8 DER PROZESS
In den Paragraphen 187 und 188 des Strafgesetzbuchs von Kalifornien steht in Auszügen Folgendes:
187 (a) | Mord ist die Tötung eines Menschen mit böswilligem Vorsatz. |
188 | Ein solcher böswilliger Vorsatz kann ausdrücklich oder implizit sein. Ausdrücklich ist er, wenn eine gezielte Absicht erkennbar ist, einem Mitmenschen gesetzwidrig das Leben zu nehmen. Implizit ist er, wenn keine nennenswerte Provokation gegeben ist oder wenn die Begleitumstände der Tötung auf eine verdorbene und bösartige Gesinnung hindeuten. Wenn sich zeigt, dass die Tötung das Ergebnis des absichtlichen Begehens eines Akts mit ausdrücklicher oder impliziter Böswilligkeit, wie oben definiert, ist, muss keine andere Geisteshaltung nachgewiesen werden, um die Geisteshaltung böswilligen Vorsatzes für gegeben zu betrachten. Weder ein Wissen um die Verpflichtung, sich an die Gesamtheit der Gesetze zu halten, die das Zusammenleben der Gesellschaft regulieren, noch ein Handeln trotz eines solchen Wissens ist in der Definition von Böswilligkeit eingeschlossen. |
Der District Attorney von Contra Costa County erhob gegen Narcio Padia und Juan Ramos Anklage wegen Mordes ersten Grades aus böswilliger Absicht. Er beantragte für beide Angeklagten die Todesstrafe. Seine Absichten waren in der Öffentlichkeit bestens bekannt, und der Prozess, der am Montagmorgen beginnen sollte, wurde mit Spannung erwartet.
In der Nacht zuvor schlief Janak nicht gut. Wie vor jedem Prozess war er extrem nervös, was diesmal jedoch in erster Linie daran lag, dass es zum ersten Mal in seiner Anwaltskarriere um Leben und Tod seiner Mandanten ging. Mitten in der Nacht kam ihm plötzlich der Gedanke, dass er noch im Gefängnis vorbeischauen sollte, bevor er nach Martínez ins Gericht fuhr.
Am Morgen stand er früh auf und rief Samuel an, um ihn zu fragen, ob er ihn und Asquith auf der Fahrt zum Gericht mit Zwischenstopp in Marin County begleiten wolle. Sie fuhren zunächst zur Richmond-San Rafael Bridge, wo das State Prison San Quentin lag. Janak bat Samuel, das letzte Stück des Wegs mit ihm zu Fuß zu gehen.
Hinter einer Biegung der schmalen Straße tauchte der kürbisfarbene Bau des Gefängnisses vor ihnen auf. Sie setzten sich auf die Bank einer Bushaltestelle.
»Auf dieser Bank müssen schon Tausende von Menschen gesessen haben, die in den über hundert Jahren, die dieses Gefängnis existiert, hierhergekommen sind, um Häftlinge zu besuchen«, sagte Janak. »Zuerst sind sie mit Pferdewagen oder mit Booten übers Wasser gekommen, später per Bus oder Taxi.«
»Ich glaube, ich weiß, was dich beschäftigt«, sagte Samuel, »und wenn es irgendwie ginge, würde ich gern etwas tun, was dir die Sache einfacher machen würde. Aber das ist einer dieser Momente, in denen die ganze Last der Verantwortung auf deinen Schultern ruht.«
»Genau aus diesem Grund habe ich dich gebeten, mitzukommen. Ich wusste, dass du das verstehst. Wenn ich diesen Prozess verliere, werden meine Mandanten in diesem Gefängnis hingerichtet, und ich weiß nicht, ob ich damit leben könnte, wenn es tatsächlich so weit kommen sollte. Ich hatte schon einige schwierige Fälle, in denen es um Chemikalien ging, aber so einen hatte ich noch nie.«
»Ich weiß inzwischen, dass du sowohl sehr clever als auch absolut integer bist«, sagte Samuel. »Jeder muss in seinem Leben einmal so eine schwierige Phase durchstehen. Bei Gelegenheit werde ich dir erzählen, welche schweren Zeiten ich schon durchgemacht habe. In meinem Fall brach das Unheil ohne Vorwarnung über mich herein – ohne dass ich darauf vorbereitet war. Das verhält sich bei dir anders. Du hast dich ganz bewusst auf diese Sache eingelassen, obwohl du keineswegs dazu verpflichtet warst. Damit ist deine Ausgangsposition eine ganz andere. Es verhilft dir zu einem gewissen Abstand gegenüber den unsauberen Machenschaften, mit denen du in dieser Angelegenheit konfrontiert worden bist. Lass dich also von diesem ganzen Schmutz nicht unterkriegen, und wenn du einmal nicht mehr weiterweißt, denk immer dran: Ich bin für dich da.«
»Danke, Samuel. Ich glaube zwar zu wissen, wie ich um das Leben dieser Männer kämpfen muss, aber es bedeutet mir sehr viel, dass du mir dabei helfen willst.«
Das widerspenstige Haar vom Wind zerzaust, saß Janak da und dachte über Samuels Worte nach. Der Reporter, der in seinem dünnen Sakko leicht fröstelte, beobachtete ihn stumm.
