersherum wird eine Frage daraus. Warum gehen wir nur von Männern aus? Wer, und ich will da gar keine feministische Diskussion entfachen, kann mit Kindern in der Regel ganz gut? Wem vertrauen Kinder am meisten? Und bitte, trennen Sie sich jetzt von dem Bild, dass Sie hier von mir mit meinem neuen Freund vor Augen haben. Ich bin jenseits von Mann und Frau.«
Jetzt grinste Quercher, denn ihm war nicht entgangen, wie Pollinger Julia durch die Knopfleiste ihrer Bluse auf die Brüste gestarrt hatte. Er konnte es verstehen, schließlich kannte er sich da aus. Aber Pollinger sollte hier nicht den sexuell befreiten alten weisen Mann mimen, der alte Schwerenöter.
»Sag mal, Ferdi, dieses Dossier über Sareiter, das hier vor mir liegt, woher kommt das? Wer hat das erstellt? Ich meine, hier sind Daten zu seinen Mandanten, seinem Privatleben. Das sieht aus wie eine Geheimdienstakte!«
Pollinger winkte Arzu, die sofort aufstand und ihren Sohn aus seinen Armen nahm. »Wenn du dir mal die Kaliber anschaust, die Sareiter verteidigt hat, wirst du sicher verstehen, dass man an diversen Stellen ein Auge auf ihn geworfen hat. Serbische Waffenhändler. Mauerschützen. Dazwischen viel organisierte Kriminalität bis hin zu mafiösen Verbindungen. Das Ganze lief bei ihm unter liberaler Rechtsordnung. Erstaunlich nur, dass Vermögenswerte in erheblicher Größenordnung entstanden sind. Wir wissen das, weil wir die Aussagen mehrerer Zeugen dazu haben. Es sind zweistellige Millionenbeträge über Sareiters Konten geflossen. Nur wissen wir nicht, wo sich das Geld heute befindet. Ich glaube, dass der trauernde Sareiter seinen Aufenthalt in Indien für eine umfangreiche Verschleierung seines Vermögens genutzt hat. Bis vor einigen Monaten war auch ein Team des Bundeskriminalamtes mit dem Herrn beschäftigt. Seit dieser sich aber in die politische Arena begeben hat, ruht deren Arbeit. Angewiesen wurde das von höchster Stelle.«
Quercher verstand das nicht. »Aber die müssen doch ein Interesse daran haben, dass Sareiter auf die Schnauze fällt?«
Pollinger streckte sich, denn das lange Sitzen auf dem Sofa behagte seinem Rücken nicht. Er griff zu einem Glas mit seinem geliebten Heilwasser. »Das würde nur der Fall sein, wenn man seinen Theorien nicht würde folgen wollen. Aber eine Justizreform, so wie sie Sareiter fordert, kann durchaus für viele Rechtskonservative interessant sein. Auf ›normalem‹ politischem Weg sind solche Dinge nicht zu machen. Manchmal braucht man dazu eben einen radikalen Seiteneinsteiger wie Sareiter. Der wiegelt die Massen auf, die etablierten Parteien übernehmen auf Druck der Öffentlichkeit scheinbar zähneknirschend die Forderungen in einer leicht abgewandelten Form und der Initiator wird irgendwann mit belastendem Material konfrontiert. Das alles nennt sich politisches Geschäft.«
Julia war überrascht. Sie kannte Pollinger vom LKA als Kriminalisten. Da war er jovial, sicher auch zuweilen hart und unnachgiebig aufgetreten. Aber nie hatte sie ihn so zynisch und kalt über Politik und deren Zusammenhänge reden hören. Natürlich war das Amt des LKA-Chefs vor allem auch ein politisches Amt. Aber langsam dämmerte es ihr, dass sie sich hier nicht in irgendeinem kleinen Klub ausrangierter Polizisten befand. Pollinger machte selbst Politik. Die Frage war: Für wen?
»Das ist ja alles schön, Herr Pollinger«, wandte sie ein. »Aber zwei Fragen bleiben: Was ist das Motiv? Und wie soll Sareiter das alles machen? Als Mathilde freigelassen wurde, befand sich Sareiter in Rottach-Egern und hat von irgendwelchen Volltrotteln aufs Maul bekommen. Und als Lukas gestern auftauchte, war er in Berlin. Nachweislich. Wir sahen ihn in einer Fernsehsendung, und zwar live. Am Tag der Entführung weilte er in München. Er hat ein einwandfreies Alibi. Arzu wird sich jetzt mit seinem Handy auseinandersetzen …«
»Das ist nicht nötig«, unterbrach Quercher gallig, »in diesem Dossier werden sowohl Mails als auch Telefonnummern aufgelistet. Da hat jemand eine wunderschöne Rundumüberwachung auf die Beine gestellt.«
Arzu, die Max Ali in sein Bettchen gebracht hatte, kam mit einem Babyfon in der Hand zurück. »Dann wissen wir doch nur eins sicher: Er führt nicht selbst aus. Jemand übernimmt das für ihn.«
Julia nickte. »Die Kollegen Picker und Gaugenrieder gehen davon aus, dass der oder die Täter aus dem Tal stammen müssen. Deswegen drehen sie ab morgen überall jeden Stein um. Wir sollten sie in ihren Bemühungen vielleicht eher unterstützen, als davon auszugehen, dass die beiden einen Fehler machen. »
Quercher konnte Julias Loyalität ihren Kollegen gegenüber gut verstehen. Nach dem Fall war vor dem Fall. Es gab immer ein Rückspiel und in einer Behörde wie dem LKA war man, wie in jedem Unternehmen, von Netzwerken abhängig. Wer da nicht mitspielte oder gar Kollegen verriet, konnte schnell unter die Räder geraten, wurde gemieden und torpediert. Da wurden Beweise zurückgehalten, Gerüchte in die Welt gesetzt und man wurde blockiert, wo und wie man nur konnte.
So etwas hielt man bloß mit einem Sturschädel aus, wie Quercher ihn besaß. Julia würde in einem Meer aus Neid und Intrigen untergehen.
Arzu stellte das Babyfon neben sich auf den Tisch. »Dein Freund und Kollege Gaugenrieder hat weniger Probleme mit der Loyalität. Ich habe mir mal eine Mail vorgenommen, die von Gaugenrieders Rechner ›zu mir kam‹.«
Quercher hob abwehrend die Hand. »Das ist jetzt nicht klug …«
Pollinger lächelte. »Arzu, bitte. Sie lesen so schön vor. Nur zu.«
Quercher stöhnte, während Julia unbeteiligt tat.
»Kollegin D. zeigt sich der Situation nicht gewachsen«, hob Arzu an. »Der Druck ist zu groß, dadurch werden entscheidende Schritte nicht durchgeführt. Erfolg gefährdet. Empfehle dringend, stärkeren Entscheidungsträger zu beordern.« Arzu hielt Julia die Mail vor die Nase.
Die schüttelte nur den Kopf und fragte leise: »Wann hat er das geschrieben?«
»1. Mai, 22:30 Uhr.«
»Dieser fette Wichser.« Julia erhob sich, riss die Terrassentür auf, zog sie wieder hinter sich zu und starrte draußen in den Sternenhimmel.
»Glückwunsch, Arzu. Du verstehst es, Menschen auf deine Seite zu ziehen«, ätzte Quercher leise.
Kapitel 43
Listerhütte, 24. 05., 06:40 Uhr
Sie hatte sie geweckt. Nach und nach waren sie aus der Dämmerung ihres Bewusstseins zurückgekommen, hatten sich umgesehen.
Es hatte lange gedauert, bis sie verstanden hatten, dass sie nicht mehr daheim waren. Nummer zwei hatte gewimmert. Nummer eins dagegen war stumm geblieben. So wie ein Tier, das begriffen hatte, was ihm drohte. In starrer Erwartung. Sie hatte sich nicht mehr verkleiden müssen. Langsam gewöhnte sie die beiden wieder an das Tageslicht. Anders als Nummer drei durften sie sich ohne Augenbinde zunächst nur im fahlen Abendlicht aufhalten. Jetzt erlaubte sie ihnen, auch im stärker werdenden Morgenlicht ihre Augen zu öffnen.
Es war seine Idee gewesen. Nie hätte sie den beiden noch einmal so etwas wie diese Aussicht gegeben. Hier oben war kein Ton zu hören. Nicht das nervige Geläute der verdammten Kühe, die irgendwelche vertrottelten Bauern hier hochtrieben. Kein Auto. Keine sich durch die Landschaft labernden Rentner in Funktionsjacken. Nichts. Nur Wind. Licht. Wasser. Bäume.
