Der Pastor hatte gerade die richtige Stelle gefunden, als im Gang ein Geräusch laut wurde und jemand rief: »Gott sei der Abend! Hier kommt die Sonne!«
Gleich darauf wurde die Klapptür aufgezogen, und eine Vogelscheuche von einem Mann erschien, mit großen Augen und irgendwie irre aussehend. Nach oben ragte eine Zipfelmütze, nach unten hing ein langer, an der Spitze geflochtener Bart; ein Schal, Rockschöße, Kragen und etwas zerfleddert aus den Ärmeln Ragendes strebten jeweils in andere Richtungen, als habe der Sturm die seltsame Erscheinung mit einem Hieb zerrupft. Sie sah aus wie eine Trommel, die von einer Kanonenkugel durchschlagen worden war und nur noch von einem um den Bauch gebundenen Strick und einem diagonal über den Oberkörper hängenden Lederriemen zusammengehalten wurde.
»Hier seien Gott und Menschen! Die Sonne ist gekommen!«
Die Stimme klang feinfühlig, klar und präzise und auch die Aussprache wie bei einem Schauspieler, mit der im Ärmel verborgenen rechten Hand holte der Mann weit aus wie ein Opernsänger. Seine Arme waren kurz, der Kopf war dagegen recht groß und zeigte vor allem ein Gesicht mit einer hohen, gewölbten und von Falten gefurchten Stirn. Obwohl er eine normale Größe hatte, wirkte der Mann irgendwie zwergenhaft. Was am meisten Aufsehen erregte, war jedoch sein breites Lächeln. In jenen Jahren wurde nicht viel gelächelt.
»Nun, was für eine Mannschaft ist hier versammelt? Ist schon alles belegt? Schläft deswegen einer draußen im Gang? Ich habe versucht, ihn mit einem Kuss zu wecken, wie es südlichen Dichtern zufolge die Sonne tun soll, aber nichts, keine Reaktion. Wer sind die Gäste des Hauses? Die Dame des Hauses und der liebe Hausherr seien gegrüßt und gesegnet! Es ist lange her, seit ich zuletzt in Bæjarkot bei der guten Steinunn und meinem Einar Sæmundsson und Kaufmannssohn hereingeschaut habe. Doch ihr dürft euch heute Abend glücklich schätzen, denn eigentlich wollte ich geradewegs nach Selbær, doch das Lüftchen draußen hat mich hierhergeweht. Ich grüße die Anwesenden.«
Er nahm eine Tasche ab, die er auf dem Rücken getragen hatte, ein ledernes Ding, groß wie ein Hund und einem Hund so ähnlich, dass sich die beiden echten Hunde vorsichtig näher schoben, Júnó knurrte, doch der Haushund beschäftigte sich gleich wieder mit dem Hinterteil der Hündin. Der Besucher löste den Strick und schälte sich aus seinem großen und durchnässten Übergewand, das er an einen Haken über dem vordersten Bett hängte. Das tat er mit gespitztem Mund, völlig selbstverständlich und ohne Zögern, sodass die anderen den Eindruck bekamen, der Kerl sei nichts weniger als ein Weltbürger, der sich überall zu Hause fühlte, weil die Welt sein Zuhause war. Er schüttelte sich rasch mit einem vernehmlichen »Brrr« und schritt dann die Reihe ab, sich zu jedem hinunterbeugend und ihn mit einem herzhaften Kuss auf die Wange begrüßend.
»Seien Sie gegrüßt, Knabe«, sagte er zu Gísli und küsste ihn respektvoll auf beide Wangen, wie es sich bei einem jungen Prinzen geziemte; das Gleiche tat er bei Gestur. Der nahm an dem Mann einen Geruch wahr, den er nicht benennen konnte, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit dem Vollmond in Verbindung brachte, den er über der Insel Guernsey im Ärmelkanal gesehen hatte.