»Ich weiß, dass ich in dieser Sache das Richtige tue«, sagte Janak schließlich.
»Deine Beweggründe sind über jeden Zweifel erhaben«, redete ihm Samuel gut zu. »Du vertrittst in diesem Fall Unschuldige, die sich keinen kompetenten Strafverteidiger leisten können. Hätten sie einen unfähigen Anwalt, würden sie vermutlich zum Tod verurteilt und hingerichtet. Denn in einem Fall wie diesem ist es so gut wie unmöglich, in Berufung zu gehen. Ich kann nur noch einmal wiederholen, Janak: Ich bin hier, um dir zu helfen, wo immer es geht.«
An einem normalen Montagmorgen war im Gericht gewöhnlich nicht viel los, aber wegen des enormen öffentlichen Interesses am Fall Hagopian war der Saal diesmal schon bis auf den letzten Platz besetzt, als die in dieser Woche zur Verhandlung anstehenden Fälle den jeweiligen Richtern zugeteilt wurden. Zu Janaks großer Erleichterung wurde das Verfahren gegen seine Mandanten Judge Lawrence Pluplot zugeteilt, der allgemein als erfahrener und integrer Strafrichter galt. Allein aufgrund der Tatsache, dass er das Verfahren leitete, bestand Anlass zu der Hoffnung, dass Deadeyes Winkelzügen wenig Erfolg beschieden sein würde.
Kurz nach zehn fanden sich die Anwälte im Richterzimmer ein. Judge Pluplot klärte sie über die Regeln auf, nach denen er die Verhandlung führen wollte, und machte sie darauf aufmerksam, dass alle Anträge noch am selben Nachmittag entgegengenommen würden. Asquith übergab dem Richter einen mehrseitigen Schriftsatz, den er mit dem Protokollführer angefertigt hatte, und händigte auch Deadeye als Vertreter der Anklage eine Kopie davon aus. Die Anklage reichte keinerlei Anträge ein. Der Richter kündigte die Auswahl der Geschworenen für den nächsten Morgen an und überreichte beiden Parteien eine Liste der in Frage kommenden Kandidaten. Zugleich machte er sie darauf aufmerksam, dass die Anträge noch am selben Nachmittag bearbeitet würden, sofern keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten aufträten.
Darauf zogen sich Janak, Asquith und Samuel in die Cafeteria zurück, um die Liste der Geschworenen durchzugehen. Der Ermittler, den Janak für die Dauer des Verfahrens eingestellt hatte, machte sich auf den Weg in die Registratur des County, um Erkundigungen über die Kandidaten einzuziehen.
»Hallo, Donald«, begrüßte Janak den blinden Alten an der Kasse der Cafeteria. »Da bin ich wieder.«
»Ah, guten Tag, Mr. Marachak.«
»Sie erkennen mich tatsächlich an der Stimme wieder?«, sagte Janak überrascht. »Dabei war ich doch nur ein einziges Mal hier.«
»Ich bin zwar blind, aber ich habe ein gutes Gehör und ein gutes Gedächtnis«, antwortete der alte Mann lächelnd. »Außerdem wusste ich bereits, dass Sie heute im Gericht sein würden.«
»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein«, sagte Janak. »Haben Sie vielleicht auch ein paar Tipps für mich, was die Auswahl der Geschworenen betrifft? Das steht nämlich als Erstes auf der Tagesordnung.«
»Das hängt davon ab, wer Ihre Kandidaten sind.«
Janak sah seine beiden Begleiter skeptisch an. Auch Asquith und Samuel konnten sich nicht vorstellen, dass ihnen ein Blinder bei der Auswahl der Geschworenen helfen könnte. »Kommt Ihnen denn hin und wieder etwas über die Leute zu Ohren, die sich als Geschworene zur Verfügung stellen?«, fragte Janak den alten Mann.