Alles, was diese Stille, diese Erhabenheit störte, brachte sie durcheinander, machte sie zornig, ließ sie »über die Grenzen gehen«, wie es er so schön formuliert hatte. Er war ihr Grenzwächter. Er hielt sie zusammen, wenn sie auseinanderzubrechen drohte. Er las die Scherben auf, die sie zerbrach. Er war ihr Korrektiv. Schon immer. Als sie damals zu ihnen kam, fremd und ängstlich, war er es, der ihr alles erklärte. Der Verständnis hatte, wenn sie ihre Wut nicht zügeln konnte. Sie hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was sie ihm dafür geben konnte. Dabei war es so einfach. Sie gab sich hin, suchte in seinem Kopf nach seiner Lust. Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Jeder tat das, was er am besten konnte. Er hatte den Auftrag an Land gezogen. Sie vollzog. Er dachte. Sie führte aus. Es war ein Miteinander. Die Zeiten der Einsamkeit waren vorbei. Er war wieder bei ihr. Wie damals. Und wenn das hier alles geklärt war, würden sie weggehen. Dorthin, wo sie niemand verriet. Wo alles so war, wie sie es sich vorstellten und wünschten.
Die Hütte war ideal. Sie lag jenseits der Wanderwege, kaum einsehbar von anderen Hängen. Auch deswegen konnte sie die beiden an lange Leinen binden und von der Tränke aus über die Wiese gehen lassen. Tatsächlich rannte das Mädchen los und wurde abrupt zurückgeworfen, als das Seil sie brutal an ihr Schicksal erinnerte.
Sie hatte sich auf die Bank gesetzt, das Jagdgewehr lag auf ihren Beinen. Eine Idylle, wie sie fand. Sieben Monate hatten sie für die Vorbereitung gebraucht. Jetzt waren es nur noch wenige Stunden. Alles hatte bald ein Ende. Sie hatten die finstersten Winkel ihrer Seele geöffnet und dabei ein Monster geschaffen, fand er. Aber sie konnte das Schlechte nicht sehen. Er wollte es so schnell wie möglich wieder wegsperren, das Monster. Sie dagegen hätte am liebsten gleich den nächsten Auftrag angenommen. Er hatte ihr davon erzählt. Zwei Kinder eines Großbankers. Sie hatte die Unterlagen gesehen. Ein Mädchen mit schwarzen Locken. Ein Junge mit einem Lachen, das sie ihm schnell ausgetrieben hätte. Doch er hatte es bemerkt. Und den Auftrag abgelehnt. Sie spürte, dass sie ihm Angst machte. Aber das war gar nicht nötig, solange er bei ihr blieb. Ihm hatte sie alles zu verdanken. Er hatte sie zurückgeholt, als sie am Boden lag. Als ihre Geister sie auffressen, sie vernichten wollten.
Jemand hatte unten am Kiesweg zur Hütte den Kontakt ausgelöst. Sie öffnete auf ihrem Smartphone eine App und sah einen Wagen, den sie kannte.
Es wurde Zeit, das Video im Netz zu aktivieren.
Sie zog an der Leine und die beiden Kinder zuckten zusammen. Langsam zog sie die Leine zu sich. Die beiden erhoben sich und sahen sie mit großen aufgerissenen Augen an.
Sollten sie sich ihr Gesicht ruhig einprägen. Es war egal. Denn diese beiden würden sterben.
Kapitel 44
München, 24. 05., 09:45 Uhr
Der Saal im Polizeipräsidium war zum Bersten gefüllt. Auch als zwei Polizisten die Schwingtüren schließen wollten, versuchten sich weitere Reporter in den Raum zu drängeln. Auf dem Flur schrien die Zuspätgekommenen. Es war stickig aufgrund der Wärme der Fernsehkameras und Scheinwerfer sowie der Ausdünstungen der Menschen. Zu allem Übel schien die Sonne auch noch kräftig in den Raum hinein.
Gerass war zwar angespannt, aber auf eine freudige Art und Weise. Die Entführer hatten binnen vierundzwanzig Stunden zwei Kinder wieder freigelassen. So etwas, das hatte ihr Picker gesagt, war ein Zeichen von Schwäche. Die Entführer wollten den Ballast loswerden. Es wäre alles nur eine Frage der Zeit, bis auch die anderen Kinder freikämen. Der Täter müsse aus dem Tal stammen, anders wäre es logistisch gar nicht zu schaffen gewesen, die Kleinen so kurz hintereinander exakt dort wieder laufen zu lassen. Die rigiden Kontrollen an den Ein- und Ausfahrtstraßen hätten ein anderes Vorgehen kaum zugelassen.
Sie genoss Pickers Zuversicht. Er zeigte nicht die aufgeregte Schwäche seiner Vorgängerin. Gaugenrieder hatte ihr noch am frühen Morgen per SMS alles über Pickers nächtlichen Besuch in Miesbach mitgeteilt. Ein guter Mann, der Gaugenrieder, aber eben nur für die zweite Reihe, von der aus er Nachrichten stecken konnte. Nie wieder würde sie sich nur auf einen Chefermittler allein verlassen.
Picker war aus Bad Wiessee gekommen, hatte rechts neben ihr Platz genommen. Dazu waren noch der Staatsanwalt und ein Vertreter des Innenministeriums erschienen. Diesmal roch es nach Erfolg. Da fehlten natürlich auch die Hyänen nicht.
Die ersten fünfzehn Minuten verbrachte sie damit, die Ermittlungserfolge der Polizei in den Vordergrund zu stellen. Auf der Leinwand hinter ihr erschienen Bilder von Lukas aus dem Krankenhaus. Der Vater hatte sie freigegeben. Nicht zuletzt, weil verschiedene Bildjournalisten sich illegal Zutritt zum Klinikum verschafft hatten, um den Kleinen abzulichten. Der Verleger, jahrzehntelang selbst gern Abnehmer solcher Fotos für seine Gazetten, kannte die Mechanismen. Dem war nur zu begegnen, wenn man die Bilderflut selbst regelte. Den anwesenden Journalisten wurden mehrere Bilder von Lukas ohne und mit Eltern zur Verfügung gestellt. Das Veröffentlichungshonorar sollte der Opferorganisation Weißer Ring gestiftet werden.
Bevor Gerass Fragen erlaubte, ließ sie noch ein kleines Statement des Verlegers einfließen, der die Entführer bat, auch die anderen Kinder freizulassen. Kameras surrten, Reporter waren glücklich. Noch vor der Mittagszeit diese Fülle an Bild- und Informationsmaterial – der Tag lief gut für die Pressemeute.
Die Fragen der Journalisten stellten meistens den kritischen Teil einer solchen Veranstaltung dar. Aber Picker reagierte souverän, als er nach den harschen Ermittlungsformen im Tegernseer Tal befragt wurde.
»Das ist nötig und das wird von den allermeisten dort auch unterstützt. Es wird immer Quertreiber und Besserwisser geben. Die schauen wir uns dann auch genauer an.«
Einige lachten, andere verdrehten die Augen. Sie wussten, worauf Picker anspielte. Nachdem die Bürgermeister rund um den Tegernsee am Abend zuvor wütend gegen die geplanten Gentests protestiert hatten, hatte Picker einen der Herrn, der mit Lederhose und Gamshut einen Paradebayern darstellen wollte, vor laufender Kamera zum Gentest eingeladen und ihm sogar einen Wattestab entgegengestreckt, den dieser ihm empört aus der Hand schlug.
Aber der bisherige Erfolg gab Picker recht. Wenn zwei Kinder lebten, dann galt das wohl auch für die anderen beiden. Für einen Moment wirkte es so, als hätte der Fall schon sein Happy End erreicht. Die ersten Reporter machten draußen auf dem Flur vor dem Pressesaal bereits ihre Aufsager für die Nachrichtensender.
Dann brach der Tumult los.
Ein junger Onlinejournalist hatte sich bemerkbar gemacht, seinen Laptop, den er auf dem Schoß trug, in die Höhe gehalten und gerufen. Gerass bat um Ruhe und klopfte auf ihr Mikrofon. Nach und nach betrachteten immer mehr Journalisten, was auf dem Bildschirm des Kollegen zu sehen war. Gerass erhob sich und klatschte in einem Akt der Verzweiflung in die Hände.
»Schließen Sie den Laptop an den Beamer«, rief der Journalist von hinten.
Gerass sah zu Picker, der blass neben ihr saß und nickte.
Wenig später flimmerte unfassbares Bildmaterial von der Leinwand im Saal des Polizeipräsidiums.
Kapitel 45
Bad Wiessee, 24. 05., 11:13 Uhr
Arzu stand vor Julia und Quercher. Sie erklärte. Etwas, was sie besonders gern tat und womit sie so ziemlich jedem auf den Nerven herumtrampelte.
Julia und Quercher hatten vor, sich an die Fersen von Sareiter zu heften. Dieser war noch in Rottach-Egern, wie Arzu wusste. Sie hatte in dem Hotel, in dem er abgestiegen war, unter falschem Namen angerufen. Jetzt erteilte sie Quercher und Julia letzte Instruktionen, wie sie es nannte. Denn in der Nacht hatte sie sich mit Sareiters Kommunikation auseinandergesetzt.
