Kapitel 8

Die Frau des Pfarrers

Séra Árni lud in sein Haus ein, wies den vier Norwegern und zwei Isländern Plätze am Tisch an und verschwand dann, um der Hauswirtschafterin Halldóra Anweisungen zu erteilen. Kaffee und Schmalzgebäck!

Es dauerte einen Moment, bis die Seeleute ihre Gummistiefel ausgezogen hatten, was sogleich zu einem Gespräch über dieses Schuhwerk führte. Zwar kannten die Isländer »Klompenstiefel« aus schenkelhohem Leder, das auf Holzschuhe genagelt war, von den bretonischen und flämischen Fischern, und manche trugen solche auf den Haifangbooten sogar selbst, aber Kautschuk auf Holzschuhe geleimt, das hatten sie noch nie gesehen. Die Behauptung der Norweger, sie seien völlig wasserdicht, wurde glaubhaft von dem Geruch unterstrichen, der sich ausbreitete, als sie endlich ihre schweißnassen Füße und Socken aus diesen großen Hufen befreit hatten.

Gemeindevorsteher Hafsteinn wusste eine Konversation mit Gästen zu führen und forderte die Marseyjer auf, von ihrer Fahrt zu berichten, während durch die Holzdecke Frauenschritte zu hören waren. Der Arzt rutschte sich mehrfach auf seinem Stuhl zurecht und räusperte sich. Er war ein stiller Mann, dem es leichter fiel, mit Kranken umzugehen als mit Gesunden. Seine Interessen lagen nahezu ausschließlich im Gebiet menschlicher Krankheiten. Seine Anwesenheit übte jedoch stets guten Einfluss auf alle aus, die Leute fanden es gemütlich, dem Rascheln seiner Koteletten auf dem steifen Hemdkragen zu lauschen. Es war zu hören, dass der Pastor die Treppe hinaufging, während Arne Mandal erklärte, was er »umlaufenden Wind« nannte: Verhältnisse, bei denen der Wind immer aus der Richtung wehte, in der die Sonne stand, ob sie nun gerade im Osten auf- oder im Westen unterging. Solchen Wind hatten sie während der gesamten Überfahrt gehabt, und von Kristiansund bis zum Segulfjörður hatten sie nicht länger als drei Tage gebraucht; es war die weiteste Reise, die Schiff und Kapitän bisher unternommen hatten.

»Na, das war doch storartig!«, lachte der Gemeindevorsteher, drehte sich auf seinem Stuhl um und fuhr beim Eintritt Séra Árnis auf Norwegisch fort: »Und hier kommt unser Pastor mit all seinen Frauen!«

Ihm folgten in den Salon: Sigurlaug, Guðlaug, Vigdís und Súsanna, alle in langen Kleidern oder Röcken, die schöne Welt der Weiblichkeit. Aufgesteckte Haare, gemusterte Schultertücher, verlegene Gesichter und flink umherflitzende Blicke.

»Vier Frauen!«, sagte Egertbrandsen, und norwegisches Gelächter füllte den Salon des Madamenhauses. »Auf Island gibt es keine Katholiken, hier dürfen die Pfarrer vier Frauen haben!« Neuerliches Gelächter.

Arne hatte sich erhoben, stand am gedeckten Tisch und reckte das Kinn; er war einer von den Männern, die für Frauen aufstanden, auch wenn nicht klar war, ob er das nur aus Anstand und Bewunderung tat oder weil ihn sein Aussehen mit der Zeit gelehrt hatte, dass es vorteilhaft war, sich Frauen gegenüber so zu betragen. Zumindest schien er weibliche Bewunderung gewohnt zu sein, und er hatte sich – ein wenig wie ein gelangweilter Zirkuselefant – gewisse Manieren zugelegt, um diese Bewunderung noch zu befördern.

