An dem Morgen, an dem sich seine Eltern an Deck eines Schiffs auf dem Hades wiedersahen, trank Gestur im Haus der Kopps seine erste Tasse Kaffee, zur großen Aufregung der sommersprossigen Dienstmagd Malla und der Schwestern Sigríður und Theodóra. Sie stürmten, dass ihre langen blonden Haare wehten und die weißen Kleider rauschten, durchs Haus und riefen: »Papa, Gestur hat Kaffee getrunken!«
Der Kaufmann saß an seinem Schreibtisch mit Blick auf den Hafen und hatte soeben mit einem Brieföffner eine bislang übersehene, bedrohliche Schuldenschlucht aufgeschlitzt. Er schaffte es nicht, das Erschrecken in seinen Augen schnell genug vor seiner Tochter zu verbergen.
»Was sagst du, meine Kleine?«
Das Zauberwort drang in sein Ohr und hatte zur Folge, dass er den bösen Brief auf den Schreibtisch legte und aufstand. Innerhalb weniger Wochen hatte der Junge einen solchen Platz in seinen Gedanken eingenommen, dass er seinetwegen das Meiste beiseitelegte, und nun tat er es seiner Tedda zuliebe abermals und ging mit, um sich den kleinen Übeltäter, diese strahlende Lebenskraft, diesen unschuldigen Quell der Freude, anzusehen.
»Was hat Gestur angestellt?«
»Er ist heimlich auf den Tisch geklettert und hat deinen Kaffee ausgetrunken«, erklärte Malla und wischte dem Kind, das auf ihrem Schoß saß, den Kaffeeschnauzbart ab.
»Gaffee nicht gut«, plapperte Gestur und schüttelte den Kopf. Die anderen lachten ein glückliches Lachen, das auch ein Lachen darüber war, etwas zu lachen zu haben. In diesem Haus war seit Jahren nicht gelacht worden.
Anfangs hatte der Kaufmann dieses schmutzige Kind nur als vorübergehende Dreingabe zu sich genommen, während sein Schuldner endlich in vollem Umfang die ausstehenden Schulden bei ihm beglich. Das war wichtig, denn was würde aus der Gesellschaft in diesem Land, wenn Leute einfach vor ihren Schulden und ihren Gerichtsurteilen zu anderen, weniger respektierlichen Kontinenten entlaufen konnten? Subjekte, die nicht bloß bis über beide Ohren verschuldet, sondern auch Diebe und Mörder waren. Mörder von Geistlichen! Er musste aus dem Betrüger so viel wie möglich herausholen, bevor er ins Gefängnis überstellt würde. Der Richter hatte angedeutet, der Fall werde im Herbst verhandelt.
Als ihm das Armeleutekind, der Mördersprössling Gestur Eilífsson vor wenigen Wochen auf dem Lögg in den Arm gegeben wurde, hätte sich Eðvald Kopp nicht einmal damit einverstanden erklärt, ihn als erste Rate für die strittigen neunundneunzig Forellen zu akzeptieren, und hatte ihn im Hafenboot von sich gehalten, wie ein vornehmer Mensch einen löcherigen Kohlensack hält. Und doch war in ihm eine seltsame Saite angeschlagen worden, eine väterliche, die ebenso stark war wie seine gierige. Auf wundersame Weise hatte etwas in dem Jungen ihn an jenem meerhellen Maiabend unmittelbar angesprochen, hatten sich dessen graublaue Augen an seinen eigenen dunkelbraunen festgesaugt. Im obersten Regal von Kopps Verstand lag bereits die Entscheidung, das Kind im Haus seines Geschäftsführers Ögmundur unterzubringen. Ögmundur tat alles für ihn, und seine Frau Rannveig war von Natur aus eine derartige Glucke, dass ein Schnabel mehr oder weniger ihr ordinäres, im Übrigen aber ordentliches Nest nicht durcheinanderbringen würde.