»Alles, was er schreibt, in welcher Form auch immer, ob SMS oder Mail, Twitter und vermutlich auch Brieftaube, ist harmlos. Da werden neue Parteifreunde nett begrüßt, wird die Putzfrau für einen anderen Termin bestellt, einer Freundin zum Geburtstag gratuliert. Nichts deutet auf irgendetwas Unregelmäßiges hin, kein Code, keine versteckte Nachricht via Chiffre. Und genau das ist seltsam. Der Mann gründet eine Partei und nicht eine verdammte Nachricht ist brisant. Entweder hat Sareiter ein Sonarsystem wie Wale in einer Nasennebenhöhle und wir können es nur nicht hören, oder aber er hat einen ganz neuen Trick.«
»Also, was schlägst du vor?«
Arzu grinste. »Opi Pollinger und ich sind ja mit Max Ali hier schwer festgenagelt. Also würde ich vorschlagen, dass das Ehepaar Quercher-Dahmer sich in guter alter Kriminalistenmanier ins Auto setzt und dem feinen Herrn Anwalt ein wenig auf die Füße schaut. Ach, und hier ist das Dossier, das ich dank des kleinen Schreihalses heute Nacht noch einmal durchgesehen habe. Schaut euch bitte die letzten Mandanten an. Von da an hat er nämlich seine Kommunikation umgestellt. Nummern und Smartphones ausgetauscht. Selbst seine Laptops, beruflich und privat, sind zerstört worden.« Sie reichte Julia die Unterlagen.
Die nahm sie mürrisch an. »Vier Tage«, hatte sie zu Quercher gesagt. »Mehr werde ich dafür nicht opfern. Ich wollte eigentlich noch einmal in den Bergen klettern gehen.«
»Aber bevor ihr euch an Sareiter hängt, solltet ihr noch ein paar andere Details zur Kenntnis nehmen.«
»Na?«
»Vor einigen Jahren verunglückte Sareiters Frau. Das Gutachten sagte aus, dass das Baby schon tot war. Ferner wurden am Auto der Frau auch keine Spuren der gegnerischen Partei, also der Jungs vom Tegernsee, entdeckt. In Sareiters Vorstellung aber waren die Jungs und speziell der Fahrer die Hauptschuldigen.«
»Das wissen wir schon, Arzu!«, drängte Quercher, der Arzus Neigung zum Herumschwafeln kannte.
»Ruhig, Brauner, der Richter am Landgericht München, der die Revision des ersten Urteils nicht zuließ, war Großvater von Homstein. Aber jetzt ratet mal, wer die Gutachterin beim ersten Urteil war?«
Quercher wusste es dank Appel schon. »Luise von Homstein, die Schwiegertochter des Richters.«
Julia sah ihn erstaunt an. »Nettes Herrschaftswissen, Max. Wann hättest du uns diese Information zukommen lassen?«
»Nachher im Auto, wenn dir langweilig geworden wäre.«
Sie stieß ihn zur Tür.
»Soll ich euch noch ein Pausenbrot machen?«, fragte Arzu gehässig.
»Ja, einen Joghurt für mich, einen Giftbecher für Quercher.«
Quercher grinste. »Pollinger hat die Lumpi mitgenommen, Arzu?«
Sie nickte, stand in der Tür und war einfach glücklich. Ermittlungsarbeit von daheim aus – sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
Das Beschatten von Personen war Julias und Querchers Kerngeschäft. Beide hatten zusammengerechnet schon ganze Tage in einem Auto oder einer Wohnung verbracht, um Verdächtige zu beobachten.
Nun standen sie auf dem Parkplatz gegenüber dem Hotel, in dem Sareiter abgestiegen war. Julia saß am Steuer, Quercher las auf dem Beifahrersitz weiter in den Akten, die Pollinger zur Verfügung gestellt hatte.
»Da, schau her. Der Kollege Gaugenrieder und Sareiter – einträchtig vereint beim Essen.«
»Ach, wieso?«, fragte Julia und versuchte, einen Blick in die Akte zu werfen.
»Aufs Hotel schauen, junge Frau. Ich lese, Sie bewachen.«
»Sehr witzig. Sag schon.«
»Gaugenrieder ermittelte in einem Drogenfall. Und Sareiter verteidigte. Und hier sitzen sie bei einem Abendessen in einem Dönerladen in Kempten.«
»Und?«
»Nichts. Hier hat er noch ein paar andere Kollegen aus dem LKA getroffen. Sareiter war und ist noch immer ein guter Netzwerker. Er hat sich zwar mit uns angelegt, aber er war auch privat immer sehr fair. Anwälte neigen ja dazu, uns in die Pfanne zu hauen, wenn sie die Gelegenheit haben. Aber Markus war nicht so.«
»Du hast Freunde!«
»Der ist nicht mein Freund. Seit er in Indien war, hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm.«
»Wollen wir jetzt vielleicht mal ins Hotel gehen?«, fragte Julia ungeduldig.
»Wir müssen damit rechnen, dass er mittlerweile jemanden hat, der aufpasst, dass er nicht beschattet wird. Er scheint ja noch bei der Morgentoilette zu sein«, antwortete Quercher und zeigte auf den Parkplatz des Hotels, wo Sareiters Wagen stand.
Nicht weit von ihnen riss ein Bagger mit seiner Schaufel ein Loch in eine Hausruine. Zwei Männer spritzten aus großen Schläuchen Wasser auf die Baustelle, um den Staub zu binden.
»Das war das alte Posthaus. Davor war ein guter Italiener drin. Wie hieß der noch?«, fragte sich Quercher.
»Ist die Familie Quercher dort zum Pizzaessen eingekehrt? Möchtest du in Kindheitserinnerungen schwelgen?«, fragte Julia spitz.
»Nein, die Familie Quercher hatte für so etwas kein Geld. Aber der Laden war sehr gut. Doch die Rottacher haben dem Besitzer schwer zugesetzt. So lange, bis er freiwillig aus dem Pachtvertrag ausgestiegen ist.«
»Wieso wollten die den nicht haben? Angst vor der Mafia?«
»Nein, aber irgendwelche Hinterwäldler wollten eine Bierschwemme haben, einen Schweinsbratenladen eben. Heute wäre so etwas nur in irgendeinem Drecksnest noch möglich, aber nicht mehr am See mit den vielen Touristen.«
»Können wir jetzt trotzdem mal reingehen?«
»Ich merke schon, die Geschichte der Gastronomie im Tal ist nicht so deins.«
Sie stiegen aus und querten die Straße. Julia schlenderte scheinbar ziellos zwischen den Autos herum, um dann an Sareiters Wagen einen Sender anzubringen, den Arzu ihr mitgegeben hatte. So konnten sie Sareiter auch dann orten, wenn sie ihn auf der Straße wegen unklarer Verkehrsverhältnisse verlieren würden. Arzu hatte diese kleinen Gerätschaften von München zum Tegernsee mitgebracht. Es war ihre Art, sich mit dem Mutterdasein zu arrangieren. Im Kinderzimmer hatte sie einen Schreibtisch mit diversen Laptops belagert. Im Keller, den Quercher nicht besonders schätzte, weil er als Kind dort zu viele Stunden allein zur Strafe verbringen musste, lötete, testete und spielte Arzu an den kleinen Ortungsgeräten herum.
Sie fanden Sareiter im Frühstücksraum des Hotels mit einer Dame. Sein Gesicht war geschwollen – das Resultat des gestrigen Überfalls. Das Ganze hatte in den Medien wohl nicht den großen Nachhall erzeugt, wie Sareiter sich das gewünscht hatte, dachte Quercher. Und Prügel hatte er allemal verdient. Julia und Quercher warteten in einer versteckten Nische der Lobby, bis er den Tisch verließ, an der Rezeption bezahlte und hinaus auf den Parkplatz ging. Anschließend fuhren sie in weitem Abstand hinter ihm her. Sareiter hatte einen schwarzen Passat, nichts Auffälliges. Hier wollte jemand volksnah sein. Wer wusste schon, dass er Millionen auf dem Konto hatte. Er fuhr Richtung Bad Wiessee am See entlang, weiter hinaus aus dem Tal.
Staub wirbelte auf, als Sareiter, der sich vier Wagen vor Julia und Quercher befand, plötzlich nach links Richtung Finsterwald abbog. Auf der linken Seite, kurz vor einer Kreuzung, lag der Feichtner Hof, eine Gaststätte mit einem feinen Biergarten. Sareiter blinkte und fuhr auf den Parkplatz. Quercher bog nach rechts ab und parkte auf dem Grundstück einer Malerei.
Kaum hatte er den Motor abgestellt, hastete Julia schon los. Quercher hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie huschten in einen Antiquitätenladen, der direkt gegenüber dem Biergarten lag, und betrachteten scheinbar interessiert die Ausstellungsstücke, während sie hinüber zu Sareiter sahen. Der hatte sich im Biergarten an einen Tisch in die Sonne gesetzt und eine Bestellung aufgegeben. Kurz darauf kam die Bedienung mit einem Tee. Er trank und schaute sich dabei mehrfach um.