»Sie würden staunen, was ich hier so alles zu hören bekomme, Counselor.«
»Heißt das, Sie können mir ein paar brauchbare Hinweise geben, wenn ich Ihnen die Namen der Kandidaten nenne?«
»Was glauben Sie denn? Ich kann mich an die Namen aller Geschworenen erinnern, die mal in die Cafeteria gekommen sind. Sie trinken hier Kaffee, essen zu Mittag, und manchmal nehmen sie auch nachmittags noch eine Kleinigkeit zu sich. Da bekomme ich alles Mögliche über sie zu hören, und zwar hauptsächlich von anderen Geschworenen, die am selben Prozess teilnehmen. Und dann sind da noch die Festen. Es gibt Geschworene, die in den letzten zehn Jahren an fünf oder sechs Prozessen teilgenommen haben.«
»Dann lassen Sie mich Ihnen doch gleich ein paar Kandidaten nennen«, sagte Janak und las sechs Namen von der Liste ab.
»Lauter ehrliche und anständige Leute – bis auf Nummer vier. Der Kerl ist mit allergrößter Vorsicht zu genießen.«
Asquith strich den Namen auf der Liste durch, neben die anderen schrieb er ›okay‹. In diesem Stil ging Janak dann mit dem Alten die ganze Liste durch und bekam auf diese Weise eine Vielzahl brauchbarer Informationen über die Kandidaten. Bei einigen äußerte der Blinde Bedenken, bei anderen riet er Janak, selbst Erkundigungen über sie einzuziehen, weil sie dem County zum ersten Mal als Geschworene zur Verfügung standen. Samuel bot Janak an, dass er sich darum kümmern würde, damit sich die beiden Anwälte ganz auf die Abfassung der Anträge konzentrieren konnten.
»Wie ist das eigentlich mit Earl Graves?«, wandte sich Janak wieder an den Blinden. »Taucht er auch manchmal hier auf?«
»Nicht ein einziges Mal, seit er Deputy District Attorney ist. Den interessiert doch nicht, wie die einfachen Leute leben. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Er ist nicht sonderlich beliebt beim Gerichtspersonal, was aber nicht heißen soll, dass die Gerichtsdiener und Wärter nicht auf der Seite von Recht und Ordnung stehen. Aber Graves gilt allgemein als rücksichtsloser Dreckskerl, der für seine Karriere über Leichen geht. Und die jüngste Zeitungsmeldung über ihn hat auch nicht gerade dazu beigetragen, seinem schlechten Ruf entgegenzuwirken.«
»Wie hat man diese Sache denn hier gesehen?«
»Graves wäre um ein Haar geschasst worden, aber der Chef hatte sonst niemanden, der den Fall hätte übernehmen können. Das ist der einzige Grund, warum Graves noch im Amt ist.«
»Eigentlich bin ich sogar froh, dass Deadeye nicht entlassen wurde«, sagte Janak. »So weiß ich wenigstens, mit wem ich es zu tun habe. Aber ich kann mir vorstellen, dass ihm sein Chef ordentlich die Leviten gelesen hat.«
»Das können Sie laut sagen, Sir. Er hat ihm in aller Deutlichkeit klargemacht, noch ein Fehler, und er ist weg vom Fenster. Er hat ihm sogar damit gedroht, höchstpersönlich einen Antrag zu stellen, das Verfahren wegen eines Verfahrensfehlers einzustellen.«
»Glauben Sie, der Richter würde so einem Antrag stattgeben?«, fragte Janak. »Mir wäre es nämlich lieber, er täte es nicht – es sei denn, Graves leistet sich einen besonders dicken Klops.«
»Schwer zu sagen«, meinte der Blinde. »Sie sind alte Freunde, der D.A. und der Richter, aber das muss nicht unbedingt etwas heißen. Sie wissen ja selbst, wie Pluplot ist: absolut korrekt und zuverlässig. Er wird sich bestimmt strikt an das Gesetz halten. Aber seien Sie auf jeden Fall vorsichtig. Diesem Graves ist alles zuzutrauen.«
»Keine Sorge, Donald. Ich unterschätze meine Gegner nie.«
»Bei Deadeye müssen Sie mit dem Schlimmsten rechnen.«
Inzwischen waren verschiedene andere Leute an die Kasse gekommen, um zu zahlen. Samuel beobachtete aufmerksam, wie der alte Blinde die Geldscheine befühlte, die er bekam, und stellte fest, dass er die Kasse bei jedem Zahlvorgang weit offen stehen ließ. Als alle gezahlt hatten, setzte Janak sein Gespräch mit dem Alten fort. Wenig später kamen jedoch so viele Geschworene aus anderen Gerichtssälen in die Cafeteria, um sich ein Sandwich oder etwas zu trinken zu kaufen, dass sie ihre Unterhaltung nicht fortsetzen konnten.