Es ließ sich nicht bestreiten, dass der Junge etwas Besonderes an sich hatte, wie er einen ansah, wie er einen mit strahlenden Augen anlächelte, und wie er das Verschwinden seines Vaters hinnahm, mit einer Fassung, die fast schon an einen pragmatischen Realpolitiker denken ließ, der erleben muss, wie seine Gesetzesinitiative im Parlament abgeschmettert wird, und sie im nächsten Augenblick vergessen hat und sich einem neuen Projekt zuwendet. Auf ähnliche Weise hatte sich Gestur dem bärtigen Mann mit den braunen Augen zugewandt, der wie Küchenrauch duftete und doch irgendwie anders, und bei dem er im richterlichen Boot auf dem Schoß saß. Darauf hatte Kopp den kleinen Kohlensack am Ende doch gesetzt, und der starrte ihn von unten an, während der Polizist sie und den Bezirksrichter über die Hafenbucht ruderte. Aus den Augen des Jungen sprach keine Verzweiflung, sondern pure Hoffnung. Auf unerklärte Weise war deutlich, dass sich der Kleine völlig im Klaren darüber war, dass er seinen Papa nie wiedersehen würde. Das Kind nahm den Tod seines Vaters mit dem Gleichmut eines Greises hin. Wer noch gar nichts erlebt und wer schon alles erlebt hat, besitzt jenen Stoizismus, der sich nur an den Rändern des Lebens einstellt. Im Mittelfeld jagen die Menschen hingegen, schlammbespritzt bis zu den Knien, im Wettstreit von Freude und Trauer vorwärts, Siege mit Freudengeheul und Niederlagen mit Tränen quittierend.
Man hatte wirklich den Eindruck, der zweijährige Knirps begriffe schon, dass ihm unter dem gewichsten, dunklen Bart ein besseres Leben winkte als unter der grauen Wolle, mit der er vertraut war.
Neues Kapitel, neues Glück!
Jedenfalls stimmte er ein großes Geheul an, als Kopp versuchte, ihn am Ufer einem Burschen mit großer Nase zu übergeben, der ihn im Haus Ögmundurs abliefern sollte. Er klammerte sich an den Bart des Kaufmanns und ließ nicht locker. Wo nahm das Kind die Kraft für einen solchen Griff her, zum Teufel? Kopp verzog vor Schmerz das Gesicht und war unglaublich erleichtert, den kleinen Hosenscheißer und Mördersohn loszuwerden.
Wenig später aber erschien derselbe Nasenträger mit demselben Bengel auf der hohen Treppe des Kaufmannshauses und erklärte, bei Ögmundur sei niemand zu Hause gewesen, zumindest niemand über sieben Jahre. Das jüngste Kind habe sich verbrannt, und die Eltern seien mit ihm zum Arzt gegangen. Kopp nahm das mit einigen unwilligen Schnaufern zur Kenntnis und Gestur mit den Worten, dann werde ihn Malla eben morgen hinbringen, über Nacht bei sich auf. Allerdings hatte er sogleich das Gefühl, der Knirps werde, sobald er einmal über seine Schwelle gekommen war, im Haus so schnell Wurzeln schlagen, wie eine Katze ihre Krallen ausfährt. Und so kam es auch. Nur Sekunden später rannten seine Töchter herbei und hatten ihre helle Freude an dem Kleinen, den sie lachend schaukelten. Der Kaufmann stand daneben und beobachtete, wie Sigríður und Theodóra in dem breiten Kindergesicht mit den großen, graublauen Augen versanken, die wie zwei leuchtend bunte Märchenmonde am dunklen Himmel dieses Hauses aufzogen und ihren Gemütszustand steigen ließen wie die Flut. Gestur erschien genau zum richtigen Zeitpunkt, er war genau das, was dieses Haus brauchte, ein langeweilevertreibender Freudenknubbel, der niemandem Böses wollte, nur für sich alles.
Das Ehepaar hatte vier Töchter bekommen, zwei von ihnen waren schon in der Wiege gestorben, zwei wuchsen heran. Selbstverständlich wünschte sich der Kaufmann einen Sohn. Vor vielen Jahren hatte er im Hafen von Liverpool ein Firmenschild mit der Aufschrift »Langley & Sons« gesehen und sich geschworen, ein ähnliches Schild werde einmal in der Hafeneinfahrt zu Hause zu sehen sein, »Kopp & synir«, mit riesengroßen schwarzen Lettern auf die Stirnwand der großen Lagerhalle gemalt, die er auf seiner Landzunge zu errichten gedachte. Doch weiterer Nachwuchs stand nicht zu erwarten, denn nach dem frühen Tod zweier Kinder verweigerte ihm Frau Undína ihr Bett.
