Kapitel 1

Adam auf der Eisdecke

Am Anfang war das Blatt leer, unbeschriebenes, weißes Papier. Kein einziger dunkler Fleck war darauf zu sehen, weder Punkt noch Komma. Der Fjord war eine einzige, augenlose Schneedecke, vom Wasserfall an seinem hintersten Ende bis zur Mündung ins Meer, und es war unmöglich zu erkennen, wo sich unter ihr Wasser und wo Land befand. Der Neuschnee hatte alle Zeichen der Anwesenheit von Menschen getilgt, der Fjord lag ebenso unberührt unter dem Nordhimmel wie an jenem Tag vor 999 Jahren, an dem er entdeckt und besiedelt worden war.

Diese leere Seite betritt nun ein Mensch, ein erschöpfter Geist mit reifbedecktem Bart über einem verschwitzten Pullover, ein hohlwangiger Mann, der natürlich nicht anders heißen kann als Eilífur Guðmundsson. In der Scharte auf dem Berggrat bleibt er stehen und schaut über den Fjord, der kein Fjord mehr ist, sondern ein schneeweißes Blatt Papier, leer, bis die Geschichte beginnt. Jetzt stapft er in sie hinein, spurt den Anfang, sinkt in dicken Überstrümpfen und flachen Schuhen aus Haileder bei jedem Schritt bis zu den Knien ein. Wir hören seinen keuchenden Atem, vom anstrengenden Gehen ist ihm warm geworden; er versteht gerade gar nichts mehr, er wohnt doch hier, hat hier Vieh und Familie, aber er kann sein Haus nicht finden, obwohl der dreitägige Schneesturm abgezogen ist und der Himmel all seine Schneeschauerröcke gelupft hat.

Eilífur Guðmundsson eilt die Scharte hinab, pulverschneestiebend wie eine glasbärtige Dampfmaschine. Wir folgen dem Schwitzenden mit den kalten Füßen und dem Weihnachtsweizen im Sack und hören seinen rasselnden Atem. Wir hören ihn besser als er selbst, denn wir sind Büchermenschen und verfolgen die Dinge aus gehöriger Entfernung; von der vollkommenen Stille des Lesens umgeben, die um das Bettzeug herrscht, genießen wir es, die Verzweiflung anderer im Schein der Nachttischlampe zu betrachten.

Im Laufe seines Abstiegs wird der Pulverschnee zu Tiefschnee, der Tiefschnee zu Sulzschnee, der Sulzschnee zu Harsch. Der Wanderer sinkt nur noch mit den Sohlen ein bei seinen Schritten heim zu dem, was er für sein Zuhause und sein Leben hielt und das auf Landkarten als Stundarkot eingezeichnet ist, nun aber nicht mehr, denn auch der Hofname liegt unter Schnee begraben. Selbst der Fels von Sólarklettur ist verschwunden, die nie trügende Landmarke, die sonst immer mindestens teilweise frei liegt, ein ewiger Wegweiser für das Heute und das Morgen. Es gibt nichts mehr in der Welt, nichts Festes mehr, an dem man sich festhalten könnte. Der Bauer steht an der Stelle, wo sich sein Hof befand, stößt Atemwolken aus und blickt durch diesen transparenten Dampf mit großen, schwarzen Pupillen, den einzigen dunklen Punkten in diesem weißen Tal; sie klimpern an seinem Grund wie zwei Bohnen in einer Schüssel.

Teufel noch mal, geht es mir jetzt wie dem Adam auf der Eisdecke in Lásis Reimgedicht, dachte Eilífur Guðmundsson und murmelte, ohne sich dessen bewusst zu sein, die berühmten Zeilen aus dem Buch Lási. Der heidnische Zimmermann Sigurlás auf Ytri-Skriða hatte sich einen Winter lang die holzlose Zeit damit vertrieben, etliche der biblischen Geschichten aus den Büchern Mose nach Island zu versetzen.

Auf der Eisdecke Adam stand aufrecht

in Evas Kleidern.

Da watete hüfthoch das Menschengeschlecht

mit Schnee in seinen Adern.

Eilífurs Verzweiflung war so groß geworden, dass er die Mütze abnehmen musste. In der Mitte seines vereisten Barts klaffte eine breite Schmelzrinne. Sie reichte von der Nase zum Mund und weiter bis zum Kinn, wo sie endete. In der Gegend war dieses Phänomen allgemein unter der Bezeichnung »Nasentau« bekannt. Eilífurs schmuddeliges Haar klebte bis zu den großen Ohren in schweißnassen Wellen an seinem Kopf, auf dem ganz oben die Glatze eines Endvierzigers glänzte. Er stapfte hin und her auf dem, was sein Hofhügel sein musste – wo er jedenfalls, nach sämtlichen Orientierungspunkten zu urteilen, liegen musste, aber nun von sämtlichen Landkarten ausradiert war –, und blaffte in die Luft wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat, den Bissen aber nicht findet. Endlich blieb er stehen und schaute fjordauswärts. Selbst die Kirche von Fanneyri schien im Schnee versunken zu sein, dabei hatte sie einen Turm und war schwarz angestrichen. Die Haifangboote Kristmundurs auf Hvammur waren ebenfalls unsichtbar, obwohl die geteerten und hoch auf ihren Böcken gelagerten Planken am Strand vor dem größten Hof im Segulfjörður sonst nie dem Schnee zum Opfer fielen.

Hatte es dermaßen geschneit, oder waren hier nacheinander vierzehn Lawinen niedergegangen? Und das am Heiligen Abend?