Wie so häufig, ging die junge Generation einen Schritt weiter. An einem stillen Augustabend, als der dunkelgrüne Fjord ein spiegelverkehrtes Landschaftsbild abgab und der Walaufseher ebenfalls verkehrt herum betrunken in seiner Koje lag, schnappten sich ein paar verwegene Burschen einen Kahn und ruderten, mit Messern, Eisenstangen und Haitötern bewaffnet, zu den toten Walen, stachen letztere in einen Walrücken und schnitten sich ein ordentliches Stück Fleisch heraus. Das bekamen andere mit, und bald waren fünf Boote mit Jungen aus den umliegenden Höfen unterwegs. »Egertbrandsen liegt im Koma in seinem Haus!«
Gestur sah in einem der Boote sogar ein kräftiges junges Weib im Bug stehen, Sunna, die Tochter von Sigurjón auf Selbær, und sich wie eine wiedergeborene Walküre auf einen Spieß mit langer Klinge stützen. So sehr schimpfte man in den Häusern über die Verhältnisse, dass das junge Gemüse inzwischen glaubte, ein Anrecht auf einen Happen Wal zu haben. Auf einen angemessenen Zoll. Gestur konnte da nicht still sitzen und lief hinüber nach Innri-Skriða, wo er seinen gleichaltrigen Freund, den Bauernsohn Magnús Magnússon, anstiftete, mitzumachen. Der war ein wenig größer als Gestur, ein Schlacks mit vorstehenden Augen und eingeklemmter Stimme, nicht unbedingt eine tolle Bekanntschaft, aber die einzige, die auf der Ostseite des Fjords zu haben war. Er war dermaßen kurzsichtig, dass er gerade noch über seine Nasenspitze hinaus scharf sah. In seiner Welt herrschte stets dichter Nebel. Seine Brille kam geradewegs aus dem Magazin der Geschichte.
Sie schoben Lásis Boot in die horizontale Welt, in den spiegelglatten Abend auf dem Walfriedhof, wo sich Grabräuber an jeder Ruhestätte zu schaffen machten. Die Jugendlichen aus Selbær hatten den Kadaver eines Nordkapers vor Bæjarkot für sich in Beschlag genommen, das war an Farbe und Form der Teile des Rumpfs zu erkennen, die aus dem Wasser ragten. Gestur sah die Kinder von Steinka, die Kleinen aus Bæjarkot, auf dem Uferkamm stehen und das Schauspiel beobachten. Er selbst und Magnús erreichten schnell einen riesenhaften Leib, der vor den beiden Skriðahöfen schwamm. Im Gegensatz zu den anderen Kadavern, die alle die Bauchseite nach oben gedreht hatten (wie es Tote üblicherweise tun, weil die meisten lieber nach oben als nach unten möchten), schwamm dieses Tier mit dem Bauch nach unten, es schien sich um einen Pottwal zu handeln. Der dunkelblau glänzende Rücken erhob sich ein wenig über das Wasser wie eine längliche Insel, der Höcker wie ein Berg am südlichen Ende, das Nordkap oben flach und am Ende steil abfallend.
Sie ruderten zum Südende und sahen, dass die Fluke schon abgetrennt war. Einige helle Fleischfasern hoben sich von der dunklen Tiefe ab. Sie ruderten am Rumpf entlang zum Rückenhöcker. Es war nicht leicht, auf diesen massigen Leib hinaufzukommen. Erst rammten sie mit dem Boot die aufgeblähte Flanke des Tieres, und wenn sie seitwärts anlegten, war es zu hoch, um auf den Rücken zu steigen. Ob der Kadaver eines Nordkapers vielleicht leichter zugänglich war? Gestur wies Magnús an, sitzenzubleiben, während er sich über Bord beugte und versuchte, Lásis Sense in den Rücken des Tieres zu stechen. Das ging überhaupt nicht, für eine derart feste Haut war das Werkzeug nicht stark genug. Als Nächstes packte er den altertümlichen Haitöter, den sie aus dem Geräteschuppen von Bauer Magnús mitgenommen hatten, und kniete sich ans Dollbord. Das Boot bekam Schlagseite, aber Gestur fühlte den Bauch des Tiers unter der Wasserlinie und versuchte, den Spieß in den Walrücken zu rammen, doch er war zu ungeübt und die Haut des Tiers einfach zu dick. Im Innersten hatte er wohl auch etwas Angst vor dem Riesenvieh. Was, wenn der Wal nun doch nicht völlig tot wäre? Vielleicht hatte er sich deshalb nicht auf den Rücken gedreht wie die anderen. Und es gefiel niemandem, im Schlaf mit einer Stricknadel gepikst zu werden. Aber doch, er musste tot sein, die Schwanzflosse war ja schon ab.