Die beiden Anwälte und der Reporter beschlossen, in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Gerichts zu Mittag zu essen. Nach dem Essen kehrten Janak und Asquith ins Gericht zurück, um ihre Anträge einzureichen, und Samuel fuhr mit der Geschworenenliste zu Mae Ming. Damit niemand etwas von seinem Besuch bei ihr mitbekam, betrat er die Wäscherei durch den Hintereingang. Mae Ming begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln.
Samuel legte ihr eine Liste mit den Namen derjenigen Geschworenen vor, über die sie nichts hatten in Erfahrung bringen können. Mae Ming nahm eines ihrer Notizbücher aus dem Regal und begann darin zu blättern, dann deutete sie auf den ersten Namen. »Der hier ist in Ordnung. Er mag Tiere und ist insgesamt ein herzensguter Mensch.« Sie blätterte ein paar Seiten weiter, bevor sie stirnrunzelnd innehielt.
»Der hier gehört einer extrem reaktionären politischen Organisation an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er viel für jemanden übrighat, der nicht in den Vereinigten Staaten geboren wurde.« Sie blätterte weiter. »Über diese Frau liegt mir rein gar nichts vor. Was macht sie beruflich?«
»Das werde ich herauszufinden versuchen, wenn sie ausgewählt wird.« Samuel schrieb etwas in sein Notizbuch. »Danke, Miss Ming, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Am besten, Sie kommen jeden Tag zu mir, sobald der Prozess begonnen hat«, sagte sie. »In dieser Stadt gibt es eine Menge Leute, die nur zu gern jeden hängen sähen, solange er nur die falsche Hautfarbe hat.«
»Auf dieses Angebot komme ich gern zurück, Miss Ming. Ich werde morgen Janak Marachak mitbringen, damit Sie ihn kennenlernen.«
»O ja. Diesen Robin Hood in Advokatenrobe würde ich zu gern mal sehen«, sagte sie mit einem leicht ironischen Unterton.
Die Anwälte wurden gerade mit den A-limine-Anträgen fertig, als Samuel im Gerichtssaal eintraf. Er wartete, bis Janak die Unterlagen in seiner Aktentasche verstaut hatte und zum Ausgang ging. An seiner Miene ließ sich nicht erkennen, was in ihm vorging. »Und? Wie ist es bei euch gelaufen?«, fragte Samuel deshalb.
»Wir haben ein bisschen gewonnen und ein bisschen verloren«, antwortete der Anwalt.
»Dann fang lieber mit den schlechten Nachrichten an«, schlug Samuel vor.
»Was die Kleidung der Angeklagten angeht, konnte ich den Richter leider nicht umstimmen. Es ist sicher nicht gut für meine Mandanten, wenn die Geschworenen sie in Gefängniskleidung und Ketten sehen.«
»Ist das überhaupt zulässig?«, fragte Samuel.
