Kapitel 4

Neunundneunzig Forellen

Eilífur kam erst spät, das Licht am Himmel ließ bereits nach, und die meisten anderen befanden sich schon auf dem Heimweg, es war ein Schneesturm im Anzug. Eine Einkaufstour stand aber noch aus; auf einer Bank gegenüber dem dänischen Ruderer, einem jungen, noch bartlosen Kerl mit krebsrotem Gesicht, hockte der einarmige Bauer auf Tvíhamar im Óðalsfjörður mit seiner ewigen Gewittermiene. Aus Ehrfurcht vor Kopp und Krone hielt er seine Kopfbedeckung trotz der Kälte in der Hand. Der Kaufmann stand noch am Ufer, als der große Mann mit seinem leeren Sack erschien.

»Stundarkot? Du hast bei mir nichts abgeliefert.«

»Nein, wir Segulfjorder liefern gewöhnlich an den Fanneyrihandel von Sigurður.«

»Was hast du dann hier verloren? In meinem område und meinem Schiff?«

»Dem guten Mann ist das Getreide ausgegangen. Das Treibeis!«

»Das ist mir ein armer Kaufmann, der sein Magazin leer werden lässt. Was soll das für ein Unternehmen sein?«

»Er sagt, auf Säcken schlafe er nicht besonders gut, der Sigurður.«

»Ach so? Und was hast du heute für mich? Im Segulfjörður drucken sie ja nicht gerade Geld.«

»Ich dachte mir … hm, dreizehn Forellen für drei Kilo Weizen. Es ist ja Weihnachten, und die Frau …«

»Ah, Weihnachten und die Frau. Soso! Und wo sind die Forellen?«

»Im See zu Hause.«

»Aha. Und warum hast du sie nicht mitgebracht?«

»Na ja, er ist doch vereist, der See, knüppeldick zugefroren.«

»So? Und wann bekomme ich sie dann?«

»Im Frühling. Im Frühling kann ich sie abliefern.«

»Drei Kilo Weizen für dreizehn ungefangene Forellen? Ich verlange dreiunddreißig Forellen pro Kilo Weizen.«

Auf den letzten Worten rutschte der Kaufmann ein wenig aus, und Eilífur erkannte, wie auch andere Umstehende, dass der Rum des Schiffskapitäns Wirkung zeigte. In der Nähe stand der Pferdeknecht des Kaufmanns mit Hund und Pferden sowie zwei namenlosen menschlichen Schemen, und sie hörten das Gespräch mit an, ebenso wie zwei Bauern etwas weiter entfernt, die sich über ihre frisch gefüllten Säcke beugten und sich mit ihren Kötern für den Heimweg rüsteten.

»Neunund… Forellen?«, wiederholte Eilífur und spürte, wie sein Herz heiß wurde und siebzehn verschiedene Gedanken in seinen Blutkreislauf pumpte. Was konnte man dazu sagen?

»Jawohl, ni og halvfems ørreder!«

Eilífur betrachtete einen Moment das trunkene Gesicht des Kaufmanns, die kleine Nase, die großen Wangen, den gewichsten Schnurrbart, die eingesunkenen Augen unter dem glasharten Hut. Und plötzlich sah er vor sich, wie an einem schönen Frühlingsabend neunundneunzig Forellen aus dem Stundarvatn aufstiegen, durch den Fjord und über die Berge und eine weite Strecke durch die Luft schwebten, bis sie wie ein Kometenschweif über Fagureyri auftauchten, Kurs auf das Holzhaus von Kopp nahmen, dort in den Schornstein eingesaugt wurden, aus dem Herd herausflogen und geradewegs in die Diele marschierten (die führende Forelle fand gleich heraus, wo das Esszimmer lag). Dort stellten sie sich im Licht der Deckenlampe in einer Reihe entlang des Esstischs auf, an dem Herr Kopp mit umgebundener Serviette und offenem Schlund saß. Da hinein verschwanden sie mit großer Geschwindigkeit, eine nach der anderen. Neunundneunzig Mal musste der Kaufmann schlucken.