»Wir müssen irgendwie näher an ihn heran«, meinte Julia verärgert.
»Mich darf er keinesfalls sehen. Aber dich kennt er nicht.«
Sie nickte, verließ den Laden und wechselte die Straßenseite. In diesem Moment sah sie, wie die Bedienung an Sareiters Tisch kam und ihm etwas sagte. Sareiter erhob sich und ging in die Gastwirtschaft. Julia folgte ihm und bemerkte, wie Sareiter hinter der Theke ein Festnetztelefon in die Hand nahm. Es war ein äußerst kurzes Gespräch. Er bedankte sich bei der Bedienung, ging hinaus und setzte sich auf seinen Platz. Nervös sah er sich um. Dann wechselte er den Tisch. Es schien, als würde er der Sonne folgen. Kaum saß er, tastete er mit seiner rechten Hand unter den Tisch. Er suchte etwas. Julia konnte aber nicht erkennen, was es war.
Die Bedienung stellte sich direkt vor Julias Sichtfeld. »Wollen Sie einen Platz?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein, ich suche die Toiletten.«
Die Bedienung zeigte mürrisch in den Schankraum. »Aber nur für Gäste!«
Kaum war die Sicht wieder frei, sah Julia Sareiter nicht mehr. »Verdammt«, fluchte sie leise und rannte auf den Parkplatz. Sie konnte noch erkennen, wie der Anwalt in seinen Wagen gestiegen war und losfahren wollte. Aber Quercher hatte bereits reagiert, war zu seinem Auto zurückgehastet und hatte auf sie gewartet.
Sareiter fuhr westwärts Richtung Tölz. Er schien es eilig zu haben. Vier Autos trennten sie. Da wenig Verkehr herrschte, konnten sowohl Sareiter als auch Quercher und Julia den Kontrollpunkt der Polizei an der Bundesstraße schnell passieren.
»Was macht er?«, fragte Quercher, als er in eine Rechtskurve zog.
»Kann ich nicht sehen.«
Vor Sareiter fuhr ein Müllwagen, den dieser mehrfach zu überholen versuchte. Doch erst im vierten Anlauf schaffte er es. Jetzt wurde es für Quercher und Julia schwierig, denn die Müllabfuhr hielt so auf der Straße, dass sie warten mussten. Zwischen ihnen und dem Müllwagen befanden sich noch drei Fahrzeuge. Aber sie konnten sehen, dass Sareiter einige Hundert Meter vor ihnen auf Höhe eines Einrichtungshauses gehalten hatte. Er stieg aus und ging zu einem Abfalleimer am Straßenrand. Nachdem er sich umgesehen hatte, warf er etwas hinein und rannte zurück zu seinem Passat.
»Was war das?«, fragte Julia.
»Vielleicht das Grundgesetz?«
»Sehr witzig. Los, du musst den Müllwagen überholen. Sonst ist das, was Sareiter soeben entsorgt hat, weg.«
»Und wenn es nur Dreck war? Wir verlieren ihn. Und so schnell finden wir ihn nicht wieder. Der hat ja schließlich keine Homepage mit seinen Tourdaten. Und wer weiß, ob Arzus Sender wirklich funktioniert.«
Julia schüttelte den Kopf. »Dann sieh zu, dass du hinter ihm bleibst. Hast du eigentlich Schnecken getankt? Wenn du weiterhin so langsam unterwegs bist, hole ich dich mit dem Tretroller ein.«
Sie öffnete die Tür, rannte heraus und lief im Spurt an den drei Autos vorbei. Als einer der Männer vom Heck des Müllwagens sprang und auf den Abfalleimer zulief, rief Julia ihm etwas zu. Aber der Mann reagierte nicht. Er wollte den schwarzen Eimer leeren und drückte bereits einen Hebel am Heck des Wagens, als Julia den Griff der Tonne festhielt und sie wieder zurück auf den Boden zog. Der komplette Müll, den eine Familie in zwei Wochen angehäuft hatte, übergoss sich über sie. Der Mann schrie. Eine Frau im Auto hinter dem Müllwagen hupte und gestikulierte.
Julia ließ das kalt. Sie erklärte dem Mann, dass sie nur schnell etwas suchte.
Da lag es – unter Bananenschalen und zwei Windeln. Ein schlichtes kleines Handy. Sie steckte es ein und wollte gehen, als der Müllmann ihr mit sehr deutlichen Worten zu verstehen gab, dass der Abfall hier nicht liegen bleiben könnte.
Mittlerweile hatte sich eine lange Schlange gebildet. Noch immer hupte die Frau. Quercher kam die Straße hochgehumpelt, blieb am Seitenfenster der Autofahrerin stehen. Er zeigte ihr seinen Dienstausweis.
»Zwei Möglichkeiten, gute Frau. Entweder Sie fahren ohne Zetern um diesen Lkw herum. Oder Sie bekommen eine kostenpflichtige Belehrung über das rechtmäßige Betätigen der – Achtung, wichtiges Wort – WARN-Hupe.«
Dann half er Julia, den Müllmann zu beruhigen.
Dank des Sensors und halsbrecherischer Fahrmanöver konnten sie Sareiter wieder orten. Sein Auto stand jetzt auf dem Parkplatz des Klosters Reutberg, das eine Gastwirtschaft besaß.
Kaum hatten sie den Klosterberg bestiegen, sahen sie im Hinterhof zwei schwarze Limousinen. Vorsichtig betraten sie das Lokal, aber Sareiter war verschwunden. Sie durchquerten den Gastraum im Erdgeschoss und gingen in den ersten Stock. Aber auch hier keine Spur von Sareiter.
»Verdammt, sollen wir am Auto auf ihn warten?«, fragte Julia genervt.
Quercher tippte eine SMS an Arzu. Sie sollte das Kennzeichen der Limousinen bei den Kollegen im LKA identifizieren. Nicht offiziell, natürlich.
Wenige Minuten später kam die Antwort. »Welde Fahrzeugpark«, las Quercher laut vor. »Sareiter trifft also den Verleger. Irgendwo hier sind sie.«
Im letzten Moment sahen sie Sareiter auf sich zukommen. Er war ein paar Hundert Meter von ihnen entfernt und hatte sie noch nicht gesehen. Hinter Quercher und Julia lag eine Kapelle, die wohl sein Ziel war. Sie erreichten gerade noch rechtzeitig die Tür und stolperten in das kühle Innere des Kirchenbaus. Es roch nach altem Weihrauch und abgestandener Luft.
»Wohin?«, flüsterte Quercher.
Julia zeigte auf einen Beichtstuhl. Er sah sie verdutzt an. Aber sie hatten keine Zeit. Julia öffnete die Tür, die zum Platz des Pfarrers führte, und beide zwängten sich hinein. Sie musste auf seinem Schoß sitzen. Quercher hatte ein schlechtes Gefühl. Er war schon lange ohne Glauben, aber eben katholisch aufgewachsen. Das war ein echtes Sakrileg. Vor allem, weil Julia ihren Po auch noch zurechtrückte und er seine Arme aus Platzgründen um ihre Hüften schlingen musste.
Schon hörten sie Schritte, die auf dem Marmorboden hallten. Es waren zwei Männer, die flüsterten. Julia versuchte, an dem muffig stinkenden Vorhang vorbeizuschauen.
Tatsächlich – da saßen Sareiter und Welde einträchtig auf einer Holzbank und sprachen leise miteinander. Es dauerte nicht länger als eine Minute. Die beiden Herren erhoben sich, drückten einander, klopften sich leicht auf die Schulter und gingen in einem Abstand von wenigen Augenblicken wieder hinaus.
Max und Julia verharrten noch einen Moment, ehe sie sich aus dem engen Beichtgestühl schälten. Vorsichtig öffneten sie die Tür der Kapelle und schauten sich um, bevor sie wieder in die grelle Sonne des Klosterinnenhofes traten. Sareiter und Welde waren nicht mehr zu sehen.
»Warum treffen sich die beiden hier? Die brauchen doch keinen konspirativen Treffpunkt. Ist doch kein Geheimnis, dass der Verleger den Sareiter bei seiner Partei unterstützt?«, fragte Julia.
»Gemeinsames Beten vielleicht?«, spottete Quercher.
»Vielleicht gestanden sie einander ihre Liebe? In diesem Räumen ging es in der Vergangenheit sicher nicht immer züchtig zu. Frag mal die Ministranten.«
»Ich war Ministrant. Mich hat nie einer angepackt«, antwortete Quercher säuerlich.