Ihr Körper sah auch nicht danach aus, als könne er noch weitere Leibesfrüchte austragen. Mit fünfunddreißig sah sie aus wie eine welke Blume. Es war unglaublich, zwei kleine Stupser des Todes hatten sie mit Blässe und Kälte geschlagen. Ihre vormals beneidenswerten Formen glichen nun einem knarrenden Weidenkorb. Lust empfand sie keine mehr, weder auf Essen noch auf ihren Mann noch auf überhaupt etwas. Ganz im Gegensatz dazu hatte sich ihr Mann mit den Jahren ausgedehnt und mittlerweile am Bauch weich gepolstert – dank seines harten Umspringens mit den Armen. Obwohl er zehn Jahre älter war als seine Frau, wirkte er jugendlicher, lebenshungriger. Kopp war ein Mann in der Blüte seines Lebens. Das Geschäft und die Reederei liefen gut, seine Pläne gingen meist auf, und sein Ansehen wuchs, wie er sehr genau feststellte, wenn er durch den Ort ging, und ihm hier und da Blicke folgten, selbst von den jüngsten Frauen. Den einzigen Schatten warf der Zustand seiner Frau, ihre Lustlosigkeit und ihr Schweigen. Der Tod schien sie schon vorgemerkt zu haben, sie sich aber noch für später aufzuheben.
Die Eheleute gingen also nicht mehr körperlich miteinander um, und das lag nicht allein an der Trauerkälte der Frau, auch Kopp seinerseits verspürte kein körperliches Verlangen nach ihr, so sehr er auch in allen Windungen seines Hirns suchte. Es verglich ihre Hüftknochen mit Tischkanten, ihre Rippen mit einem Waschbrett, ihre Brust mit einer Holzplanke. Sein Unterbewusstsein war von einem anderen Körper erfüllt. Manchmal hörte er in sich den bekannten Spruch »Gelobt sei das Weiche, das das Fleisch hart macht« und sah dabei die reizvollen Kurven der früheren Hauswirtschafterin Oktavía Pétursdóttir von Hnísey vor sich, die er auf dem Dachboden geschwängert und dann entlassen hatte, bevor das Malheur sichtbar wurde. Oh, was für ein Körper, was für ein Wonneproppen, sie machte ihn noch aus der Ferne verrückt, über Land und Meer hinweg! Die Wirtschafterin war auf ihre Insel zurückgekehrt, um das Kind zur Welt zu bringen, wurde aber von dort verstoßen und ließ das Neugeborene zurück, als sie sich nach Amerika einschiffte. Kopp spürte das kleine Mädchen auf und gab es seinem Ögmundur und dessen Frau Rannveig in Pflege. Es war doch nicht etwa dieses Kind, das sich verbrannt hatte? Aus zärtlicher Rücksichtnahme hatte Kopp die Existenz seiner illegitimen Tochter vor Frau Undína geheim gehalten. Sie war nicht die einzige, zwei weitere wuchsen entlang der Küste heran. Doch hier war nun ein Junge, ein Knabe, ein … Sohn?
Gestur war zur grenzenlosen Freude der Mädchen keine vierundzwanzig Stunden im Haus, als der Kaufmann bereits überlegte, ihn an Sohnes Statt anzunehmen. Sein schnell kalkulierender Verstand berechnete schon das erste Angebot, das er Eilífur vorlegen wollte, wenn der von seiner ersten Haifangfahrt zurückkehrte, mit der er seine Forellenschulden abarbeiten sollte. »Ich könnte dir auch anbieten, mich um den Jungen zu kümmern, und wir sind quitt.« Sorgen brauchte er sich selbstredend keine zu machen, im Herbst würde man den Halunken hinter dänische Gardinen stecken.
Beim ersten Wasserlassen am nächsten Morgen fand es der Kaufmann allerdings bedenklich, dass er sich bereits so eng mit dem Sohn eines Verbrechers verbunden fühlte. Doch sobald er wieder ins Haus kam und die Pausbäckchen des kleinen Gestur sah, war aller Zweifel wie weggeblasen; diesem Köpfchen sah man so deutlich an, dass darin Licht und nicht Dunkelheit herrschte. Seiner Frau mochte Kopp seine Überlegungen hinsichtlich eines Sohnes allerdings noch nicht unterbreiten. Frau Undína hielt sich meist im Obergeschoss auf, wehte dort gespenstisch über die Dielen und murmelte Bruchstücke aus der Bibel vor sich hin. Gestur hatte sie lediglich kurz gesehen, als Malla, das Dienstmädchen Málfríður, ihn auf ihrem Arm zur Mahlzeit im Esszimmer in die Küche trug.