»Leider ja«, sagte Janak. »Es wäre wirklich schlimm, ausgerechnet deswegen den Prozess zu verlieren.«
»Sonst noch irgendwelche schlechten Nachrichten?«
»Als ob das nicht schon genug wäre«, murrte Janak. »Nein, alles andere lief nach Wunsch. Deadeye darf weder das Beweismaterial von dem Mord in Fresno bei der Verhandlung einbringen noch darauf hinweisen, dass Miguels Fingerabdrücke auf der Mordwaffe gefunden wurden. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass Deadeye alles daransetzen wird, den Geschworenen dieses Beweismaterial trotzdem irgendwie zur Kenntnis zu bringen.«
»Hat er denn wenigstens die Liste mit seinen Zeugen herausgerückt?«
»Ja, da blieb ihm zum Glück keine andere Wahl.«
»Dann spann mich nicht länger auf die Folter. Wen wird er in den Zeugenstand rufen?«
»Detective Bernardi, den Mann von der Spurensicherung und den Rechtsmediziner, der die Obduktion vorgenommen hat. Den Coroner selbst wird er erstaunlicherweise nicht aufrufen. Und als letzten Zeugen hat er El Turco, diesen Kurden, angekündigt.«
»Sind das schon alle?« Samuel sah ihn ungläubig an.
»Ja, und die Angehörigen natürlich noch.«
»Überrascht dich das nicht?«, fragte Samuel.
»Doch, schon. Es heißt nämlich, dass Deadeye denkt, er hätte den Prozess bereits gewonnen.«
Am Dienstagmorgen saß Deadeye, die Füße auf dem Schreibtisch, in seinem Büro und ging seine Prozessvorbereitungen durch. Um Platz für seine Cowboystiefel zu schaffen, hatte er den Louis-L'amour-Schmöker zur Seite geschoben. Er fand, er konnte auf ein paar recht erfolgreiche Monate zurückblicken, sah man einmal von dem Foto ab, das ihn mit den Transvestiten zeigte. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie hatte er auch nur so dumm sein können? Dieses Malheur konnte einen herben Rückschlag für seine Karriere bedeuten. Zum Glück hatte die Öffentlichkeit ein kurzes Gedächtnis. Blieb also nur die Frage, wie er den Geschworenen das problematische Beweismaterial zur Kenntnis bringen könnte, um diese dreckigen Mexikaner in die Gaskammer zu befördern. Er wusste nicht, wie weit er diesbezüglich gehen konnte. Fest stand nur, dass die Geschworenen diese Beweise unbedingt zu sehen bekommen mussten, ohne dass der Prozess wegen eines Verfahrensfehlers eingestellt wurde. Wie hieß es doch so schön? Einen fahrenden Zug kann man nicht aufhalten.
Er ließ den Blick auf einem der Bilder in seinem Büro ruhen. Es zeigte einen Cowboy in Lederüberhosen, einen Fuß in den Nacken eines Longhorn gesetzt, das er mit dem Lasso eingefangen und am Sattelhorn seines Appaloosa-Hengstes festgezurrt hatte. Deadeye stand auf und stellte einen Fuß auf den Schreibtischstuhl. Er war fest davon überzeugt, dass er die Angeklagten schon genau da hatte, wo er sie haben wollte: gefesselt und am Boden.
Als Marachak und Asquith den Gerichtssaal betraten, wimmelte es dort bereits von potenziellen Geschworenen. Sie gingen den Mittelgang hinunter und durch die Schwingtür, die den Zuschauerbereich von der Richterbank und den Tischen der Anwälte trennte, und nahmen auf der Anklagebank Platz. Auf der anderen Seite des Saals, nicht weit von der Geschworenenbank, thronte Deadeye Graves bereits an seinem Platz. Die Protokollführerin saß am Fuß der erhöhten Richterbank. Janak und Asquith holten ihre Unterlagen heraus und bauten sie vor sich auf. Deadeye hatte lediglich ein dünnes Notizbuch vor sich liegen, in dem er gerade blätterte.
Fünf Minuten vor zehn Uhr ging eine der Türen im hinteren Teil des Saals auf, und zwei Wärter führten die Angeklagten herein. Beide trugen orangefarbene Gefängnisoveralls mit einer Kette um den Bauch, an der ihre Hand- und Fußfesseln so festgemacht waren, dass sie die Hände nicht über die Gürtellinie heben konnten. Für den Fall, dass einer der Angeklagten auf dumme Gedanken kommen sollte, postierte sich einer der beiden Wärter an der Schwingtür in der Schranke, der andere blieb am Eingang des Gerichtssaals stehen.
