Im Advent traf die schlimme Nachricht ein, der schmucke Schoner Bratteli habe vor sechs Wochen an einer Klippe in der Inselwelt der Lofoten in einem selten fürchterlichen Sturm Schiffbruch erlitten und die gesamte Besatzung sei ums Leben gekommen.
»Das muss man sich einmal vorstellen«, sagte Hafsteinn zu seiner Frau. »Nur weitere sechs Wochen davor haben sie noch quicklebendig bei uns im Wohnzimmer gestanden!«
Wie konnten solche Männer sterben, noch dazu alle auf einen Schlag? So sehr er sich auch anstrengte, der Gemeindevorsteher konnte ihre Gesichter nicht aus seinem Gedächtnis und aus seinem Bild der existierenden Welt löschen; sie mussten noch am Leben sein. Schließlich trat er ans Fenster und sah zum Siebenstein hinüber, der wie alles auf Eyri von Schnee bedeckt war. Was Hafsteinn sich kaum vorzustellen vermochte, war, wie dieses gewaltige Schiff, diese riesengroße hölzerne Meeresharfe, an der jeder Mast und jede Rah ein handwerkliches Meisterwerk darstellte, wie all das auf einen Schlag auseinanderbrechen konnte. Dieses Inferno musste eine verfluchte Art von Weltuntergang gewesen sein. Die offenen Boote hierzulande konnten untergehen, das war begreiflich, aber dass ein Schoner wie die Bratteli, eine solche Wunderwelt aus Segeln, Stagen, Wanten und Zapfenlöchern, einfach so verschwinden konnte, das wollte ihm nicht in den Kopf. Vielleicht hegte er tief in seinem Innersten die Überzeugung, dass es einen solchen Sturm nur in Island geben konnte.
In der Kirche von Fanneyri wurde ein Gedenkgottesdienst abgehalten, bei dem Séra Árni und Gemeindevorsteher Hafsteinn sprachen und ihrer Trauer über das Schicksal ihrer Freunde Ausdruck verliehen. Vigdís sang das norwegische Kirchenlied Jeg er i Herrens hender / når dagen gryr i øst. Zwei junge Frauen saßen in Tränen aufgelöst am Ostfenster, eine Magd von Fanná und die andere von Gamlibær, und schielten zum Norwegischen Haus und dem Schuppen der Walfänger hinüber, wo sie an einem schönen Sommerabend mit einem blonden Harpunier getanzt hatten, während der Koch das Schifferklavier traktiert hatte. Vielleicht waren sie anschließend auch mit einem kaum zu verstehenden jungen Burschen den Hang hinaufspaziert. Da hatte er sie geküsst und ihren Blick eingefroren, um ihn nächstes Jahr wieder aufzutauen. Das Pastorenehepaar beobachtete die beiden Mädchen, jeder für sich und von seiner Position in der Kirche aus, er vor dem Altar, sie am Harmonium, dann trafen sich ihre Augen in der Mitte der Kirche und zitierten einen Vierzeiler:
Liebe übers Meer betreiben,
glücklichstes der Vorhaben.
Ich und Du, wir schreiben
Liebe mit großen Buchstaben.
Diese Strophe hatten sie sich in ihren Briefen oft geschrieben, und der junge Pfarrer hatte sie ihr im Süden vorgesungen. In den letzten Wochen hatte Vigdís wieder an sie gedacht. Bedeutete vielleicht der Winter ihrer Verlobungszeit den Schlüssel zu ihrer Ehe? Hätte sie ihr erstes Jahr hier im Segulfjörður durchgehalten, wenn sie nicht so lange darauf hätte warten müssen?
Am Abend stand der Gemeindevorsteher lange auf seiner Treppe, die Pfeife im Mund, die Daumen in den Hosenbund gesteckt, wo die Hosenträger befestigt waren, und sah zum funkelnden Firmament hinauf oder hinab zum Sternenstein, den er vom Schnee befreit hatte, und ließ den Pfeifenrauch vor seinen Augen in die mondscheinhelle Frostluft aufkräuseln. Ließ sich aus diesen Kringeln etwas herauslesen? Steckte das Leben voller Botschaften, die unsere abgestumpften Sinne nur nicht vernahmen? Gab uns der Schöpfer mit Warnungen, Menetekeln und unwiderruflichen Maßnahmen fortwährend etwas zu verstehen? Weshalb hatte die Besatzung ihm und den Bewohnern des Segulfjörðurs diesen seltenen und schönen Stein geschenkt? Waren sie deswegen gestorben? Sobald sich der Stein nicht mehr auf ihrem Schiff befand? Er rief sich die unwahrscheinliche Geschichte in Erinnerung, die der Isländer Oskarsson mit der Gabe abgeliefert hatte – auch der war mit seinem ganzen Schatz an Geschichten in der Tiefe verschwunden –, und hörte noch einmal das anschließende Gelächter, diese bedrohliche menschliche Brandung, die jeglichen Verdacht hinsichtlich Schicksal und Aberglauben hinweggespült hatte.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund und pustete den Rauch nun gerade vor sich in die Luft, als wollte er damit sagen: Puff, weg mit euch! Weg mit solchen Gedanken und der ganzen Spökenkiekerei! Ich kann nicht hier auf dieser Treppe aus teuerstem Holz stehen und dabei noch im alten Aberglauben der Torfhöfe feststecken. Zum Donnerwetter, ich bin der Vorsteher dieser Gemeinde!