»Hattest vielleicht damals schon deinen Hüftschaden. Der Herr Pfarrer war eben wählerisch. Also ernsthaft, was sollte das Treffen hier?«
Quercher zuckte mit den Schultern. »Wir fahren jetzt erst einmal zurück, geben Arzu das Handy aus der Mülltonne und lassen Sareiter einen guten Mann sein. Denn eins ist doch klar, der Mann agiert äußerst seltsam. Erst lässt er sich in einem Gasthof auf dem Festnetz anrufen. Und dann schmeißt er sein Handy in einen Mülleimer, kurz bevor er geleert wird.«
»Wir sollten an ihm dranbleiben«, meinte Julia skeptisch. »Der weiß von uns noch nichts. Das Handy schaue ich mir gleich im Auto an.«
Sie blickten vom Kloster hinunter auf den Parkplatz. Eine der Limousinen stand neben Sareiters Wagen. Daneben unterhielt sich Sareiter mit einem Mann in einem Anzug. Sie schienen aufgeregt zu sein. Kurz darauf ging der Unbekannte mit einem Gerät um Sareiters Auto von Sareiter herum, kniete sich in den Kies, sah unter den Wagen und erhob sich wieder.
»Verdammt, der hat den Sender gefunden!«, fluchte Julia.
Quercher stöhnte. »Wo hast du ihn befestigt?«
»Wie es Arzu mir gesagt hat. Direkt im rechten Radkasten. Wo hätte ihn denn Herr Superschlau angeschraubt?«
»Warum nicht gleich auf dem Dach oder auf der Windschutzscheibe?«, höhnte Quercher. »Komm, lass uns was essen gehen, bis die da unten weggefahren sind. Bringt jetzt auch nichts mehr, Sareiter weiter zu beschatten.«
»Sag mal … Das war doch eine Erektion, die du im Beichtstuhl hattest? Ich hab’s genau gespürt.«
Quercher verdrehte die Augen. »Das waren meine Autoschlüssel. Und wenn, kann man ein schöneres Kompliment machen?«
»Ja, kann man!«, entrüstete sich Julia. Ihr Telefon vibrierte. »Arzu, was gibt’s? – Ja, ich musste es ausschalten. Wir waren beichten. – Nein, das verstehst du nicht als Muslimin. – Was? Okay, wir kommen nach Wiessee.«
»Was ist los?«, fragte Quercher, der sich schon auf das Essen gefreut hatte.
»Wir sollen den Fernseher einschalten. So etwas hätten wir noch nicht erlebt.«
Kapitel 46
München, 24. 05., 13:15 Uhr
Die technische Gruppe des Landeskriminalamts war eine sehr gut ausgestattete Einheit. Informatiker und Bildanalytiker hatten in den vergangenen Stunden fieberhaft das Bildmaterial gesichtet und auf Besonderheiten überprüft.
Picker, der jetzt mit Gaugenrieder im Sichtungsraum saß, starrte auf die Bilder, obwohl er sie seit dem Desaster am Morgen bestimmt schon hundertmal gesehen hatte.
Der Film startete mit einer Großaufnahme von Mathilde.
Ein Bildanalytiker kommentierte leise: »Sie trägt schon die Augenmaske. Dann wechselt die Person, die die Filmaufnahmen gemacht zu haben scheint, die Straßenseite. Man sieht und hört jetzt die Gruppe der Demonstranten. Die Person mischt sich unter die Menschen. Keiner dreht sich zu ihr um. Das heißt: Keiner scheint die Kamera zu bemerken. Sie musste also sehr klein und irgendwo am Kopf oder am Körper befestigt sein. Und keiner scheint die Person zu grüßen.«
Plötzlich war ein Schreien zu hören. Die Kamera wurde ruckartig herumgedreht. Man sieht, wie die Menschen auf die andere Straßenseite rennen.
»Hier fährt die Kamera hinauf zu den Bergen, dann wieder auf einen Polizisten. Da sind Sie zu sehen, Herr Picker, wie Sie mit den Armen wedeln. Da stolpern Sie …«
Picker sah den älteren Kollegen wütend an.
Der zuckte nur mit den Schultern. »Ist ja auch etwas unübersichtlich.«
Dann kam ein Schwenk über den Parkplatz vor der Turnhalle.
»So, jetzt bitte aufpassen! Das ist meiner Meinung nach das Interessante.«
Die Person ging auf ein Auto zu. Öffnete eine Tür. Nie waren die Hände zu sehen. Auf dem Rücksitz schlief ein Junge, nicht älter als vier Jahre, in einem Kindersitz. Sein Mund stand offen. Die Kamera ging ganz nah an das Gesicht des Kleinen. Man hörte ihn atmen, sah die vom Schweiß verklebten Haare, die kleinen Lippen. Ein Klicken. Ein Gurt wurde gelöst. Das Kind wachte auf. Große Augen schauten in die Kamera, blinzelten wegen der Helligkeit. Langsam wurde aus dem verschlafenen Gesichtsausdruck ein ängstlicher. Tränen. Das Kind rief nach der Mutter. Die Kamera zog sich zurück.
»Sehen Sie hier: Da ist der Rückspiegel, dort die Seitenspiegel. Überall könnte die Person zu sehen sein. Aber das passiert nicht. Deshalb ist das auch kein Zufall. Die Person muss das entweder genau geübt oder instinktiv gespürt haben. Es ist auch kein Schnitt zu erkennen. Das heißt, man hat diese Szene ungekürzt ins Netz gestellt. Auch wenn das in diesem Zusammenhang etwas unpassend klingt: Das ist faszinierend.«
Gaugenrieder hob beschwichtigend die Hand. Er spürte, dass Picker solche Bemerkungen nicht schätzte, und sah zu den EDV-Experten. »Wissen wir schon, von wo die Person das Material ins Internet gestellt hat?«
»Die Kollegen arbeiten noch daran. Dürfte aber vermutlich länger dauern. Der wird das über diverse Proxys gelenkt haben …«
Picker sah den Bildanalytiker verärgert an.
»Das sind digitale Umwege, die man nur sehr schwer zurückverfolgen kann«, beeilte sich der Kollege zu erklären.
»Zeugenbefragungen?«, wandte Picker sich leise an Gaugenrieder.
»Keiner kann sich erinnern, keiner hat was gesehen. Doch, zwei Zeugen haben eine Beschreibung gegeben. Die trifft aber auf dich zu. Mann, der stolpert und so. Haben wir nicht weiterverfolgt.«
Der Analytiker schmunzelte still. Picker blieb ruhig – noch.
»Die Familie des Jungen im Auto ist natürlich völlig fertig. Ich muss dir nicht sagen, wie sehr die Leute im Tal jetzt unter Strom stehen. Direkt vor dem Lagezentrum läuft der Täter frei herum. Und keiner tut was. Jeder hat das gesehen und jeder hat das auch so verstanden, wie der Täter es verstanden wissen wollte. ›Ich bin hier. Ihr kriegt mich nicht. Ich bin mächtiger als ihr alle. Und wenn ich es will, klaue ich noch mehr von euren Kindern.‹«
Picker erhob sich abrupt. »Die sollen mal alle schön das Maul halten, diese Trachtentrottel! Ohne Demo hätte es nicht so einen chaotischen Ablauf gegeben. Und eins sagen ich dir, der Täter ist denen bekannt. Ich wette, dass einige den Typen erkannt haben, aber nicht reden wollen. Diese ganze Talscheiße kann ich nicht mehr hören.«
Es hatte alles so gut ausgesehen. Zwei Kinder wie aus dem Nichts frei. Die guten Presseberichte. Nach dem tiefen Fall von der Dahmer konnte er all das bis zu dem Auftauchen dieses verdammten Videos als seinen Erfolg verbuchen. Und was hieß das schon, so ein Video? Nur dass einer sich sehr sicher fühlte. Das bedeutete aber meistens auch, dass er Fehler machte. Alles eine Frage der Zeit und des Drucks.
»Was hat die Ringfahndung gebracht?«, fragte Picker entnervt.
Gaugenrieder schüttelte den Kopf.
Was war das? Ein verdammter Geist? Kommt und geht und keiner sieht ihn? Als der Verlegersohn plötzlich in der Gastwirtschaft auftauchte – das war schon seltsam genug. Aber das war am Abend gewesen. Jetzt kam das Schwein tagsüber. Der will sich mit mir anlegen, dachte Picker.
Die Holztür zum Sichtraum wurde aufgestoßen. Ein Mann mit einer schwarzen Hornbrille und fettigen Haaren kam herein.
»Was?«, blaffte ihn Picker an.
»Wir wissen, wo das Video hochgeladen wurde.«
»So schnell?«
»Ja, das ist wirklich seltsam.«
»Und, lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben?«
»Nicht weit vom Tatort.«
»Ah, also per WLAN von einem Laptop?«, fragte Gaugenrieder dazwischen, um seine Technikkenntnisse zu demonstrieren.
»Nein, von einem Computer.«
»Was?«
»Ja, vom Büro des Bürgermeisters in Bad Wiessee.«
Kapitel 47
Listerhütte, 24. 05., 16:54 Uhr
Eine letzte Aktion. Dann war Schluss. Er hatte gemerkt, wie schnell etwas außer Kontrolle geraten konnte. Aber die erste Tranche des Geldes war inzwischen eingegangen. Schon damit konnten sie ein neues Leben beginnen.
