Die weit entfernte, falsche Stimme – Ägypten

Zuerst veröffentlicht in „SBC Magazine“, WINTERAUSGABE 2001

Es war eine Reise, die – wie ich dachte – niemals enden würde. Eine Reise ins Heimatland meiner Mutter. Es war eine heiße, endlose Reise in einer Karawane entlang des Nils von der ägyptischen Stadt Asyut ausgehend. Die Karawane machte mehrere Pausen über Nacht. Die Lageplätze waren ungemütlich, von Flöhen befallen, schwach beleuchtet und das Essen war grauenhaft. Nachts lag ich wach und fragte mich, warum ich dort war. Die Reise diente als Respektbezeugung für die Familie meiner Mutter, denn ihr Vater – ein Mann, den ich nicht gekannt hatte – war verstorben. Ich war der einzige meiner 13 Geschwister, der kommen konnte. Meine Mutter, eine Hausfrau, erzählte mir, dass sie aus einem Nomadenstamm von vornehmer Abstammung war, der aus dem heutigen südöstlichen Sudan und Westäthiopien stammte.

Sie heiratete einen Ägypter, meinen Vater, der zu dem Zeitpunkt Händler gewesen war. Heute ist er Staatsmann, und mit solch einer Stelle kommt Arroganz. Er nahm die westlichen Verhaltensweisen und das westliche Denken von den britischen Besetzern an. Es war einfacher für ihn, sich dem britischen Lebensstil anzupassen. Er war Christ. Er sah auf die Kultur meiner Mutter herab und verbot ihr, uns von ihrer Kultur zu erzählen. Seine Anmaßung überschattete sein Herz, denn er verbot meiner Mutter, die Beerdigung ihres eigenen Vaters zu besuchen.

Um ehrlich zu sein, hatte ich keinerlei Interesse zu gehen. Als ich jedoch meine Mutter zuletzt besucht hatte, überwältigten ihr Weinen und ihre Bitten, dass ihr Lieblingssohn gehen sollte, meinen Verstand und mein Desinteresse.

Ich erinnere mich daran, wie ich Mohammad sagte, dass ich gehen musste und dass es eine einmonatige Reise sein würde. Er erwiderte nichts. Drei Wochen vor meiner geplanten Abreise sagte ich es ihm erneut, aber er blieb immer noch stumm. Er war kein Mann vieler Worte, was mich verärgerte. Er stand wie jeden Abend aus dem Bett auf und ging ins Badezimmer. Er wusch sich in Vorbereitung fürs Gebet. Ich erinnere mich, wie das schwache Licht mich blendete und ich nur seinen Umriss im Badezimmer erkennen konnte. Es war mein Badezimmer. Schweigend wusch Mohammad sein Gesicht, seine Hände und Füße und kam zurück ins Schlafzimmer. Ich war wütend auf ihn. Ich zahlte die Miete. Muslime brachten stets ihre eigenen sujada—besondere Gebetsteppiche. Dieses Beten in meinem Schlafzimmer hatte mich schon immer gestört. Als er in derselben Richtung kniete– genau so wie er es jede Nacht in meinem Zimmer für die letzten 6 Monate, die wir zusammen gewesen waren, getan hatte – stütze ich mich auf einem Arm ab und beobachtete ihn vom Bett aus. Ich betrachtete seine Schönheit. Seine braune Haut, die eine Art rötliche Nuance hatte. Lippen so groß und schwarz, dass man meinte, sie wären aufgemalt. Sein Kontrast war bemerkenswert. Sein Haar in dicken, schwarzen Locken. Er war, wie ich, eine Mischung afrikanischer Farben, Kulturen und Einflüsse. Ich möchte sagen, dass er auch wie ich aussah, aber das wäre gelogen.

Als er sein Gebet beendet hatte, ging er zurück ins Badezimmer und wusch sich erneut. Er kehrte ins Bett zurück. Wir hatten Sex. Als wir uns ausruhten, griff Mohammad unters Bett und überreichte mir eine braune Schriftrolle. Auf ihr waren 25 Gedichte von Tarafah ibn al-'Abd verfasst. Sie war mit einem einzelnen roten Band und einer Blume versehen, die im Knoten der Schleife befestigt war. Mohammad las mir Gedicht Nummer 6 und Gedicht Nummer 10 vor, während ich in Verwunderung da lag. Es war Gedicht Nummer 10, das mir ein Lächeln entlockte. Wir lachten gemeinsam. Das Gedicht war auf manche Weise wunderschön, obwohl es sich ein wenig über Wüstenmenschen lustig machte. Die Schriftrolle war ein Geschenk. Er hatte mir noch nie zuvor etwas geschenkt – nichts, das bestätigt hätte, dass ich mehr als ein Freund war. Er sagte, dass das Geschenk für meine Reise gedacht war, aber ich wusste, dass es mehr bedeutete. Ich war erstaunt über meine Erkenntnis, dass Mohammad und ich in den letzten sechs Monaten Liebe gemacht und nicht bloß Sex gehabt hatten. In diesen letzten sechs Monaten sah Mohammad dies als sein Zuhause und mich als seinen Gefährten an. Ich wusste, dass dieses Geschenk vor allem bedeutete, dass er mich vermissen würde.