»Die Sonne, die Sonne ist erschienen, und sie leuchtet über euch, seid gegrüßt und gesegnet! Rögnvaldur ist mein Name, Sonnenscheinsohn«, stellte er sich dem frostgehärteten Magnús vor, den Pfarrer zu küssen, traute er sich denn doch nicht. »Nein, und wer ist diese strahlende Erscheinung hier?«, fragte er und beließ es bei einem Händeschütteln. Lási bekam dagegen einen lippenfeuchten Kuss auf die Backe. »Der Sigurlásschmied persönlich! Herzlich willkommen! Die Sonne grüßt. Und meine liebe Steinka! Doch wo steckt Einar?«
»Draußen im Gang, tot. Das ist unser neuer Pastor, Séra Árni Benjamínsson.«
»Benediktsson«, korrigierte der Gemeinte.
»Und das da ist Gestur, Lásis Junge. Und der da ist Magnús, Gehilfe auf Fanneyri. Wo kommst du her?«
»Ist Sigurlás dein neuer Mann? Und gleich nach dem Pfarrer gerufen? Ihr habt es aber eilig, werte Frau, das muss ich schon sagen. Ah, darf ich mich hier hinsetzen, bekommt die Sonne keinen Sang in den Bauch?« Damit ließ er sich neben der Frau auf dem mittleren Bett gleich neben dem Querbalken nieder. »Was für ein starker, kalter Wind da draußen! Die Sonne musste vom Ufer fast bis hierher kriechen.« Er trug eine hübsche blaue Wolljacke, die allerdings voller Strohhalme steckte. Über Brust, Schultern und Oberarmen wölbte sich die Jacke, als sei sie innen ausgepolstert. Ansonsten war der Mann wie ein Bettler gekleidet, Flicken auf den Knien und unterhalb davon mehrere Lagen zerrissener Strümpfe. Seine Knöchel waren kalkweiß, die Finger fast lila angelaufen.
Es kostete sie einige Zeit, diesen mit possierlich schrägen Ideen angefüllten Kauz von der Vorstellung abzubringen, er sei gerade in eine kleine, feine Hochzeitsgesellschaft geplatzt. Als das gelungen war, setzte man ihm vor, was im Haus vorrätig war, denn der Proviant des Pfarrers war vertilgt. Steinka schob ihre Mütze zurecht, ging in die Küche und kam umgehend mit einer kleinen Schüssel Flechtenschleim zurück, einer isländischen Eigenkreation, die lange Zeit ein Nahrungsmittel der Armen war.
In einem Land, in dem nichts Essbares aus der Erde wuchs, außer Gras und dem bisschen Kartoffelkraut, das nur die absolute Oberschicht anzubauen verstand, konnte das hungernde Volk es nur seinen Lämmern gleichtun und in den Bergen nach Essbarem suchen. Jeden Sommer nach dem Ende der Entwöhnungszeit begab man sich zum Sammeln auf die sogenannte grasaferð; ihr Ziel, das »Berggras«, eigentlich »Rentierflechte«, aber auch »Isländisch Moos« genannt, hatte jahrhundertelang die Menschen in den armen Hütten der Insel am Leben gehalten. Verschiedene Wuchsformen trugen unterschiedliche Bezeichnungen, kræða hieß die unbedeutendste, und die »Hundefluse« war zu nichts zu gebrauchen. Das eben kredenzte Gericht erhielt man durch langes Kochen, bis die Flechte endlich ihre feste Form aufgab und sich in einen dunklen Schleim auflöste, den man mit noch mehr Wasser oder (in den besseren Häusern) mit Milch streckte.