All das sah er vor sich. Nur sagen konnte er nichts. Und so standen sie voreinander, der langgliedrige, erschöpfte Bauer und das beträchtliche Gesäß. Aus dem einen stieg eine Atemfahne auf, der Rauch aus dem Schornstein einer menschlichen Maschine, aus dem anderen kam nichts, er schien aus massivem Holz geschnitzt zu sein. Wie war es möglich, dass das kleine Holzmännlein auf einen so hochgewachsenen Mann herabsah? Der große Zylinder reichte Eilífur gerade mal bis zu den Augen. So hatte der Bauer das kreisrunde Hutdach des Kaufmanns horizontal im Blick, und es glich nichts mehr als einem wunderschönen Fleckchen des Paradieses: Obwohl gerade Schneeflocken vom Himmel fielen, blieb keine von ihnen auf dem edlen Dache liegen. Doch plötzlich ging im Gesicht Kopps eine leichte Veränderung vor sich, und einige Schneekörner später drehte er das Gesicht seewärts. Erbrochenes flog in einem langen, majestätischen Bogen aus seinem Mund und landete mit lautem Platschen im Wasser.

Eilífur blickte zum Boot und sah, dass es sich bei dem Mann, der mitten im Gespräch mit Kopp in die Jolle geklettert war und sich neben den einarmigen Bauern mit dem verbiesterten Gesicht gesetzt hatte, um niemand anderen als einen Knecht Kristmundurs von Hvammur handelte. Jakob hieß er, ein Mann mit kräftigem Kiefer, den eine Schifferkrause bedeckte. Warum sollte er zum Schiff fahren dürfen, Eilífur aber nicht? Sie kamen beide aus dem Segulfjörður, beide aus dem Bezirk einer anderen Handelsniederlassung. Jetzt sah er, wie ihm dieser Jakob ausgesprochen freundlich zunickte, eine Bewegung, die alles zugleich ausdrückte: 1. Soso, du hast also kein Korn mehr, armer Kerl? Ist doch immer das Gleiche mit dir. 2. Glaubst du wirklich, für dich gilt das Gleiche wie für uns Hvammsleute? 3. Bestimmt nicht. Kopp ist eben ein völlig verrückter Geizkragen, der nicht weiß, wie man sich besäuft. Guck nur, wie unmöglich er kotzt, noch dazu diese feine Mahlzeit, die er an Bord bekommen hat.

Der Kaufmann stand noch immer sabbernd über sein Erbrochenes gebeugt am Ufer, der Zylinder war ihm vom Kopf gefallen. Eilífur sah, wie er vor dem Wind über den schneebedeckten Strand rollte, Schwarz auf Weiß, wie eine vornehm glänzende Frucht aus einem Obstgarten, die in ein eiskaltes Jammertal gefallen war und dort herumtrudelte. Er erkannte seine Chance, tat die erforderlichen Schritte und fing den Hut ein, bevor ihn der Pferdeknecht erwischte.

Der Kätner hob für den Kaufmann den Hut auf und hielt ihn verlegen in der Hand wie ein schüchternes Mädchen einen Blumenstrauß, während der mächtige kleine Mann sich weiter auskotzte. Endlich hatte Kopp den letzten Schleim herausgegurgelt, richtete sich auf und sah sich um, mit einem Kopf wie eine knallrote Sonne über einem grau glänzenden Meeresspiegel. Wo ist der Hut? Wo ist das Boot? Wo, um alles in der Welt, bin ich? Als er in seinen feinen französischen Lederstiefeln durch den Schaum am Ufer zurückwatete, war alle Luft aus ihm gewichen, Müdigkeit schien ihn zu übermannen. Was für eine gewaltige Strapaze war es doch, diesen Hungerkünstlern etwas von fremden Handelspartnern zu verschaffen …