Ich erinnerte mich sehr gut an diese letzte Nacht mit Mohammad, als ich in meinem verflohten Zelt lag und mir wünschte, die Reise würde enden. Ich war in meinem dritten Lager. Diese Nacht schien lange her zu sein. Mohammads Stimme war sanft und süß, als er mir die Gedichte auf arabisch vorlas. 25 Gedichte waren Seite an Seite auf der ledernen Schriftrolle geschrieben. Es muss ihn seinen letzten Groschen gekostet haben. Jede Nacht schlief ich mit der Schriftrolle in meinen Armen ein.

Mohammads Stimme war nichts als eine entfernte Erinnerung, als die heiße Sonne auf die mit Tüchern bedeckten Köpfe der Reisenden in einem überfüllten Wagen schien, der die Schotterstraße entlang des Nils fuhr. Nutztiere folgten ihren Besitzern, die im Wagen dahinsiechten, während auf uns die heißen Sonnenstrahlen niederbrannten.

Als wir Nimoli erreichten (den heutigen südlichen Sudan), ritt ich mit einem Hirten, der mir ein zusätzliches Kamel bereitstellte, das mich zum Lager des Kasrashu Klans bringen würde.

Der Kasrashu Klan war ein Nomadenstamm, der während der Monsunzeit wanderte, um nach Nahrung und Weideland zu suchen. Dies war das Volk meiner Mutter. Sie waren einfache Menschen. Ein Stamm. Als ich ihr Lager erreichte, bemerkte ich, dass sie mir sehr ähnlich sahen. Es gab 76 Stammesmänner, Frauen und Kinder. Außerdem waren 42 Kamele und 22 Ziegen unter ihnen. Die Stammesmitglieder trugen mehrere Schichten an Stofftüchern, die sie in unterschiedlichsten Weisen einhüllten.

Sie waren mir freundlich gestimmt, bis ich sie auf Arabisch ansprach. Ich erzählte ihnen, dass ich der Sohn von Basamat war; Enkel von Majdi. Niemand antwortete. Nach einigen unangenehmen Sekunden stellte sich eine einzige Stimme auf Arabisch als Mansour vor. Er war der Bruder meines Großvaters. Ich fragte ihn, wieso er Arabisch sprechen konnte. Er erwiderte, dass man mit den Händlern in keiner anderen Sprache Tauschhandel treiben könne. Der Kasrashu Klan sprach bloß Dinka.

In dieser Nacht fanden eine Versammlung des Klans und eine Willkommensmahlzeit zu meinen Ehren statt. Der Kasrashu Klan zeigte mir seine Liebe. Sie behandelten mich wie einen fernen Verwandten, der seinen Weg nach Hause gefunden hatte. Geschenke, Lieder, Essen und Getränke wurden mir von den älteren Frauen des Klans präsentiert. Ihre liebevollen Umarmungen, Gesichter und Düfte waren denen meiner Mutter ähnlich. Ich vermisste sie, aber konnte ihre Präsenz fühlen. Ich fühlte mich während der Mahlzeit entspannter.

Während der Festivitäten erweckte ein junger Mann, dessen Augen schwarzen Perlen glichen, meine Aufmerksamkeit. Der junge Mann näherte sich mir mutig und erzählte mir, dass er mein Cousin Kadaru sei. Kadaru wies eine seltsame Ähnlichkeit mit Mohammad auf – oder war es bloß Einbildung?