Das Schweigen war von Kleiderrascheln erfüllt, und Arne ließ seinen Blick von einer Frau zur nächsten wandern, über das ganze Spektrum weiblicher Schönheit, bis er auf Súsanna landete, die ihrerseits den Blick vom Boden auf den Tisch hob, von dort auf den Rücken des Gemeindevorstehers und von dort zu dem jungen Kapitän oder vielmehr seiner Silhouette, dem Schattenriss eines hoch aufgerichteten Mannes vor einem sonnigen Fenster. Wegen der Helligkeit konnte sie sein Gesicht nicht sehen, nur den dunklen Umriss, den langen Hals und das wie eine Rauchwolke aufqualmende Haar; er aber sah ihr Gesicht, und obgleich er gerade erst an Land gekommen war, warf sein Herz alle Leinen los, seine Brust lief voll wogender See, und die Wellen schlugen hoch über allem zusammen, was er zu kennen und zu können glaubte, so sehr ächzte und knarrte es im segelgezierten Seelennachen. Spannungsgeladene Sekunden verstrichen, ganze Menschenleben vergingen, Berge rannten davon und Fjorde liefen leer; war sie, diese blonde, schlankhalsige, weichwangige, grübchengeschmückte, ernste, dunkelbrauige Schönheitskönigin, etwa die Frau des Pfarrers?

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und grüßte die junge Frau mit einem Diener, der aber viel zu kurz ausfiel, als wolle er sich vor den Gedanken ducken, die in seinem Kopf fochten. Für die anderen im Raum sah die schnelle Verbeugung aus, als habe er einen heftigen Faustschlag in den Magen bekommen und krümme sich vor Schmerz. Manchmal ist die Liebe ein Boxer. Seiner Meinung nach hatte er sich tief vor der Schönheit der Welt verneigt und wünschte jetzt nichts so heiß und innig, als dass sie wirklich die Frau des Pfarrers sei, das wäre das Beste, ich ertrage den Seegang in der Brust nicht länger, mir ist, als hätte sich der ganze Ozean zwischen Norwegen und Island um meinen Hals gelegt, ich kann kaum atmen, hängt es womöglich damit zusammen, dass sich jetzt nach tausend Jahren der Trennung unsere beiden Völker wiederbegegnen? Hier muss ein gewaltiges Schicksal walten, anders kann es nicht sein, dieses Meer, das in mir wogt, ich hatte noch nie ein solches Gefühl, ich …

All das schoss dem jungen Kapitän während seiner Verbeugung durch den Kopf, als sein Blick auf ihren Zehen (in ausländischen Pantoffeln) vor seinen grauen Wollsocken ruhte, und doch verharrte er nicht ungebührlich lange in dieser Stellung. Er glaubte zu hören, wie über ihn hinweg erklärt wurde, welche der Damen die Pfarrersgattin sei, aber er bekam es nicht mit, weil sein Kopf von so vielem erfüllt war.

Als er sich endlich aufrichtete, schlug sein Herz tausend Schläge mit einem Klang, wie ihn eine Glocke kurz vor dem Schlagen von sich gibt, tausend Schläge in einem einzigen dahintröpfelnden Ton, einer für jedes Jahr, das sie getrennt hatte, sein Blick fand wieder den ihren, das Höllentheater ging von vorne los, die Liebe war ein Schlag, ihr Gesicht der Klöppel, ihn trafen die Schläge, und nun wurde ihm klar, dass mitten in diesem Liebesleid ein Geistlicher stand, etwas hier musste weichen. Wenn diese Frau, diese Grübchenfee, dieses … Mädchen, diese Schönheit des Lebens, die Ehefrau dieses schnurrbärtigen Priesters sein sollte, der seinem Vetter Végard so ähnlich sah, dann musste der weichen, mit gebrochenem Rückgrat oder ermordet. Jawohl, ganz und gar ermordet. Einen solchen Ansturm der Liebe beantwortete man nur auf diese Weise: entweder mit einem Schlag gegen sich selbst oder mit einem Mord. Kapitän Arne war nur drei Atemzüge, nachdem er die isländisch-dänische Súsanna erblickt hatte, vollkommen klar, dass er für sie den Pfarrer umbringen würde.

Das Herz denkt am klarsten, das ein Meer überquert hat.