»Möchtest du nicht ins Haus kommen, mein Guter, bevor dich die Nacht holt?« Das war Mildas Stimme. Sie trug noch ihren Kampfanzug. Gerade war sie von einem ihrer Erkundungsgänge durch den Fjord zurückgekehrt, auf dem sie sich um die Schwachen gekümmert und ihnen Essen und Kleidung gebracht hatte. Sie war durch die Hintertür ins Haus gekommen (im Keller auf der Westseite), wie es damals in den Holzhäusern des Landes Sitte war. Die meisten Isländer waren in Grassodenhöfen groß geworden und fühlten sich angesichts von Freitreppen, hohen Haustüren und soliden Türrahmen unwohl; sie waren zu lange daran gewöhnt, gebückt durch die Öffnungen in den Grassodenwänden zu schlüpfen. Diese Türangst saß so tief im Volk verwurzelt, dass es noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein seine Häuser lieber durch die Waschküche als durch die dazu bestimmte Vordertür betrat. Die war allein Besuchern vorbehalten.
Gleich nach ihrer Frage war Mildiríður zurück ins Haus gestürzt, denn diese faltenschöne, langkinnige und energische Frau war von morgens bis abends ein ewiges Treppentrappeln; ihren allessehenden Augen entging nichts, weder in Küche, Keller, Kinderzimmer noch im Haushaltsbuch. Meistens hatte sie sämtliche Bestände des Hauses im Kopf (7,4 kg Weizen, 27 Paar Strümpfe, Pfeifenreiniger, norwegische, 4 Stck., selbstgemachte, 2 Stck., davon ging gestern einer verloren, muss in der Küche genauer danach suchen). Milda war die Mutter des Hauses und der Gemeinde. Und die Ehefrau ihres Mannes. Kein unbedeutender Teil ihrer unermüdlichen Arbeit entfiel darauf, ihren Mann vor den heimtückischen Angriffen von König Bacchus zu bewahren. Die konnten zu jeder Zeit erfolgen, selbst an einem Sonntagabend auf der Freitreppe, wo ihr Göttergatte stand und friedlich sein Pfeifchen schmauchte. Urplötzlich konnte auf dem festgetrampelten Schnee des Schafpfads ein Wanderer, ein Kapitän oder ein Taugenichts aus dem Fjord mit einem halb vollen Flachmann oder einer Einladung auf ein Schiff auftauchen, wenn nicht mit einem anderen dringenden Anliegen, das unbedingt noch vor dem morgigen Tag erörtert werden musste.
»Möchtest du nicht ins Haus kommen, mein Guter, bevor dich die Nacht holt?«
Weiter ging sie jedoch nicht in ihrer Alkoholkontrolle. Sie ließ es dabei bewenden und legte sich gleich ins Bett, wo sie wie üblich vor dem Einschlafen noch ein wenig in den Gedanken ihres Mannes las. Ihre Befürchtungen waren die Sorgen um seine Sorgen. An diesem Abend drehten sie sich vor allem um die Gewissensbisse des Gemeindevorstehers gegenüber der dankbaren Schiffsbesatzung. Hatten diese Männer ihr Leben allein dafür gegeben, ihm den ovalen Stein zu überlassen? Hatten sie ihm damit ihr Glück übertragen? Von dort schweiften die Gedanken des Isländers zu den Stürmen in anderen Ländern und Schiffbrüchen an friedlichen Küsten. Das Wundern darüber hing eng mit seiner fest vernieteten Überzeugung zusammen, dass das Zusammenleben mit allen Ausländern im Allgemeinen einfacher, leichter, lustiger war. Isländer zu sein, war anstrengend. Einem anderen Volk anzugehören, war ein Kinderspiel. Als junger Mann war Hafsteinn zu Schiff nach Bergen gefahren und hatte selbst gesehen, wie die Dinge dort lagen, dass in diesem Land des Nordwegs seit dreitausend Jahren kein Zweiglein geknickt worden war. Alles war still und nett. Da begriff er gut, weshalb sich ihrer Natur nach aufbrausende Feuergeister getrieben fühlten, diese stoische Pracht zu verlassen. Wie aber ein so verlässliches Schiff an diesen niedlichen Schären hatte zerschellen können, das begriff er nicht.
»Das Meer ist überall der gleiche Flegel, hier wie da, denke ich«, sagte Milda auf dem Kissen.
»Ich mache mir nur Sorgen über den Stein. Nicht dass er ein Schwert des Schicksals ist.«
»Er hat denen, die ihn gaben, Glück gebracht. Über Gaben soll man nicht grummeln, sagten die Alten früher. Wir sollten nur Gutes von dem Stein denken. Er bewahrt das Gedenken an sie.«
Einmal mehr dachte der Gemeindevorsteher, wie vorzüglich er verheiratet war, und er spürte das Verlangen, sich auf die Seite seiner Frau zu wälzen und ihr einen Kuss zu geben, aber das mit dem Kuss ließ er lieber, er hätte sich etwas zerren können.