Kapitel 19

Platsch!

Kapitän Arne Mandal war in Panik über die Brücke gerannt und atemlos an Bord gestürzt. Wo war sie? Wieso war sie verschwunden? War sie nach Hause gegangen? Kaum. Er traute seiner Intuition, erst recht, als er ihre Schuhe, diese Schuhe aus der Holzhauswelt, neben der Heringstonne stehen sah, in die sie die von ihr eingesalzenen Heringe gelegt hatte. Sie war etwa zur Hälfte gefüllt.

Er eilte unter Deck zur Kajüte seiner Besatzung, wo alles in tiefem Schlaf lag, hemdgekleidetes Schnarchen in jeder Koje. Er warf einen raschen Blick in den Laderaum, in das salzige Halbdunkel dort, bevor er in zwei Sätzen den Niedergang hinaufsprang und über das Deck hastete. Hinter einem Wasserfass lagen zwei Matrosen im letzten Stadium der Trunkenheit und lallten Solveigs Lied von Grieg, wie es Reeder Sødal singen würde, und darüber lachten sie sich kaputt. Der Kapitän fragte sie kurz nach Súsanna, ob sie sie gesehen hätten, aber er bekam wenig aus ihnen heraus, und er eilte weiter zum Heck und zur Kapitänskajüte und stieg den Niedergang hinab. Seine Kajüte stand offen und war leer, die Tür zur Kabine des Kochs und des Steuermanns aber war geschlossen, und es drangen besorgniserregende Geräusche heraus, unterdrücktes Wimmern. Mandal rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Er trat sie mit einem splitternden Krachen ein und blickte in sein tiefstes Erschrecken und Entsetzen, als sei seine Brust aufgerissen und er sehe sein eigenes Herz, über das sich ein Wolf mit scharfen Reißzähnen hermachte, die Gottlosigkeit glomm im Weiß seiner Augen, während er einen Bissen aus dem roten Muskel riss.

Præst, der dänische Koch, der Súsanna mit einer Hand am Hals gepackt hielt und mit der anderen an ihren Unterkleidern zerrte, war völlig von seiner Gier in Beschlag genommen. Im Zwielicht der Kabine leuchtete sein sommersprossengezierter, knochentrockener Schädel mit der faltengefurchten Stirn. Sein ganzes Gesicht war ein Bild von Geilheit, und ihm tropfte Schaum vom Mund, er schien das Krachen der aufspringenden Tür kaum gehört zu haben. Aus seiner geilen Miene sprach keinerlei Überraschung. Aus den vorquellenden Augen der jungen Frau über den kräftigen Knöcheln des kleinen, aber starken Mannes flammten Vorwurf und Hilferuf zugleich: Da bist du ja. Endlich! Rette mich!

Der Kapitän machte einen Satz über die hohe Schwelle und tat, was jedem Kapitän verboten ist: Er erschlug seinen Koch.

Es ist nicht sicher, dass er gleich durch den ersten Schlag starb. Und auch nicht, ob nach dem zweiten oder dritten. Es steht nicht einmal fest, ob er schon tot war, als Mandal ihn den Niedergang hinaufschleifte, wobei der massive dänische Schädel mehrfach auf die Stufen schlug, gefolgt von Wehklagen, das ohne Unterlass aus der Kabine scholl: Nein, nein, nein! Es lässt sich nicht sagen, ob der Koch seinen letzten Atemzug tat, als er an Deck lag und der Kapitän ihm mit voller Kraft Tritte in den Unterleib und gegen die Brust versetzte, oder als sein schwerer Körper, von einem löwengleichen Schrei des Kapitäns begleitet, über Bord gehievt wurde, mit der Folge, dass er mit einem lauten Platschen auf dem Wasser aufschlug. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber nahm der Tod den Dänen in seine Arme, als der untersetzte Leib im vier Grad kalten Wasser versank und nicht wieder auftauchte.

Es war ein schrecklicher Anblick, den Kapitän auf seinem eigenen Deck auf und ab tigern zu sehen, einen Schwächeanfall in den Adern und die Schönheit der Berge in die Augen strömend, sein gesamtes Wesen stand weit offen, der große, stattliche Mann war zu einem leeren Fass geworden, in das alles hinein- und gleich wieder herausströmte. Er wusste nicht, was geschehen war. Was hatte er getan? Was war über ihn gekommen? Was in drei Teufels Namen war passiert? Sein Kopf wackelte, sein Herz bebte, seine Hände zitterten, er suchte Hilfe an der Reling, klammerte sich an sie und versuchte sich zu beruhigen, starrte in die Tiefe. Was hatte er getan? Mandal war völlig steif geworden, als sich zwei Matrosen rechts und links neben ihn stellten, schaukelnd auf ihrer inneren hohen Dünung, und sich auch bald an der Reling festhalten mussten. Sie sahen den Kapitän an und murmelten etwas ohne Worte, bis er ihnen Antwort gab:

»Der Koch.«

»Der Koch?«, wiederholten sie, besoffen sabbernd, und blickten dann mit ihm in die Tiefe wie minderbemittelte Komödianten.