Er lehnte an der Holzwand der Hütte, saugte den Geruch des Harzes ein und schaute hinüber zu den Schneespitzen des Alpenhauptkamms. Wie konnte sie so übersteuern? Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Kinder sie nicht erkennen können. Aber irgendetwas in ihr ließ sie leichtsinnig werden. Er hätte mit allem umgehen können. Ein blöder Wanderer, der den falschen Weg genommen hat, ein Waldarbeiter, ein Jäger. Was auch immer. Aber die Kinder an Stricken hinauszuführen auf eine Wiese, mit verklebtem Mund? Das war einfach zu viel. Und sie hatte ihnen die Augenklappen abgenommen.
»Stecken wir sie oben in den Wassertank von der Hütte und packen noch sieben oder acht Ratten dazu.« Das hatte sie allen Ernstes gesagt. Damit musste Schluss sein. Sie war ein nicht mehr kalkulierbares Risiko geworden.
Es würde nicht schön werden. Aber was war schon schön? Am Sylvensteinspeicher wurde der Staudamm erneuert. Er hatte die Firma, welche die Streben aus Österreich lieferte, ausfindig gemacht. Der Beton würde in Kürze in die Formen gegossen werden. Dann würde die Entdeckung der Kinderleichen für Jahrzehnte bis zur nächsten Sanierung warten müssen. Er hatte einmal gelesen, dass frühere Baumeister häufiger lebendige Tiere in Bauwerke einmauerten, um so ein Opfer darzubringen. Ihm gefiel die Vorstellung. So hatte dieser finale Akt noch etwas von einem Ritus.
Sie fand das zu unspektakulär und hatte ihm vorgeschlagen, sie den Tieren im Wald zu überlassen. So wie die Zoroaster, von denen er ihr erzählt hatte. Diese persische Religionsgemeinschaft hatte noch bis in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts ihre Toten den Vögeln dargeboten. Die Leichname wurden in speziellen Türmen bestattet und nur die Vögel kamen durch kleine Öffnungen hinein und nagten das Fleisch der Körper ab. Nach Wochen wurden die Knochen dann in den Hütten der Angehörigen verbaut.
Es hatte sie fasziniert. »Vielleicht kommen wir eines Tages zurück und nehmen die Knochen mit.«
Spätestens da wurde ihm klar, dass er mit ihr nicht mehr arbeiten konnte. Sex ja, aber gemeinsames Arbeiten war unmöglich. Er war ein Wagnis mit ihr eingegangen. Sie unter Kontrolle zu halten, war mittlerweile die eigentliche Arbeit. Ihn selbst berührte der Tod nicht. Er hätte sich oft gewünscht, dass es anders wäre. Aber Gefühl bedeutete bei ihm nur Trieb. Ihm fehlte das, was andere ›Anteilnahme‹ nannten. Quälen war nie sein Ziel. Es war ein Mittel, um etwas zu bekommen. Mehr nicht. Nur: Sie genoss es. Und noch konnte er sich in sie hineinversetzen. Als er am Morgen hinauf zur Hütte gekommen war, wusste er, dass sie die Kinder an der Leine hinausgeführt hatte. Sich daran geweidet hatte. Zwar hatte sie die Kinder schon wieder im Keller verschwinden lassen, aber er hatte die Leinen gesehen, die Striemen an ihren Beinen bemerkt.
Wie sehr sich der Wert eines Lebens ändern konnte, dachte er, während er auf eine Biene starrte, die um ihn herumsummte. Eben noch sorgten ihre Kinderleben dafür, dass enorme Geldsummen den Besitzer wechselten. Wenn dann alles geregelt war und man sie nicht mehr brauchte, war so ein Leben Ballast. Seine Kontaktleute hatten ihm angedeutet, dass er die zwei Kinder auch hätte verkaufen können. Aber ihm schien das Risiko zu groß.
Beton war sicher – auf Jahre.
Kapitel 48
Bad Wiessee, 24. 05., 18:33 Uhr
»Trink das und die Hüftschmerzen verschwinden.«
Pollinger hielt Quercher ein Glas mit dem rostroten Wasser vor die Nase. Während er und Julia Sareiter überwacht hatten, war Pollinger mit Lumpi und dem Kind zu einer vermeintlichen ›Heilquelle‹, die nur er und die Frau von Querchers Doktorfreund, Gaby Appel, kannten, gewandert.
»Der Knobl Toni, ein Bauer aus Wiessee, hat uns den Ort verraten. Nicht weit von der Stelle, wo du im Winter diese Wachsleiche ausgegraben hast.«
»Ich habe sie nicht ausgegraben. Das war der Birmoser Andi.«
Dahmer kannte die Geschichte von Arzu. »Ist das der Fall mit der geilen Amerikanerin?«, fragte sie süffisant.
»Ja«, antwortete Quercher kurz angebunden.
»Ich musste beim Knobl natürlich ein wenig nachhelfen, damit er redet. Habe ihm ein paar Ster Buchenholz abgekauft.«
»Für wen?«, fragte Quercher.
Pollinger sah ihn erstaunt an. »Na, für dich. Ich bekomme noch dreihundert Euro von dir.«
»Ich heize nicht mit dem Ofen. Auch wenn du dich im Winter deines Lebens befindest, haben wir bald Sommer.«
»Holz kann man gar nicht früh genug besorgen.«
Dahmer grinste, obwohl sie sich elend fühlte. Dass Sareiter den Sender an seinem Auto entdeckt hatte, würde Ärger bedeuten. Arzu hatte Material des LKA verwendet. Und das war zurückzuverfolgen. Zumindest wenn Sareiter und die Mitarbeiter des Verlegers das wollten. Quercher war es egal. Aber sie hatte noch vor, beim LKA etwas zu werden. Musste sie das stärker betonen?
Sie sah zu Pollinger, der sich ihre Geschichte von der Verfolgungsjagd bis zum Kloster schweigend angehört hatte. Er war noch längst nicht auf dem Damm, wie Julia fand. Auf seinem Kopf waren zwar schon wieder erste Haare zu sehen und seine Haut sah längst nicht mehr so wächsern aus. Aber er war noch immer sehr mager und wirkte alt. Niemand glaubte, dass er auf den Chefsessel des LKA zurückkehren würde.
Das Telefon des alten Mannes klingelte. Umständlich griff er in seine Jacke, fischte es heraus und sah auf das Display. Er grinste, erhob sich und ging hinaus auf die Terrasse.
»Was ist denn jetzt mit dem Bürgermeister?«, fragte Quercher die Frauen.
Arzu hatte ihnen das vom Täter im Netz verbreitete Video gezeigt und Julia war inoffiziell von den Kollegen gesteckt worden, dass das Filmmaterial vom Computer des örtlichen Bürgermeisters hochgeladen worden war.
Julia war sich sicher, dass er damit nichts zu tun hatte. »Der Typ ist sauber, glaube ich. Natürlich haben die den schon vorher durchleuchtet. Den Gentest hatte er auch schon hinter sich. Aber Picker hat sein Haus jetzt natürlich trotzdem durchsuchen lassen. Ohne Durchsuchungsbefehl. ›Gefahr in Verzug‹ und so. Die Frau des Mannes hat dabei einen Schwächeanfall erlitten. Na ja, jedenfalls verhören sie den Bürgermeister nun in Miesbach.«
»Nicht hier im Lagezentrum?«
»Nein, es gab wohl Hinweise, dass einige aufgebrachte Bürger das Zentrum stürmen wollten.«
»Wegen Pickers Inkompetenz?«, fragte Quercher spöttisch.
»Nein, um sich den Täter zu holen«, antwortete Julia knapp.
Arzu und Quercher schüttelten den Kopf. Sie sahen hinaus zu Pollinger, der sein Gesicht der Abendsonne entgegenreckte.
Er beendete sein Telefonat und kam wieder herein. »Wir bekommen Besuch. Wenn Sie noch für eine Person mehr decken würden, Arzu?«
Quercher sah ihn fragend an. »Mögen Euer Gnaden dem Personal noch mitteilen, wer mit der Kutsche vorbeikommt?«
Pollinger sah ihn mit traurigen Augen an. »Frau Dr. Gerass, die derzeitige Leiterin des Bayerischen Landeskriminalamtes. Und statt einer Kutsche bringt sie wohl zwei Kollegen von der Internen mit.«
Julia und Arzu wurden fast zeitgleich blass.
Pollinger hob beruhigend die Hand. »Die beiden Hausschnüffler bleiben im Auto. Das habe ich mit ihr besprochen. Aber sie will dennoch mit uns reden.«
Als das alte LKA mit dem neuen LKA an einem Tisch saß, schenkte Quercher Wein ein und seine Vorgesetzte trank tatsächlich mit Vergnügen. Er hätte dieser Maschine maximal Diesel zugetraut.