Die Hausfrau ließ sich nicht lumpen und servierte dem Sonnenscheinmann außerdem noch die erlesene Fischgrätensuppe, in der ein ausgekochter Dorschkopf sein Bestes gegeben hatte, denn sie selbst war satt und fand großes Vergnügen an der spontanen Visitations- und Ich-schau-mal-kurz-rein-Party in ihrem Haus. Am Ende schaffte es dieser Smiley, ihr auch noch den Schmalzkringel abzuschwatzen, denn wer hätte einem Sonnenstrahl wie ihm die von ihm so genannte »Feuernahrung« vorenthalten können? Lange spielte Rögnvaldur mit Fingern und Zähnen an dem sommerschwarzen Kringel herum, und die beiden Jungen, Gestur und Gísli, verfolgten mit großen Augen, wie das Teilchen aus seinem Schoß zu seinem Mund aufstieg, dann wieder hinab und dasselbe noch einmal. Er lächelte ihnen dabei freundlich zu, gab ihnen aber keine Gelegenheit abzubeißen, während er Geschichten aus den drei Fjorden zum Besten gab, die er zuletzt besucht hatte, und obendrein saftigen Klatsch aus Gramsey im Norden, den er von Haifischern aus dem Eyrarfjörður gehört hatte. Das alles trug er routiniert und raffiniert vor, führte den Zuhörern die Dinge höchst lebendig vor Augen und Ohren, intonierte Dialoge mit wechselnden Stimmen und imitierte beleibte Bauern ebenso wie solche mit Piepsstimme oder vergrätzte Weiber, feine, hübsche junge Frauen und einen Pastor, der das R im Rachen sprach. Letzteres tat er unbedacht und brach mitten in der Vorführung ab, als er sich klarmachte, wer auf dem Bett schräg gegenüber saß. Man zog einen Geistlichen nicht vor einem Geistlichen durch den Kakao. Für so etwas war der Sonnenscheinmann schon aus zwei Gemeinden ausgewiesen worden.
Während einer Anekdote beobachtete Gestur, wie der Kerl den leckeren Kringel heimlich in seinem linken Ärmel verschwinden und dann mit einstudierten Bewegungen höher rutschen ließ, bis er eine Ausbuchtung gleich oberhalb des Ellenbogens verstärkte. Forschend musterte der Junge den wandernden Besucher und entdeckte in dessen wollenem Rock nahe der linken Achselhöhle ein Loch, durch das eine leckere Scheibe Fladenbrot zu sehen war. Die Jacke war überall mit Essbarem ausgestopft.
Der Mann hieß Rögnvaldur Jónsson, war aber unter dem Namen Rögnvaldur Sommersonne bekannt. Er hatte in seiner langen Laufbahn als Landstreicher früh gelernt, dass Frohsinn besser ankam als Flennen. Zu viele seiner Kollegen schlugen sich damit durch, gespielt hinkend auf einen Hof zu kommen, über geheuchelte Leiden zu jammern, sich den Weg in ein Bett zu erflunkern und dann dort wimmernd über Unglück und Krankheit zu klagen, und ganz besonders über schrecklichen Hunger. Das waren nicht gut gelittene Gäste. Da war es besser, gesund und munter irgendwo aufzutauchen, mit Gesang und einem vollständigen und gut einstudierten Unterhaltungsprogramm im Kopf. So wurde man zu einem gern gesehenen Gast. »Die Sonne ist da!« Er hatte es geschafft, die Rolle des Bettlers auf den Kopf zu stellen: Anstatt dass er Menschen um eine milde Gabe bat, teilte er Gefälligkeiten aus. Bei seinem Kommen musste er gefeiert und nicht gefeuert werden. Sein Spitzname war ursprünglich spöttisch gemeint, doch er hatte ihn lächelnd akzeptiert und daraus buchstäblich Essbares gemacht. Es fiel wenig Schatten auf diese sonnige Seele, auch wenn Neider unter den Landstreichern ihn manchmal Regenvaldur oder Regennass Sommersonne riefen.
»Möchte die Sonne uns vielleicht etwas vorsingen?«, fragte Steinunn, nachdem Rögnvaldur seine Anekdote über den Pastor abgebrochen hatte und sich mit zwinkernden Augen unter der gewölbten Stirn verunsichert umblickte.
Die Sonne verdüsterte sich in seinem Gesicht und mit ernster Miene wiederholte er: »Singen? Ja, doch, singen.« Er zog ein Tuch aus der Tasche und putzte sich die Nasenspitze, erhob sich langsam und stützte sich mit dem Hintern auf den Querbalken. Da tauchte plötzlich das bleiche Mädchen aus dem dunklen Teil des Raumes und stemmte den Ellbogen auf den Balken, als sei es ein geplanter Teil der Vorführung, und fragte ganz unschuldig: »Mama, wo ist die Sonne?«
Das rief größeres Gelächter hervor als jedes von Rögnvaldurs Geschichtchen, und er selbst antwortete, indem er auf sich zeigte: »Na, die steht doch hier, ganz arm und behaart.«
Gestur hatte gebannt auf Rögnvaldurs Ohren geblickt. Sie waren so behaart wie die Hände von reichen Männern. Daher kannte er also all diese Geschichten, dachte Gestur, diese Ohren schnappten nach allem, was einen verwertbaren Scherz enthielt.