Er stellte sich vor, und seine Lippen zitterten, als er ihr den Namen bekanntgab, den sie bis zu ihrem Todestag tragen sollte. Súsanna Mandal. Es gab keinen anderen Weg mehr, sie hatten sich in die Augen gesehen, sie hatten sich die Hand gegeben, sie hatte ihm ihren Namen genannt, er ihr den seinen, es gab kein Zurück, sein Leben zappelte in ihrem Ringwadennetz. Sein Schattenrissprofil vibrierte, als er sich wieder an den Tisch setzte, und unwillkürlich führte er die Hand an die Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen. Diese Rolle war er nicht gewohnt, darum schwitzte er. In der Regel waren es die Damen, die in seiner Gegenwart ins Vibrieren oder Schwanken gerieten wie Boote am Kai. Seine Begleiter sahen ihn verwundert an. War etwas? Er fühlte ihre Blicke und riss sich zusammen, legte die Hände auf die Tischplatte und richtete sich auf, sein Gesicht war feuerrot, und zu dieser Röte leuchteten die blonden Haare im nicht sehr dichten Bart, in den Brauen und auf dem Kopf wie nie zuvor.

Egertbrandsen scherzte noch immer mit dem Pfarrer und den Frauen, Mandal hörte es nicht, und noch immer wurde gelacht. Er lachte sicherheitshalber mit, schob den Stuhl vom Tisch ab und versuchte, sich wie ein Mann zu setzen, dabei summten seine Augen wie zwei Hummeln durch den Raum und landeten schließlich auf den geschlossenen Lidern der blonden Frau, die sich in der Südecke des Salons an der Tastatur des Pianofortes niedergelassen hatte und artig schwieg.

Wenig später erschien die großgesichtige Haushälterin mit einem kleinen, dunkelhaarigen Mädchen auf dem Arm in der Tür, der zweijährigen Tochter in einem blassrosa Kleidchen mit Schleife. Die Männer reagierten nicht, nur der blonde Kapitän dehnte seine Rippen. Die Haushälterin setzte das Kind an der Schwelle ab, und die Kleine tippelte, erschrocken über all die rauen Seeleute, hinter deren Stühlen vorbei geradewegs auf die Blonde mit dem schlanken Hals in der Ecke am Fenster zu. Súsanna lächelte sanft und nahm die kleine Kristína auf, flüsterte ihr mütterlich etwas ins Ohr, und das Kind sah sich im Raum um. Es hatte große Bäckchen, einen schüchternen, aber intelligenten Blick, und nur der Schnurrbart fehlte, um es zu einer perfekten Kopie seines Vaters zu machen.

»Das ist unsere kleine Kristína«, erklärte der Pfarrer auf seinem Stuhl Mandal gegenüber, der höflich lächelte, während er überlegte, wie er seinen Rivalen aus dem Weg räumen könnte. Es handelte sich nicht mehr um ein fiktives Liebesdrama, vielmehr war Mandal nun im Ernst überzeugt, dass er diesen isländischen Pfarrer umbringen musste.

Halldóra kam mit Tassen, Vigdís nahm sie ihr ab und stellte sie auf den Tisch, damit Halldóra weiteres Geschirr holen konnte. Arne folgte dem Tischdecken mit den Augen und nutzte die Drehungen seines Kopfes, um weitere Blicke auf Súsanna und ihre Tochter abzufeuern. Er musste also die Vaterschaft dieses Kindes übernehmen, oder war es besser, es auch zu töten? Was für Gedanken, raunte sein Verstand entrüstet, sah dann aber seinen Besitzer in eins der besseren Geschäfte Bergens treten und für Súsanna ein Halstuch aus chinesischer Seide kaufen, hörte die Ladenglocke klingeln, als er die Tür öffnete. »God dag!« Der Verteidiger seines Empfindens musterte in der Zwischenzeit Séra Árni und setzte in Gedanken ein Rasiermesser prüfend an den geweihten Hals. Halldóra stellte eine Kanne auf den Tisch, und der Pastor erhob sich.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, verehrter Namensvetter?«