»Mama, Gestur hat heute Morgen Papas Kaffee getrunken!«
»Hatten wir heute Morgen Gäste?«
»Nein, ich meine Gestur, den kleinen Jungen.«
»Ach, heißt der Gestur?«
»Ja. Aber Mama, du … Sie wissen das doch! Seitdem hat er andauernd Aa gemacht. Kaffeebraunes, hahaha!«
»Tedda! Nicht bei Tisch«, tadelte sie ihr Vater.
Schweigen machte sich breit, unterbrochen nur von den Löffeln, wenn sie in die Suppe tauchten und mit metallenem Kreischen über den Porzellanboden kratzten, sowie dem lauten Schmatzen des Kleinen aus der Küche. Dann ließ die Frau des Hauses den Löffel im halb vollen Teller ruhen und wischte sich mit der Serviette den Mund, indem sie mit der äußersten Spitze des schneeweißen Dreiecks ihre gespitzten dünnen und trockenen Lippen betupfte, und fragte schließlich mit einem Tonfall, der erkennen ließ, dass sie endlich zum Kern der Sache kam: »Wer ist seine Mutter?«
»Was möchten Sie damit sagen?«, fragte es unter dem Schnurrbart zurück.
»Wer ist seine Mutter?«
Ihre Stimme klang leicht gepresst, ansonsten aber durchaus kräftig, und sie hatte, ganz im Gegensatz zum Verfall der äußeren Hülle, ihre Schönheit bewahrt. Manchmal, wenn diese Stimme von oben oder aus dem Wohnzimmer ans Ohr des Kaufmanns gedrungen war, hatte sie es vermocht, in ihm die Frau wiedererstehen zu lassen, die er einst geliebt hatte, den Leib, der seine Hände gefüllt hatte, Bilder, die sofort verloschen, sobald ihm seine Frau leibhaftig vor Augen trat. Ihre Stimme war ein Echo besserer Zeiten.
»Ich habe es Ihnen doch gesagt, meine Liebe. Sie ist gestorben. Der Kleine ist der Sohn des jämmerlichen Kerls, der große Schulden bei mir hat. Der Richter schlug vor, er solle eine Fahrt mit der Fagureyri mitmachen. Anschließend will er ihn zu einer Gefängnisstrafe verurteilen. Ich wollte den Jungen bei Ögmundur unterbringen, aber davon wollten die Mädchen nichts hören. Sie finden ihn äußerst possierlich.«
»Ja, Mama, er ist so …«
»Haben Sie Ögmundur das Haus nicht schon zur Genüge gefüllt?«
Ihr Kopf wackelte auf dem dünnen Hals und Leib wie der einer klapperigen Puppe, wobei sie ihrem Mann das noch immer würdevolle und, obwohl Kummer das Meiste davon getilgt hatte, noch immer Spuren früherer Schönheit zeigende Profil zuwandte, denn sie sah aus dem Fenster, an Lárensías Haus vorbei auf den Fjord. Dann versetzte sie wie ein Drache, der sich das stärkste Gift für das letzte Speien aufbewahrt: »Haben Sie es also am Ende doch noch geschafft, einen Jungen in die Welt zu setzen.«
Der Kaufmann war dermaßen verdattert, dass er nur ein einziges Wort hervorstammelte: »Dína?«
Doch seine Frau hatte sich bereits erhoben und war auf dem Weg nach oben. Ganze drei Löffel Suppe hatte sie zu sich genommen, und mehr würde sie den ganzen Tag nicht essen.
Das war die Hölle, in die der himmlische Knabe bereits in seinem dritten Lebensjahr geraten war. Die Fußböden waren trocken und glatt gebohnert, die Speisekammer quoll über, aber die Köpfe waren mit Schnee gefüllt.
»Kaufepapa will Gaffee«, krähte es durch ein »Psst!« der Köchin aus der Küche. Auf die Lippen der Töchter zauberte das ein stummes Lächeln, doch ihr Vater sah und hörte nichts in seinem inneren Gletschertal.