»Da hier gerade ein kleines Kitz aufgewacht ist, passt vielleicht dieses Liedchen …«
Séra Árni machte große Ohren, er war ein Mann der Musik und hörte konzentriert zu, sein Gesicht wie auf einer Fotografie: Die Augen blickten streng unter buschigen Brauen, und der Mund verschwand unter dem Schnauzbart, als Rögnvaldur sein Lied anstimmte, das keiner der Anwesenden je gehört hatte, weder die Melodie noch den Text, das aber jeden ans Herz rührte wie die lippenweiche Hand einer guten Urahnin, als käme diese mütterliche Hand der Ahnin aus dem Dunkel und der Erde der Vorzeit, aus dem Schoß des Volkes. Allen in der Baðstofa von Bæjarkot, einschließlich der Hunde Glámur und Júnó und der Kuh Hekla, schien es, als hörten sie diese Seelenmusik zum hundertsten Mal. Oh ja, da ist sie, meine singende Seele, da ist sie, die Seele, die ich letztes Jahr auf der Hochebene verloren habe, in der grauen Schlucht, in den Anfängen meiner Unbehaustheit, bei meiner dritten Geburt nach einem langen, harten Eismond. Da ist sie, da singt sie wieder, oh, wie schön!
Móðir mín í kví, kví
Mutter mein im Stall, Stall,
lass die Sorgen all, all,
leih’ ich dir mein Tüchlein,
damit kannst du tanzen fein.
Der Pfarrer verlor Talar und Brot und all sein Bibelwissen, er warf das alles fort, er hatte eine Offenbarung, saß wie betäubt, solche Schönheit hatte er noch nie erlebt, solche Tiefe, solch magische Folklore. Gewiss war das ein Volkslied, natürlich war es eine Volkssage, ja, das gab es. Selbstverständlich, das war unser Erbe, unsere Kunst, unser, unser! Die Melodie war schlicht, fortlaufend, wie eine Hand, die ein Gedicht hochhält und leuchten lässt, ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, nicht mehr als eine Hand, die ein Licht hält.
Und erst die Geschichte dahinter! Auf Bitten von Séra Árni trug Rögnvald sie nach:
Eine junge und hübsche Magd auf einem wohlhabenden Hof ist in den gut aussehenden Bauernsohn vom Nachbarhof am Fluss verliebt. Der Großbauer jedoch begehrt seine Magd, und ehe man sich’s versieht, ist das Mädchen von ihm schwanger. Man befiehlt ihr, das Kind gleich nach der Geburt auszusetzen. Mit schweren Schritten geht sie mit dem erst einen Tag alten Mädchen in dichtem Schneetreiben vom Hof und legt es im Schnee ab, kehrt dann um und hört, wie die Schneeschleier sein Weinen ersticken. Am nächsten Tag taut es, und die Magd sieht, wie sich draußen am Berghang Raben versammeln. Sie verrichtet ihre Arbeit, schläft aber in der Nacht kaum, und schluckt auf dem Kissen an ihren Tränen, während aus dem Alkoven der Eheleute nächtliche Geräusche dringen.
Endlich kommt der Frühling mit dem Lammen, der Schafschur, dem Entwöhnen der Lämmer und überhaupt dem Treiben der hellen Jahreszeit. Eines Tages kommt der schöne Bauernsohn am Schafpferch des Großhofs vorbei und lächelt ihr zu. Weiß er nicht, was im Winter vorgefallen ist? Wenige Tage darauf wird in der Gemeinde zu einem Ball geladen, und alle vom Großhof dürfen hingehen, doch unsere Heldin glaubt, sie könne nicht teilnehmen, weil sie nichts zum Anziehen hat, das ihr dafür gut genug erscheint. Das bedrückt sie sehr, und sie hat das Gefühl, dass das Leben an ihr vorbeigehe und sie auf Jahre hinaus bei dem Großbauern und seiner freudlosen Frau festsitze. Im Geist sieht sie, wie ihre Liebe auf dem Vikivaki-Ball von ihr fort tanzt. An dem hellen und schönen Abend vor dem Ball ist sie wie so oft damit beschäftigt, die Schafe in ihrem Stall zu melken, als vom Hang Gesang ertönt, genau von der Stelle, an der im Wintermonat Þorri die Raben schwärmten. Eine Kinderstimme singt: Mutter mein im Stall, Stall … Das ausgesetzte Kind bietet ihr das Tuch an, in das sie es an jenem Morgen gewickelt hat.