Schließlich kapitulierte Gestur und reichte den Spieß an Magnús weiter. Der kurzsichtige Schlacks schaffte es beim dritten Versuch, die Klinge durch die Haut zu stoßen, und um das Boot färbte sich das Wasser rot. Ihnen grauste vor dem ganzen Blut. Magnús setzte sich auf die Ruderbank, ohne den Spieß loszulassen. So saßen sie eine Weile und starrten ins Wasser. Von der Westseite des Pollur drangen Rufe der anderen Jugendlichen zu ihnen herüber, einer der Burschen von Eyri stand in seinem Boot und hielt ein Stück Fleisch über sich wie ein Sportler einen Pokal.
Eile war jetzt geboten, denn Egertbrandsen konnte jederzeit aus seinem Rausch aufwachen und mit der Schrotflinte erscheinen …
Gestur schaute auf seiner Seite über den Bootsrand und beobachtete, wie das Blut in der grünlichen Tiefe ausdünnte. Er sah die schwarzen Umrisse des Kolosses unter ihnen, die wie ein riesiger umgedrehter Schiffsrumpf wirkten. Und plötzlich erkannte er, dass sich unter der Meeresoberfläche eine zweite, auf dem Kopf stehende Welt befand. Was für uns unten war, war in ihr oben. Und an Bord des Schiffs, von dem er lediglich die Unterseite des Rumpfs sah, herrschte munteres Treiben in einer hellen Welt. Alles Schlechte und Beschwerliche hatte man dort über Bord geworfen, hinein in seine Welt.
Magnús stand wieder auf und versuchte, den Spieß aus der Haut des Tieres freizubekommen. Doch trotz wiederholter Versuche, die das Boot zum Schaukeln brachten, gelang es ihm nicht. Schließlich gab er auf, und Gestur übernahm. Er hatte kaum den Schaft gepackt, als der Kadaver sich zu drehen begann, und Gestur, der mit beiden Händen den Spieß hielt, wurde über Bord gerissen. Obwohl sein Herz einen Satz machte und ihm schwarz vor Augen wurde – war der Wal doch lebendig? –, hielt er den Schaft des Spießes weiterhin fest umklammert. Und das war gut so, denn die Drehung ging nicht sehr weit. Sie hatten die Waffe in die Flanke des Wals gestoßen, die sich nun so weit herumwälzte, dass der Spieß und der daran hängende Junge in die Höhe gehoben wurden. Einen Augenblick später stand Gestur über dem Meer wie ein Wanderer auf dem Gipfel und stützte sich auf seinen Stab.
Allerdings war der Bergsteiger nass von Kopf bis Fuß.
Trotz der Anstrengung musste er grinsen. Bis er sah, dass Magnús von ihm wegtrieb. Er rief nach ihm, aber er wusste schon, dass er jetzt im undeutlichen Nebel des Jungen von Skriða verschwunden sein musste, der mit dem Rücken zu ihm auf der Ruderbank hockte und ihm ein begriffsstutzig blinzelndes Profil zudrehte, zutiefst darüber erschrocken, dass sie das größte Lebewesen der Erde von den Toten auferweckt hatten, das ihm seinen Spielgefährten entrissen hatte, den Jungen von Ytri-Skriða. Magnús sah ihn im riesigen Maul des Wals vor sich, wie er um Hilfe schrie.
Immerhin bin ich der Erste, der mitten im Segulfjörður steht, hätte Gestur denken können, doch das tat er erst Jahre später, denn in dem Moment war er allein von Angst beherrscht. Magnús reagierte auf sein Rufen, indem er zu den Rudern griff, aber in seinem vernebelten Sichtfeld fand er sich nicht zurecht, zumal jetzt Rufe aus allen Richtungen kamen, in drei anderen Booten erhoben sich Jungen und zeigten auf Gestur, der auf dem Walrücken stand. Da aber Magnús das Boot nach Norden zum Kopf des Pottwals ruderte, und Gestur den überraschenden Zwischenfall unbedingt so schnell wie möglich beenden wollte, bevor der Wal sich noch einmal drehte, sammelte er all seine Kräfte, riss den blutigen Spieß aus dem Wal und rannte über dessen Rücken zum Kopf, wie ein geübter Schlittschuhläufer, der auch über Höcker gleitet, weil jedes Zögern den Sturz bedeutet. Und die Sache ging gut aus. Nachdem er mit erhobenem Spieß wie ein Eskimo im Jagdfieber zehn Meter übers Wasser gelaufen war, erreichte er das Boot am Kopf des Wals und sprang hinein, worauf das Schwappen und Schaukeln fast den Ruderer über Bord befördert hätte.
»Was ist passiert?«, fragte Magnús.
»Bin ihm nur eben auf den Rücken gesprungen.«
Durch seinen Lauf übers Wasser wurde Gestur in allen Wohnstuben berühmt. Ein krank zu Bett liegender Arbeiter auf Hvammur reimte:
Ich habe Jesu Christ erspäht,
wie er kraxelt übers Wasser.
Wenn Gestur Koppsson diese Kunst versteht,
will ich sie auch können, dann geht’s mir besser.