Juan Ramos war sauber rasiert und hatte das Haar ordentlich nach hinten gekämmt. Neben ihm wirkte Narcio Padia wie ein Junge. Dünn und drahtig, hatte er keinerlei Gesichtsbehaarung – ein Zeichen seiner indianischen Herkunft. Er war erst einundzwanzig Jahre alt. Beide Männer machten einen nervösen und verängstigten Eindruck. Ihnen war nur zu deutlich bewusst, was bei diesem Prozess auf dem Spiel stand. Janak klopfte ihnen aufmunternd auf die Schultern, als er aufstand, um sie auf der Anklagebank Platz nehmen zu lassen. Er wollte, dass sie so weit wie möglich von den Geschworenen entfernt wären, und hatte ihnen außerdem eingeschärft, während des Verfahrens sitzen zu bleiben, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf ihre Gefängniskluft zu lenken.
Als um Punkt zehn Uhr die Tür hinter der Richterbank aufging und der Richter in seiner schwarzen Robe den Saal betrat, standen alle Anwälte auf. Der Gerichtsdiener rief: »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Die Sitzung des Obersten Gerichts von Contra Costa County ist hiermit eröffnet. Den Vorsitz führt Judge Lawrence Pluplot.«
Der Richter stieg auf das Podest und ließ sich auf dem Drehstuhl hinter der Richterbank nieder. Nach einem kurzen Blick auf die Prozessbeteiligten und die zur Auswahl stehenden Geschworenen setzte er eine randlose Brille auf. Er hatte dichtes braunes, in der Mitte gescheiteltes Haar, und die weit auseinanderstehenden Augen über seiner markanten Hakennase verliehen ihm das Aussehen eines energischen und tatkräftigen Mannes. Judge Pluplot sah kurz nach links, um sich zu vergewissern, dass die Protokollführerin an ihrem Platz zwischen Zeugenstand und Geschworenenbank saß. Dann ließ er den Gerichtsdiener den Fall aufrufen.
»Das Volk des Staates Kalifornien gegen Narcio Padia und Juan Ramos, Fall Nummer C-607.532 und C-607.533, betreffend einen Verstoß gegen Paragraph 187 des kalifornischen Strafgesetzbuchs. Mord ersten Grades. Die Herren Anwälte, würden Sie sich bitte erheben.«
Deadeye stand auf. Er trug einen schwarzen Anzug, die übliche von einem Türkis zusammengehaltene Schnürsenkelkrawatte und seine schwarzen Cowboystiefel mit den silbernen Spitzen. »Earl Graves in Vertretung des Volkes des Staates Kalifornien«, verkündete er in seinem affektierten Texas-Slang. Bevor er sich wieder setzte, wandte er sich mit einem gewinnenden Lächeln den Geschworenen zu.
Dann stand Janak auf, dessen massige Gestalt kaum in seinen grauen Anzug passte. Sein widerspenstiges braunes Haar war jedoch ausnahmsweise einmal gekämmt, und seine Augen sprühten vor Tatendrang. »Janak Marachak und Bartholomew Asquith vertreten die Angeklagten Narcio Padia und Juan Ramos.«
Der Richter hielt den angehenden Geschworenen eine vorgefertigte Ansprache über ihre Pflichten und erklärte, dass zwölf von ihnen als Geschworene bestimmt würden und sie nach ihrer Ernennung einer Vorvernehmung unterzogen oder von den Anwälten befragt würden. Weiter wies er sie daraufhin, dass in dem anhängigen Fall möglicherweise die Todesstrafe verhängt würde, wenn einer der Angeklagten für schuldig befunden würde, und dass er die Kandidaten deshalb fragen müsse, ob einer von ihnen grundsätzlich gegen die Todesstrafe sei. Als darauf fünf Personen die Hand hoben, vertagte sich das Gericht, und die fünf wurden zusammen mit den Anwälten ins Richterzimmer gerufen, um zu ermitteln, ob die Verweigerer sich womöglich nur ihrer Bürgerpflicht entziehen wollten oder tatsächlich aus Gewissensgründen handelten.
