Über solche komischen Bilder schlief der Hirte ein, schrak dann aber am Morgen hoch, als markerschütterndes Geschrei eines Kleinkinds die Baðstofa füllte. Was war das? Waren sie doch noch immer hier? Es war das gleiche Weinen, das ihn am Morgen davor geweckt hatte. Die Baðstofa war so hell, wie sie ohne Tranlampen werden konnte, denn die Helligkeit des frühen Sommermorgens fiel durch das Oberlicht herein. Es saß über Snjólkas Bett auf der anderen Seite des Mittelgangs und beleuchtete auch sein und Baldurs Bett. Jegliches Schnarchen war verstummt, von dem lauten Geschrei waren alle aufgewacht, der Bauer, seine Frau, die alte Grandvör und Snjólaug. Nur der kleine Baldur schlief hörbar weiterhin seinen Schlaf mit verstopfter Nase. Noch war niemand aufgestanden, es waren keine Schritte zu hören. Gestur richtete sich auf und sah, dass Helga im gegenüberstehenden Bett auch noch schlief oder so tat, in den anderen Betten regte sich ebenfalls nichts.
Das Kind weinte lauter als je zuvor, ein herzerweichendes hungriges Weinen. Gestur glaubte zu hören, dass es nicht aus diesem Raum kam, sondern vom Gang draußen. Waren Mutter und Sohn zurück im Gästezimmer? Hatte sich die Frau wieder hineingeschlichen, als alle schliefen? Oder war alles nur Einbildung? Schliefen hier alle, und es gab nur das Weinen von Geistern? Oder lagen alle wach und lauschten mit gespitzten Ohren dem, was man das »Heulen der Ausgesetzten« nannte? Nein, in Island waren Kinder nie im Sommer ausgesetzt worden, in den taghellen Nächten, in denen Gott am besten sah, jedenfalls sagte man so. Vielleicht war es aber auch nur leeres Gerede. Das Kind weinte und weinte. Was für Ungeheuer mussten sie sein, wenn sie vor solcher Not die Ohren verschlossen! Doch auch er selbst legte sich wieder hin, die Mutter würde sich des Kindes früher oder später annehmen.
Als aber das jämmerliche Weinen den Raum eine ganze Weile erfüllte, konnte er nicht länger liegen bleiben. Er stand auf und sah sich genauer in der Stube um. Lási sah geradezu komisch aus, wie er sich auf seiner schmalen Liege neben seiner Büchertruhe schlafend stellte (und dabei dem toten Bauern in Bæjarkot ähnlich sah), seine Frauen hatten sich alle der Wand zugedreht. Das Weinen steigerte sich noch, pure Verzweiflung gellte in Gesturs Ohren.
Er schlich leise in den Hausgang und folgte dem Geheul. Der Hund, der gewöhnlich unter den Betten oder vorn im Gang schlief, kam ihm schwanzwedelnd entgegen. Im Gästezimmer war niemand, nur das Sommerlicht, das durch ein schmutziges, viergeteiltes Fenster in der Fassadenwand einfiel und die Klampsoden in der Wand hinter dem Bett zählte. Doch, die Quelle des Weinens war in dieser Kammer zu finden, daran bestand kein Zweifel. Hinter dem Schutzwall einer zusammengeknüllten Bettdecke am hinteren Kopfende, das zum Fenster wies, war ein kleines, von Not und Wut rot verheultes Gesichtchen zu sehen; richtig, über die Mitte der Stirn verlief ein dunkler Storchenbiss zur Nasenwurzel. Das faustgroße Köpfchen, das aus einem Kokon weißer Tücher ragte, sah sehr verlassen aus, weil auch die Ärmchen in dem Bündel steckten. Stillkinder wurden in solche Tücher, Stofffetzen und Binden gewickelt wie Gegenstände, die Ärmchen mit eingebunden, um das Berühren von Mund und Fingern zu verhindern, denn es galt vieles zu beachten in jenen ansteckenden Torfzeiten, als der Tod von Kleinkindern üblicher war als ihr Überleben. Außerdem sollte das Einwickeln die Kinder ruhigstellen.
Gestur blieb einige Augenblicke vor dem schreienden Etwas stehen und suchte das Zimmer ab, auch unter dem Bett und hinter einem alten Skyrbehälter in einer Ecke, aber nein, eine Mutter war nicht zu finden. So schnell er konnte, lief er aus dem Haus.
Bodennebel verhüllte Eyri und den Pollur und schob sich über den Hofplatz auf ihn zu, darüber aber wölbten sich ein völlig klarer Himmel und die steinigen Berge, Sonne auf den Gipfeln. Eine Möwe mit gelbem Schnabel schwebte träge über dem Ufer.
Jeder Tag besaß seine eigene Schönheit.