Wortlos ging Kopp zu seinem Hut wie eine Mutter zu ihrem Kind und nahm ihn Eilífur aus der Hand, dann drehte er sich wieder um und beorderte das Boot heran. Während der dänische Ruderer die Jolle näher ans Ufer brachte, wandte sich Kopp an den langen Bauern und rief ihm etwas zu, das entweder »Nun komm schon!« oder »Scher dich zum Teufel!« bedeutete. Im Kopf des Bauern von Stundarkot kam es auf das Gleiche hinaus, und er trottete zum Ufer. Wie er da vor dem tänzelnden Boot mit drei Sitzenden und einem stehenden Kaufmann stand, drückte seine Haltung die stumme Frage aus:

»Was ist mit dem Kilopreis? Ich kann nie im Leben dreiunddreißig Forellen pro Kilo bezahlen.«

»Losjetz, mach schon! Wir regeln das irgendwie«, rief ihm Kopp lallend zu.

Der Zylinderträger schien mit dem Übrigen auch den größten Teil seiner Arroganz erbrochen zu haben, und in seinen Augen war etwas Seltenes und darum umso Bemerkenswerteres zu lesen, so etwas wie Verständnis. Gab es in diesem gottserbärmlichen Jammertal doch so etwas wie Hoffnung auf Glück? Bewegte hinter diesem Dezembertag eine milde Hand das Eismeer? Die Hand des Allmächtigen? Nein, wohl kaum, dachte Eilífur, bestenfalls die fehlende Hand des Einarmigen von Tvíhamar, der da, in seine eigene Atemwolke gehüllt, im Boot wartete. Eilífur gab sich einen Moment, um nachzudenken. Für seinen Geschmack lagen die Dinge viel zu unklar. Wie das Boot und der schöne Zylinder schaukelte vor ihm auf den Wellen auch der Kilopreis auf und ab, auf dem ewig bewegten Meer, doch dann sah er sein weihnachtliches Zuhause vor sich, die Gesichter, die liebe Guðný und die Kinder, und da watete er hinaus in das eiskalte Vage, das isländische Geschäfte so oft kennzeichnete, stieg über das Dollbord und kauerte sich hinter dem tiefrot angelaufenen Ruderer auf eine Bank.

Über dessen Schulter sah er den Zylinder hinter dem Knecht Jakob ins Boot sinken, der mit einem müden Grinsen seine Schifferkrause um sich breitete. Neben ihm saß nach wie vor der Einarmige mit seiner ewigen Schneesturmmiene. Doch gerade war sie ganz angemessen, denn es stürmte und schneite inzwischen recht tüchtig.

War das Ganze nicht ein sinnloses Unterfangen, fragte sich Eilífur. Sollte er wirklich dem haarigen Wort eines besoffenen Kaufmanns trauen? Doch dann sah er bloß noch die riesigen Pranken des Weltenlenkers vor sich aus dem Dunkel auftauchen und das dänische Boot vom Land wegdrücken. So war der Lauf des Lebens, so ging es immer weiter, eins folgte aufs andere, wer im einen Augenblick an Bord ging, saß im nächsten auf See fest. Es wurde dunkler, die Unwetterwolken wurden noch eine Spur düsterer, und das Meer wurde entsprechend unruhiger. Der Strandwall antwortete mit Wind, in langen Bögen stoben Schneefahnen von ihm auf wie Momentaufnahmen des ersten Peitschenhiebs, der auf den Rücken des Unwetterdämons klatscht und ihm in seine langen, hängenden Ohren schreit: Los! Hopp!

Der völlig erledigte Handelsvertreter durfte an Bord des dänischen Schiffs übernachten, die Hungerkünstler machten sich auf den Heimweg in ihre Stuben und verschwanden wie Pferde mit lederumwickelten Hufen im Schneegestöber.

Und nun stand er also hier, Eilífur, allein auf dem weiten Schneeschleier, schweißnass vor Angst, und dachte: Drei Kilo Weizen für das hier? Drei Kilo Weizen für meinen Hof, Frau, Kinder und Kuh? Drei Kilo Weizen für mein ganzes Leben?

Da hörte er plötzlich ein Muhen unter seinen Füßen. Es muhte tief unten im Schnee.