»Der Koch«, sagte der Kapitän noch einmal in seinem Postmordstupor.

Præst der Däne war verschwunden, untergegangen, tot. Hatten diese besoffenen Idioten wirklich nicht gesehen, wie Arne die Dänenwampe über das Deck gezerrt, mit Tritten traktiert und schließlich über Bord in die brandungssalzige Hölle gekippt hatte?

»Der Koch ist tot, er ist in der Tiefe verschwunden. Wie kann es sein, dass ihr dermaßen besoffen seid? Ihr wisst doch, dass wir morgen auslaufen«, schnauzte der Kapitän seine Untergebenen an, die mit wackelnden Köpfen vor ihm standen.

Dann spuckte er kräftig über die Bordwand, ließ die Reling los, tappte zum Niedergang und stieg durch die Luke nach unten. Súsanna saß auf der Koje des Kochs, das Gesicht in den Händen vergraben, weinte lautlos und schniefte manchmal. Arne machte sich bemerkbar, beugte sich zur unteren Koje und setzte sich neben sie, legte die Hand auf ihren bebenden Rücken, war aber noch zu geschockt, um ein Wort herauszubringen. Schließlich richtete sie sich auf, wischte eine Träne aus den Wimpern und sah ihn an, doch er erwiderte den Blick nicht, sondern sah nur starr geradeaus. Sie schaute sich sein Starren an, bis er etwas sagte.

»Teufel, Teufel.«

»Was hast du mit ihm gemacht?«

Er wandte ihr den Kopf zu, und sie sah den Tod in seinen Augen; er hatte jemanden umgebracht, er hatte ihretwegen einen Menschen ermordet und ins Meer geworfen. Und er sah in ihren Augen, dass er nicht nur einen Menschen ermordet hatte, sondern zugleich auch sie, die Liebe. Sie trug das Zeichen des Todes, war selbst tot, und dabei hatte sie ihnen beiden nicht einmal einen einzigen Kuss zugestanden.

Sie schloss die Augen (war es damit zu Ende?) und lehnte ihren Kopf an seinen langen Hals, er legte den Arm enger um sie (war doch noch nicht alles zu Ende?). Seine Augen hatten sich an das Dämmerlicht in der Kabine gewöhnt und erblickten eine kurze, schwarze Hose, die an breiten, hellen Hosenträgern hing. Sie hatte abgewetzte Beulen an den Knien, die den Kapitän jetzt anschauten wie angsterfüllte und vorwurfsvolle Augen:

Du hast meinen Herrn umgebracht! Wieso hast du meinen Herrn erschlagen?

Weil er dich ausgezogen hat, war die naheliegende Antwort, doch nun stürzten Bilder auf ihn ein, glühend heiße Bilder: Mit Schmerzen in der Faust stand er vor dem Mann, und der Däne murmelte Blut in seiner Ecke. Wie lange hatte er so dagestanden? Sekunden? Minuten? Und als der Mann sich wieder regte, bekam er den zweiten Schlag und den dritten, und da wimmerte die Frau und rief Nein, nein, nein auf Isländisch. Dann überwältigte ihn der Jähzorn noch mehr und er zerrte den Kerl aus der Ecke und über die Schwelle. Wie, um alles in der Welt, hatte er es geschafft, dieses eisenarmierte Schlachtross die Stufen hinaufzuschleppen? Es war untergangen wie ein Stein, das Meer hatte es mit einem tiefen Rülpser verschluckt. Warum hatte er sich von Sødal diesen Teufel aufschwatzen lassen, der die ganze Fahrt über trank und nichts anderes kochen konnte als Schwein?

Sie löste sich aus seiner Halsgrube, und sie sahen sich in die Augen; jetzt standen Lippen Wege offen, alle Entfernung zwischen ihnen war entfernt worden, sie sanken sich in die Arme, küssten sich, hielten einander, rieben sich aneinander in der Koje des dänischen Kochs. Es waren vor Erregung zitternde Umarmungen, Küsse voller Leidenschaft, von brünstiger Hitze befeuert und mordlüsternem Liebeswahn. In Koje und Bettzeug des Ermordeten brandete das Leben, fanden Lust und Gier ihren Weg und warfen alle wohlerzogenen Bräutigamsträume und Kapitänsmanieren über Bord. Die Lebenslust konnte nicht größer werden als so: einer Frau wegen einen Mann töten und sie nur Minuten später im Bett des Getöteten nehmen. Zwei Männer um sich kämpfen zu sehen und anschließend mit dem Überlebenden ins Bett des Gefallenen zu gehen.

Was war das Leben für ein Ding? An einem stillen Morgen unter Deck, in einem Fjord, unter Bergen und Sonnenschein.

Die Leidenschaft war so stark, das Treiben so heftig, dass selbst der Großmast auf dem großen Schiff, der mächtige Mast, der aus dem feuchten Laderaum bis in luftige Höhen reichte, leicht in der Morgenstille vibrierte und dadurch eine Möwe verscheuchte.