»Mófríður!«, rief Gestur in den frühen Morgen. War sie vielleicht nach draußen gegangen, um zu pinkeln? Er rief noch einmal. Wie seltsam, so angelegen nach einem Menschen zu rufen, den man im Grunde kaum kannte. Danach wartete er einige Atemzüge, den Hof in seinem Rücken. Júnó setzte eine gewichtige Miene auf, als habe sie vor, die Frau im Nebel zu entdecken. Das Weinen drang noch immer durch die dünne hölzerne Wand.
Dann hielt Gestur es nicht mehr aus; er rannte ins Haus zurück, beugte sich über den Kleinen, nahm ihn hoch und redete ihm beruhigend zu, als wäre er, dieser fünfzehnjährige Junge, die Mutter aller Kinder. Das Weinen ließ ein wenig nach, wahrscheinlich aus Überraschung, doch dann legte der Kleine wieder los. Gestur sah in das aufgerissene Mündchen, hinab bis auf das grundlegendste menschliche Bedürfnis, und er verstand, woran es fehlte. Er verschwand mit dem Kleinen in der dunklen Vorratskammer, die gegenüber der Küche vom Gang abzweigte, legte den Weinenden auf ein schummeriges Regalbrett wie eine Hausfrau ein frisch gebackenes Brot und schnupperte in dem Behälter, der die Essensreste des Vortags enthielt, wobei er immer weiter »ruhig, ganz ruhig« vor sich hin murmelte. Blitzschnell drehte er sich um und bekam das Wickelkind gerade noch zu fassen, bevor es vom Regal rollte. Wo hatte er bloß seine Gedanken? In dem Bündel steckte ein menschliches Wesen mit Augen, Zähnen und einem ganzen Leben vor sich!
Er verwahrte das Weinen nun in seinem Arm und fand mithilfe von Nase und Fingern endlich den Milchzuber. Er hob den Holzdeckel ab, und fette, weiße Schafmilch leuchtete ihm im Dunkel der Kammer entgegen wie ein voller Mond. Er griff nach oben und fand die Schnur, die wie eine Wäscheleine zwischen den Wänden der Kammer gespannt war und an der die Kellen hingen. Er ertastete eine aus Zinn, die er in die dicke Schafsmilch tauchte, zur Hälfte mit dickem Mondlicht aus den Eutern von Mutterschafen füllte und dem Kleinen an den Mund hielt. Es war ein unbeholfener Versuch, und die Hälfte lief über Kinn und Wangen, aber der Sprachlose mochte den Geschmack und stellte das Weinen ein. Hier gab es Milch. Zwar keine Muttermilch, sondern welche aus anderen, reiferen Geschöpfen, die auch nicht zu verachten war. Gestur tauchte die Kelle erneut ein und stellte sich nun etwas geschickter an, er setzte den Kleinen auf und führte die Kelle vorsichtiger an seine Lippen. Donnerwetter, der Kleine schluckte ordentlich, die Geräusche klangen überzeugend, auch wenn sein Gesicht von der Kelle weitgehend verdeckt wurde.
»Was hast du hier in der Speisekammer zu suchen?«
Gestur erschrak. Es war Sæbjörgs Stimme, eiskalt und schneidend.
»Ich wollte bloß ein bisschen Milch für den …«
»Ein Hütejunge hat nichts in der Vorratskammer verloren. Raus mit dir! Los! Auf der Stelle!«
Gestur gehorchte und erschien im Licht des Hausgangs, eine Schöpfkelle und einen milchbärtigen Säugling im Arm. Die Frau riss ihm mit einem Schnauben die Kelle aus der Hand.
»Stiehlst du etwa aus der Milchkanne?!«
Sie dampfte mit der Kelle in die dunkle Kammer. Gestur blieb mit dem Kind auf dem Arm im Gang stehen; es begann wieder zu weinen. Sæbjörg tauchte wieder auf und starrte ihn mit einem bösen Blick an. Er verteidigte sich mit der Frage:
»Was soll ich ihm denn sonst geben?«
Sie antwortete mit einem noch strengeren Blick. Gestur senkte den seinen auf das heulende Elend in seinem Arm und hob dann die Augen wieder in Sæbjörgs Starren.
»Wieso? Er ist doch … nur ein Kind.«
»Ein Hurenkind«, sagte die Frau leise, doch voll derart lautem Schmerz, dass der Junge plötzlich einen Zipfel von dem zu fassen bekam, womit sich das Leben in seinen innersten Bezirken beschäftigte, einem Vergehen, das vor fast einem Jahr, im Herbst, im Dunkel der Nacht begangen worden war, fröhlich betrunken, in einem Winkel eines anderen Gehöfts. Das Kind in seinem Arm war ein Sohn des Hausherrn, war Lásis Sohn. Ein Lausibengel.