Sein Lächeln und Interesse verrieten viel, als er mich zum Nachtlager wegführte. Ich schlief in seinem Zelt. Es war üblich, dass die Tageskleidung nachts als Zudecke benutzt wurde. Nomadenstämme waren stets effizient, was dies anging. Kadaru drehte sich zu mir, um mich zu umarmen. Er roch scheußlich, doch mein einsamer Körper hieß seine Annäherungsversuche willkommen. All die Qual und Müdigkeit der langen Reise wichen einem leidenschaftlichen sexuellen Erlebnis, das mich fast euphorisch stimmte. Als es vorbei war, lagen Kadaru und ich Seite an Seite. Ich streichelte seine Schulter und seinen Arm. Er flüsterte in gebrochenem Arabisch, dass er mich liebte. Obwohl ich euphorisch und dankbar gegenüber Kadaru war, wusste ich, dass er die Bedeutsamkeit seiner Worte nicht verstand. Ich wechselte das Thema und fragte ihn, wo er Arabisch gelernt hatte. Er antwortete, dass er es von den Händlern aufgeschnappt hatte. Er gab zu, dass seine Sprachkenntnisse schlecht waren, aber dass er sie verbessern wollte. Ich wusste nicht, ob dies eine Anspielung an mich war. Als er meine Brust streicheln wollte, berührte seine Hand die Schriftrolle, die unter meiner Decke versteckt lag. Ich fühlte mich beschämt. Mein Kopf spielte mir Visionen von Mohammad vor. Kadaru öffnete die Schriftrolle. Er hielt bei Gedicht Nummer 10 inne und begann vorzulesen. Sein Lesen war bedürftig. Seine Stimme rau. Sein Lesen brach meinen euphorischen Bann. Seine Stimme, sein Tonfall und seine Flexionen stießen Dolche in mein Herz. Er war nicht Mohammad. Es verstörte mich. Es war nicht der Kontext des Gedichts; es war Kadaru, dieser Ort, sein Volk. Es war die falsche Stimme und ich war weit entfernt von allem, was mir behaglich war. Ich brauchte Mohammad.

Ich entriss das Buch seinen Händen, während er vorlas. Meine Abweisung beleidigte ihn. Kadaru schlug mich wuterfüllt und alsbald fand ich mich vor seinem Zelt vor, wo er mich mit all meinen Habseligkeiten bewarf. Ich sammelte ein, was möglich war, kleidete mich und lief davon – ohne ein Wort. Ich verabschiedete mich von niemandem. Es war Nacht, aber ich war mir sicher, dass ich in die richtige Richtung dem Nil entgegen lief. Ich war wütend. Ich wusste nicht warum, aber ich hasste die gesamte Menschheit. Ich hasste Nubien, Ägypten und alle Menschen, die ich bis dahin getroffen hatte.

Ich schwieg während der gesamten Heimreise. Ich fand ein Binnenschiff und saß zwischen der Fracht und steuerte nachts, während der einzige Bootsmann schlief. Wie auf der Hinreise schlief ich nur wenig. Ich wusch mich nicht und aß nichts. Ich trank bloß Wasser. Der Nahrungsmangel ließ mich fantasieren. Bei meiner Ankunft am Hafen von Asyut empfing mich niemand. Mohammad musterte mich mit Entsetzen, als er meine ungepflegte Erscheinung in der Türschwelle unseres Eingangs entdeckte. Er erkannte mich kaum wieder. Ich erzählte ihm alles von meiner schrecklichen Reise. Trotz meines Widerspruchs entkleidete er mich, badete mich und brachte mich zu Bett, nachdem er mir Suppe gereicht hatte. Mohammad verließ das Zimmer mit der schmutzigen Kleidung meiner Reise, als ich ihm erzählte, dass ich Ägypten verlassen wollte. Er kehrte mit der Schriftrolle in seinen Händen zurück – der Schriftrolle, die er mir geschenkt hatte. „Wohin würden wir gehen?”, wollte er wissen. Seine Antwort und seine sanfte Stimme heiterten meine Stimmung auf. Mir wurde bewusst, dass Mohammad sich seit dem Moment, als ich das Haus betrat, um mich gekümmert hatte. Etwas, das er noch nie zuvor getan hatte. Ich starrte ihn bewundernd an. Auf Arabisch sagte ich: „Mohammad, ich liebe dich.“ Mit diesen Worten fiel ich in Ohnmacht. Ich fühlte, wie mein Körper aus Erschöpfung zusammenbrach. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich bereits im Bett lag. Mohammad legte sich neben mich, schnürte das Band der Schriftrolle auf und las mir ein Gedicht vor. Ironischerweise war es Gedicht Nummer 10. Während er vorlas, sah ich die Erinnerungen meines Cousins Kadaru vor mir aufblitzen. Ich wandte mich Mohammads Antlitz neben mir zu und seine Worte entfernten sich langsam, als mich seine sanfte Stimme in den dringend benötigten Schlaf wog.