Sie ging nicht zum Ball, nicht zu diesem und zu keinem anderen in späterer Zeit, doch jedes Mal, wenn auf den Höfen gefeiert wurde, sah man sie zum Fuß des Berghangs gehen, und sie kam, unausgeschlafen und mit verwirrter Miene, nie vor Tagesanbruch zurück. Drei Jahre danach wurde zu Beginn des Wintermonats Þorri auf dem Nachbarhof am Fluss Hochzeit gefeiert. Am Tag des Fests verließ die Magd den Hof und wurde nie wieder gesehen.
So lautete die Geschichte hinter dem Lied. Rögnvaldur sang es auf Bitte von Séra Árni noch einmal. Und obwohl er danach noch weitere sang, hörte der Pfarrer sie nicht. Dieses eine war alles, das ganze Land, alle Musik, alle Zeit, alles. In der Nacht lag er wach auf seinem Kissen und starrte in das Dunkel des Grassodenhauses, vom Schnarchen und Röcheln schlafender Männer, der Kinder und der Kuh umgeben, und lauschte darauf, wie der Sturm am Dach riss. Darin hörte er wieder das Lied Móðir mín í kví, kví.
Das musste man sich vorstellen, dieser skurrile Vagant, dieser Sonnenscheinlumpenhund war nur einer von vielen Fackelträgern dieser heimischen ländlichen Kultur, die sich in diesem vergessenen Winkel der Welt entwickelt hatte, abgeschieden und isoliert von der Kunst in der Welt draußen, und dadurch völlig einzigartig. Durch einen Zufall, nur weil er von einem Unwetter in einer Hütte festgehalten worden war, war ihm erst als Erwachsenem das zugänglich geworden, was er von Kindesbeinen auf kennen sollte; er war in das Zentrum der isländischen Kultur getappt, das in der abendlichen Unterhaltung in der Baðstofa bestand und kvöldvaka genannt wurde, »Abendwache«. In den Hungerlöchern entlang der Küste im Süden wurde meist aus den Isländersagas vorgelesen, manchmal aus der Bibel oder der Postille von Bischof Vidalín, und manchmal traten Männer und Frauen auf, die rímur, Reimgedichte, aufsagten, aber er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es etwas gab, das man »isländische Musik« nennen konnte.
Er dachte an die Märchen, die tief in den Wäldern Deutschlands entstanden waren und die die Brüder Grimm mit dem Federhalter aus dem dichtbelaubten Dunkel in die Druckereien der Welt getragen und denen sie so zu ewigem Leben verholfen hatten. Das Gleiche hatte hierzulande Jón Árnason vollbracht, in den 1860er-Jahren hatte er in Leipzig Isländische Volkssagen und Märchen drucken lassen. Aber hatte jemals jemand an Musik, an isländische Musik gedacht? Sicher ging es vielen so wie ihm, bestimmt wusste kein gebildeter Mensch, dass es sie überhaupt gab. Isländische Musik? Ho, ho! Er hörte schon das Gelächter in getäfeltem Saal, die vornehmen Krägen in ihren Mänteln husteten laut. Doch Árni Benediktsson war klug genug, um zu wissen, dass gerade an den Kreuzungen, an denen sich Gelächter und Entrüstung treffen, das Gold vergraben liegt.
Nachdem er lange genug wach gelegen hatte, um allen Gedankenmüll aus seinem Oberstübchen zu fegen, bis nur noch das Wertvollste übrig war und wie eine Perle im völligen Dunkel der Schlaflosigkeit schimmerte, wurde ihm klar, dass er diese Perle bergen musste.