Als eine Stunde später die Verhandlung wiederaufgenommen wurde, wurden die ersten zwölf Kandidaten aufgefordert, auf der Geschworenenbank Platz zu nehmen. Darauf erklärte ihnen der Richter, dass es in dem Prozess zwei Parteien gebe und jede Partei das Recht habe, acht Kandidaten ohne Nennung von Gründen abzulehnen; die Betroffenen sollten dies jedoch nicht persönlich nehmen, da jede Partei dazu verpflichtet sei, zur bestmöglichen Wahrung der Rechte ihrer Mandanten diejenigen Geschworenen auszusuchen, die ihnen als die unparteiischsten erschienen. Des weiteren wies der Richter die Kandidaten darauf hin, dass gelegentlich ein Anwalt den Antrag stellte, einen der Geschworenen aus einem bestimmten Grund abzulehnen. Die Entscheidung, ob ein solcher Grund berechtigt sei, obliege einzig und allein dem Richter; und wenn die betreffende Person daraufhin als Geschworener abgelehnt werde, solle der oder die Betreffende dies nicht persönlich nehmen, weil auch das gängige Praxis sei.
Danach hätte eigentlich die Vorvernehmung der Geschworenen beginnen können, aber weil es schon kurz vor zwölf war, vertagte der Richter die Verhandlung auf vierzehn Uhr. Er wies die Geschworenen noch einmal nachdrücklich darauf hin, in der Pause und auch während der gesamten Dauer des Prozesses weder untereinander noch mit sonst einem Menschen über irgendwelche Aspekte des Falls zu sprechen, solange er ihnen dies nicht ausdrücklich gestattete.
Die Auswahl der Geschworenen zog sich zweieinhalb Tage hin. Zu den erbittertsten Auseinandersetzungen kam es, wie nicht anders zu erwarten, bei der Ablehnung derjenigen Kandidaten, die die Artikel gelesen hatten, die Deadeye der Presse zugespielt hatte. Zwölf von ihnen wurden mit der Begründung abgelehnt, dass sie die in diesen Pressemeldungen aufgestellten Behauptungen für erwiesene Tatsachen hielten. Darüber hinaus machte Janak anhand der Informationen, die er von Mae Ming und Donald erhalten hatte, von sieben seiner acht Ablehnungsmöglichkeiten Gebrauch. Sie richteten sich gegen Kandidaten, die Deadeye, der bisher noch keinen der Aspiranten abgelehnt hatte, in der Hand hatte.
Am Donnerstagnachmittag wurde kurz vor Verhandlungsschluss über einen Kandidaten abgestimmt, bei dem Janak ein ungutes Gefühl beschlich. Er verzichtete jedoch darauf, von seiner letzten Ablehnungsmöglichkeit Gebrauch zu machen, weil er wusste, dass Deadeye genau darauf wartete. »Die Angeklagten sind mit der Auswahl der Geschworenen einverstanden, Euer Ehren«, erklärte er deshalb.
»Könnte das Volk eine kurze Bedenkpause haben, Euer Ehren?«, fragte Deadeye. Er ging die Liste der verbleibenden Kandidaten durch und zog seine Notizen über die bereits ausgewählten Geschworenen zu Rate. Ihm war klar, dass er sich mit seiner Antwort nicht zu viel Zeit lassen durfte, da dies den Eindruck erweckt hätte, dass ihm die bereits ausgewählten Geschworenen nicht passten, und deshalb blätterte er weiter hastig in seinen Unterlagen. Nach außen hin wirkte Deadeye zwar wie die Ruhe in Person, aber innerlich kochte er. Er hatte sich austricksen lassen. Sein Plan war gewesen, dass Janak von seiner letzten Ablehnungsmöglichkeit Gebrauch machte und dadurch er, Deadeye, ungehindert eine seiner Marionetten auf die Geschworenenbank hieven könnte. Aber das ging jetzt nicht mehr; das Risiko wäre zu groß. Er stand auf. »Auch das Volk ist mit der Auswahl der Geschworenen einverstanden, Euer Ehren.«
Janak und Asquith sahen sich lächelnd an. Diese Runde ging an sie.
Der Richter ließ den Gerichtsdiener die Geschworenen vereidigen und rief die Anwälte zu sich. »Brauchen wir Ersatzleute, meine Herren?«
»Ideal wären mindestens zwei«, schlug Janak vor.
»Ganz wie Sie wollen.« Deadeye, der inzwischen kaum mehr an sich halten konnte, biss sich auf die Unterlippe und starrte finster an die Wand.
Sie wählten zwei Ersatzleute aus, und nachdem auch sie vereidigt waren, wurden die vierzehn Geschworenen entlassen.