»Meine Damen, ich weiß, wie reizvoll es erscheinen mag, mit solch zweifellos bemerkenswerten Kollegen wie Max Quercher und Dr. Pollinger zusammenzuarbeiten. Sicher hat Herr Quercher in der Vergangenheit erhebliche Ermittlungserfolge mit einem zuweilen unkonventionellen Vorgehen erreicht. Ich kann Sie jedoch nur davor warnen, sollten Sie noch über weitere Karriereschritte innerhalb des LKA nachdenken.«
»Drohen Sie?«, fragte Julia leise.
Gerass lächelte. »Nein, ich empfehle. Meine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Männern wie Max Quercher ist die, dass man ihnen folgt, sie den Ruhm ernten und das Fußvolk, also Sie oder ich, auf jeden Fall Frauen, die Drecksarbeit machen dürfen.«
Quercher runzelte die Stirn. »Es wäre mir lieb, Frau Gerass, wenn Sie, solange Sie sich in meinem Haus befinden, nicht in der dritten Person von mir sprechen würden.«
»Das lässt sich einrichten«, gab Gerass kurz zurück.
»Was werfen Sie uns denn genau vor?«, wollte Arzu wissen.
»Dr. Sareiter, den wir hier alle am Tisch wohl genauestens kennen, fand an der Unterseite seines Wagens einen Ortungssender. Dank externer Hilfe konnte er das Ortungsgerät zu einem in der Nähe befindlichen Auto zurückverfolgen. Das Auto ist ein alter Mercedes Benz und gehört Max Quercher. Und jetzt beleidigen Sie bitte nicht meinen Intellekt. Sie beschatten den derzeit bekanntesten Rechtspopu-listen der Republik. Einfach so, quasi als Beschäftigung in der faden Zeit der Suspendierung beziehungsweise der Krankentage. Dass Kollegin Nishali Ihnen das Gerät widerrechtlich innerhalb Ihres Erziehungsurlaubs zur Verfügung stellt, reicht für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens. Was da am Ende auf Sie zukommt, wissen Sie: vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst unter Kürzung der Pensionsansprüche. Ein für Sie, Herr Quercher, nicht unwichtiges Detail.«
Gerass saß am Ende des Tischs wie eine böse Rachegöttin. Das gefiel ihr. Pollinger ließ sie gewähren. Das wiederum machte Gerass stutzig. Sie hatte mit mehr Widerstand gerechnet.
»Lassen Sie mich auch zu Ihnen, Dr. Pollinger, ein Wort sagen. Mir steht es nicht zu, Ihnen Vorschriften zu machen. Gleichwohl führe ich, wenngleich auch vorerst kommissarisch, die höchste bayerische Polizeieinheit. Verantwortung, das wissen Sie alle, heißt, nicht nur auf Pressekonferenzen und gegenüber der Politik den Kopf hinzuhalten. Verantwortung bedeutet, dem Rechtsstaat in jeder Hinsicht zu folgen. Ich werde hier kein Rechtsseminar halten. Aber gerade in diesen Zeiten, in denen Menschen zu Recht und zu Unrecht befürchten, ausgehorcht zu werden, lege ich sehr viel Wert darauf, dass mein Name, mein Verantwortungsbereich nicht in Verbindung mit Ihren, sagen wir, Grauzonenmethoden gebracht wird.«
Pollinger stand gemächlich auf und nahm eine seiner Rostwasserflaschen aus einer Holztrage. Diese hatte Quercher von Toni Birmoser, dem Cousin des verstorbenen Schreiners, als Dank für die Aufklärung des Falls im Winter bekommen.
»Ich darf Ihnen, werte Kollegin, dieses Heilwasser empfehlen. Es wirkt bei Entzündungen ebenso wie bei Blähungen. Vielleicht ist das alles Nonsens. Vielleicht aber auch nicht. Ich habe, seitdem ich von meinem Krebsfreund in meinem Innern weiß, gelernt, in Optionen zu denken. Wie heißt es so schön: Was heilt, hat recht.«
Gerass sah ihn entgeistert an. Kam jetzt eine philosophische Betrachtung eines senilen, todkranken Mannes?
»Nein, keine Angst, Frau Dr. Gerass. Der Krebs war im Magen, nicht im Kopf. Ich teile Ihre Einschätzung voll und ganz. Unkonventionell zu sein, ist ja meist nur eine Ausrede, weil man offiziell nicht weiterkommt. Die einen nutzen Wanzen, die anderen benehmen sich wie welche. Wo ist da die Grenze?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Mir ist klar, dass Ihnen die Querverbindung zwischen unserer Arbeit und der Politik nicht so geläufig und manchmal auch nicht sehr geheuer ist. Ja, ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es Sie anwidert. Beide Bereiche, so glaube ich aus Ihren Worten herauszuhören, müssen strikt getrennt sein.«
Sie nickte, jetzt etwas unsicher, weil sie noch immer nicht wusste, ob Pollinger provozieren oder wirklich etwas Substanzielles von sich geben wollte.
»Nun, unser allseits geschätzter Kollege Picker hat ja derzeit noch Rückendeckung. Ich betone das Wort ›noch‹. Denn sich gegen die Bewohner des Tegernseer Tals in derart harscher Weise zu richten, birgt Risiken – für alle Beteiligten.« Er sah Gerass lächelnd an. »Und damit will ich das Thema Karrieremöglichkeiten gar nicht weiter vertiefen. Das hier ist Oberbayern. Hier ist Gottes Land. Und in Gottes Land ist nichts schmutzig. Aber Picker tut so, als sei das hier eine einzige Kloake. Und das bei einer sehr dünnen Faktenlage, liebe Kollegin. Weder hat er einen Verdächtigen – und jetzt lassen wir einmal den bedauernswerten Bürgermeister aus Bad Wiessee außen vor, der, da bin ich mir sicher, noch heute Abend wieder seine Frau pflegen kann. Noch hat Picker auch nur den leisesten Schimmer, wo die anderen zwei Kinder zu finden sind. Er ist quasi immer noch dort, wo diese Kollegin da drüben das Spielfeld verlassen musste.« Er deutete auf Julia.
Gerass wollte etwas einwenden.
Aber Pollinger hob nur seinen knochigen Arm. »Ich habe zeit meines Lebens nie das Unmögliche ausgeschlossen. Ich sprach ja bereits über Optionen. Markus Sareiter ist so eine Option.« Er machte eine Pause. »Und eine weitere Option ist, dass die Entführer Informationen aus dem Ermittlerbereich haben. Wie sonst sind solche Vorgehensweisen wie in den letzten Tagen zu erklären?«
Gerass erschrak innerlich. Der Gedanke an einen Maulwurf in den eigenen Reihen war ihr nicht fremd. Ein Mitarbeiter des Innenministeriums hatte sie auch schon unter zwei Augen darauf angesprochen. Sie hatte es vehement verneint. Aber es war nicht unmöglich.
»Vielleicht Humbug wie das Wasser hier, vielleicht aber auch eine bislang nicht in Augenschein genommene Spur, die uns alle heilt«, unterstrich Pollinger.
»Wollen Sie allen Ernstes, dass ich die drei Kollegen hier weiter gegen den in allen Zeitungen vertretenen Politstar Sareiter ermitteln lasse? Der hat einen der größten Verleger des Landes auf seiner Seite.«
Pollinger lächelte. »Ja, und der wiederum hat eine Frau, die schwer kokainsüchtig ist.«
Schweigen legte sich über die Runde. Das war Pollingers Ass. Und Gerass war schlau genug, keinen Bluff zu vermuten. Es war in Polizeikreisen längst bekannt, dass das exaltierte Verhalten der deutlich jüngeren Frau Weldes auf Drogenkonsum zurückzuführen war. Aber wer sollte Welde damit drohen?
»Frau Dr. Gerass, ich schlage Ihnen eine Arbeitsteilung vor. Die drei Musketiere da drüben werden aufgrund unserer Weisung ermitteln. Sie nehmen den Faden wieder da auf, wo das BKA ihn vor einiger Zeit hat fallen lassen. Das sollten die Kollegen in Wiesbaden zwar wissen, aber das können wir dort ja mit einiger Verzögerung platzieren. Die drei hier werden in den nächsten Tagen etwas, lassen Sie es mich so sagen, professioneller agieren. Sie selbst sind ohne Wissen, werden von mir aber gleichwohl informiert. Sollte das Ganze den unwahrscheinlichen Weg in die Öffentlichkeit finden, stehe ich dafür gerade. Der bayerischen Staatsregierung liegt sehr daran, dass rechtspopulistische Phrasendrescher nur in der eigenen Partei vorkommen.«
»Das ist alles ganz wunderbar von Ihnen ausgedacht worden, Herr Dr. Pollinger. Aber ich kann dafür kein grünes Licht geben.«
Gerass wusste, dass sie hart am Wind segelte. Pollinger war noch immer offiziell Leiter des Landeskriminalamtes. Es käme einer Palastrevolution gleich, sich seinen Anweisungen zu widersetzen. Aber auch dem Alten war klar, dass Gerass nicht in etwas hineingezogen werden wollte, was sie nicht kontrollieren konnte. Also gab er ihr ein letztes Zuckerlein.
»Die drei werden ohne polizeiliche Unterstützung agieren. Offiziell werden sie suspendiert. Nur wir zwei wissen, dass sie für uns tätig sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir so etwas machen. Also, die Herrschaften geben Dienstausweis und Waffe ab, werden aber weiter ermitteln. So können Sie, liebe Frau Dr. Gerass, sicherstellen, dass Informationen nicht an die Entführer gehen und gleichzeitig eine weitere, ungewöhnliche Spur verfolgt wird. Sie haben also alles Mögliche getan.«
Kapitel 49
Stuttgart, 25. 05., 20:35 Uhr
»Wenn Sie abends nach Hause kommen und auf eine Herrenrunde treffen, die sich widerliche Kinderpornos ansieht, muss lediglich der Besitzer des Bildmaterials mit einer Strafe rechnen. Und wenn der Mann nicht vorbestraft ist und es sich um weniger als vielleicht zehn Bilder handelt, wird das Verfahren gegen eine geringere Geldstrafe eingestellt. Das ist unsere aktuelle Rechtsprechung. Generell bekommen solche Menschen nur maximale Strafen von bis zu zwei Jahren. Auch wenn sie im Bundestag sitzen.«
Das Publikum stöhnte auf. Sareiter hatte leichtes Spiel. Wenn es um Kinderpornografie ging, waren die Menschen hellwach. Denn das deutsche Recht war in diesem Beriech äußerst lax, trotz vieler Bemühungen in den letzten Jahren.
»Lassen Sie mich einen Kollegen, den Oberstaatsanwalt Peter Vogt, zitieren: Offensichtlich ist unserer Gesellschaft die körperliche Unversehrtheit unserer Kinder nicht so viel wert wie eine Tafel Schokolade. Denn schließlich drohen bereits bei einfachem Ladendiebstahl in Deutschland eine Geldstrafe oder Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren. Erst 2004 ist der Besitz von kinderpornografischem Material strafrechtlich aufgewertet worden. Bis dahin war es mit dem Fahren ohne Fahrerlaubnis vergleichbar, was bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe bedeutet, jetzt hat es das gleiche Strafniveau wie Sachbeschädigung, nämlich bis zu zwei Jahre«, ergänzte Sareiter sarkastisch.
Das Publikum schüttelte ungläubig den Kopf.
Er war völlig durchgeschwitzt, als er die Bühne unter dem tosenden Beifall der mehr als dreitausend Zuschauer verließ. Die Arbeit aber war noch nicht getan für diesen Abend. Er würde nach einer kurzen Dusche und einem Kleiderwechsel im Hotel mehrere hochrangige Vertreter des deutschen Geldadels treffen. Hier in Schwaben hatte sich ein Freundeskreis zusammengeschlossen, der Sareiters Arbeit bewunderte und ihn im nächsten Wahlkampf finanziell unterstützen wollte. Diesen galt es, heute Abend noch ein wenig zu unterhalten. Der Fahrdienst eines deutschen Autobauers holte ihn hinter der Halle ab, um ihn zum Hotel zu fahren. Neben ihm saß sein Sprecher Klaus Lorassi.
»Ich brauche knackige, klare Sätze zu unserem Programm«, wies Sareiter ihn an. »Sinngemäß: Auf drei Säulen steht unser Programm. Denkbar einfach. Gegen Bürokratie, gegen Justizfilz, für mehr Verantwortung und Leistung. Das Programm wendet sich an die Leistungsträger aller Schichten. Es ist antiliberal und besitzt den Gedanken einer Volksgemeinschaft. Ja, schreib ruhig ›Volksgemeinschaft‹. Das wird der Aufreger. Da beißen sich die Journalisten dran fest, werden wieder die Faschismuskeule schwingen. Das bringt uns Zulauf.«
Sareiter sah das Hotel. In fünf Minuten würde er bereit sein. Kaum hatte die schwere Limousine vor dem Eingang geparkt, war er grußlos hinausgesprungen, hatte nicht einmal zur Rezeption gesehen und war zu einem leeren Konferenzsaal geeilt. Unter einer der Reihen mit aufgestapelten Stühlen war ein Handy mit Paketband befestigt worden. Sareiter riss es ab und steckte es sofort in seine Tasche. Kaum hatte er sein Hotelzimmer betreten, fing das Telefon an zu summen. Er nahm den Anruf an, setzte sich auf sein Bett und hörte zu. Dann klopfte es plötzlich an der Tür. Sareiter runzelte irritiert die Stirn und legte das Handy auf dem Kissen ab. Noch immer leuchtete das Display. Als er sich erhob, rutschte das Telefon auf den Teppich.
Der Mann roch. Aber er sah trotz der verfilzten Haare gut aus. Ein Frauentyp, fand Sareiter.
»Sie kennen mich nicht. Ich bin Mark Bolen. Die suchen mich. Und Sie müssen mich verteidigen.«
Sareiter konnte es nicht glauben. »Sind Sie mir gefolgt? Woher wissen Sie, dass ich hier bin?«
Hektisch zog er den Mann in sein Zimmer. Was hatte der Typ von ihm mitbekommen? Sareiter spürte Angst. Er war zwar gut trainiert. Aber dieser tätowierte Kerl strahlte eine fast greifbare Aggression aus. Sein kräftiger Körperbau und die schwieligen Hände, die er jetzt unsicher aneinanderrieb, strömten jene verzweifelte Wut eines in die Enge getriebenes Tieres aus, dachte Sareiter verächtlich.
Seine Stimme war dunkel. »Ich habe nicht weit von hier auf dem Frühlingsmarkt gearbeitet. Dann kam mein Bild im Fernsehen. Und die anderen auf der Kirmes haben mich erkannt. Mir glaubt doch keiner. Ich bin der Vater von Laurenz, dem entführten Jungen.«
Sareiter hatte sich inzwischen wieder auf sein Bett gesetzt und sah aus wie ein Schuljunge, der beim Masturbieren überrascht wurde.
»Ich hab Sie im Fernsehen gesehen und dann in der Halle heimlich beobachtet, und da war ich sicher, dass der Sareiter mir helfen tut. Gegen die Justiz verteidigen und so, gegen die, die mich wieder in den Bau bringen wollen. Bin einfach Ihrer dicken Karre hinterher mit einer Vespa. Von einem Freund.«
»Ich werde Sie nicht verteidigen. Ich mache das nicht mehr. Und ich mache das erst recht nicht, wenn ich abends auf meinem Hotelzimmer so bedrängt werde.« Sareiter erhob sich, um nicht weiter von unten nach oben schauen zu müssen. »Gehen Sie, bitte. Ich gebe Ihnen die Nummer eines Freundes, der ist auch Strafverteidiger. Der ist sicher besser. Glauben Sie mir.«
»Nein, nein. Das reicht mir nicht. Ich will von Ihnen verteidigt werden. Wenn ich da hingehe, dann wimmelt der mich bestimmt ab.«
»Was soll ich denn jetzt tun für Sie? Ich kann doch nicht …«
»Rufen Sie Ihren Freund an. Sehen Sie, da liegt doch das Telefon.« Der Mann bückte sich, um es aufzuheben.
Sofort sprang Sareiter nach vorn. Plötzlich war er völlig hektisch, fast von Sinnen. »Geben Sie her, das gehört mir!«, kreischte er.
Sofort wich der Mann zurück. Sareiter sah, dass das Display des Handys immer noch leuchtete. Jetzt wurde die Panik zur Verzweiflung. Nur dreißig Sekunden. Länger nicht.
»Gehen Sie bitte vor die Tür. Ich bitte Sie.« Es war ein irrer Vorschlag, aber in der Not kam Sareiter nichts anderes in den Sinn.
Tatsächlich drehte sich der Mann um und verließ das Zimmer. »Ich stehe draußen und warte.«
Kaum war die Tür verschlossen, drückte Sareiter den Anruf weg und wählte eine neue Nummer. Und es war nicht die der Polizei. Als er aber danach vor die Tür trat, um mit seinem Besucher zu reden, war der Flur leer.
Der Mann, der sich als Mark Bolen ausgegeben hatte, hatte das Hotel über den nicht überwachten Seitenausgang verlassen. Von dort war er bis hinunter zum Bahnhof zu Fuß gelaufen, hatte eine Tüte mit einer Perücke in den Mülleimer geworfen und sich in den letzten Zug nach Ulm gesetzt.
Kurz bevor er dort in den Bahnhof einfuhr, bekam er eine SMS. Danke, Hanno. Dafür hast du eine Tankfüllung frei.
Der Mann grinste. Er schrieb nur einen Satz zurück: Juli, für dich mache ich alles.