Inzwischen war es Viertel nach fünf geworden. Janak und Asquith packten ihre Sachen zusammen und verließen den Gerichtssaal. Samuel wartete auf dem Flur auf sie. »Glückwunsch. Deadeye hat gerade noch einen jungen Anwalt furchtbar zur Schnecke gemacht. Er war stinksauer, weil er den Eindruck hatte, dass du Insiderinformationen über die Geschworenen hast. Er hat die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gelauert, deinen Vorteil zunichtezumachen, aber weil du von deiner letzten Ablehnungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hast, ist ihm das nicht gelungen. Er hat seinen Assistenten immer wieder gefragt, wie du das hinkriegen konntest, und der arme Kerl konnte ihm nur immer wieder versichern, dass er es nicht wüsste.«
»Unser Netzwerk hat bestens funktioniert«, sagte Janak.
»Allerdings«, bestätigte Asquith grinsend. »Nur zwei aufrechte Bürger wie Mae Ming und Donald. Mehr war nicht nötig.«
»In meinem Artikel kann ich das natürlich nicht erwähnen. Ich werde lediglich schreiben, dass die Geschworenen ausgewählt wurden und der Prozess am Montag fortgeführt wird.«
»Jetzt kommt der wirklich schwierige Teil«, sagte Janak. »Deadeye ist eine verdammt harte Nuss.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns mehr Ärger machen wird als bisher. Wir müssen nur auf seine Zeugen gut vorbereitet sein«, sagte Asquith, der sichtlich stolz war, dass er die ganze Woche von Panikattacken verschont geblieben war.
Janak blickte sich im Gerichtssaal um. Er unterschied sich nicht nennenswert von den vielen anderen, die er in seiner Laufbahn als Anwalt von innen zu sehen bekommen hatte. Die Bänke und die Wandvertäfelung waren aus Nussbaumholz. Von der Decke hingen verstaubte weiße Kugellampen. Die Richterbank war von jeweils einer verblichenen Fahne der Vereinigten Staaten und des Staates Kaliforniens flankiert.
Janak hatte schlecht geschlafen und einen metallischen Geschmack im Mund. Er war in letzter Zeit sehr nervös gewesen, aber heute Morgen war er in einer seltsam ruhigen Stimmung und voller Zuversicht. Er wusste, dass er sich optimal auf den Prozess vorbereitet hatte.
Der Richter betrat den Saal und nahm auf der Richterbank Platz. Janak konnte die gespannte Erwartung der Geschworenen ebenso deutlich spüren wie die bange Beklemmung seiner Mandanten, die neben ihm und Asquith auf der Anklagebank saßen.
Deadeye, in seinem besten schwarzen Anzug, die Stiefel auf Hochglanz poliert, stand auf, um sein Eröffnungsplädoyer zu halten. Er stellte die Angeklagten als bösartige Mörder hin und zählte die Beweise auf, die sie mit der Tat in Verbindung brachten. Als Motiv für ihre verabscheuungswürdige Tat führte er Rache an, weil sie der irrigen Meinung gewesen seien, Mr. Hagopian trage die Schuld an dem ihren Familien entstandenen Schaden. Des weiteren ging er in aller Ausführlichkeit auf die Schlinge um den Hals des Opfers ein und erklärte, dass nur Juan Ramos diesen Knoten habe knüpfen können. Er wies die Geschworenen darauf hin, dass die Angeklagten Hagopian zunächst mit ebenjenen Chemikalien zu töten versucht hatten, die ihrer Auffassung nach ihre Kinder vergiftet hatten, und machte im Anschluss daran geltend, dass sämtliche Beweise, die er im Verlauf des Prozesses vorlegen würde, keinen anderen Schluss zuließen, als dass die Angeklagten den Mord in böswilliger Absicht begangen hätten und deshalb die Todesstrafe gerechtfertigt sei. Sein Eröffnungsplädoyer dauerte weniger als eine Stunde.
Als Deadeye geendet hatte, stand Janak auf. Der Kontrast zwischen dem leicht vernachlässigten Äußeren des Verteidigers und Deadeyes gepflegter Erscheinung hätte kaum größer sein können. Um den Geschworenen den Eindruck zu vermitteln, dass er sich an jeden von ihnen ganz persönlich wandte, sah Janak sie der Reihe nach eindringlich an, bevor er darauf hinwies, dass sie, bevor sie einen Angeklagten schuldig sprechen konnten, alle zwölf von seiner Schuld überzeugt und sich absolut sicher sein müssten, dass er die Straftat, deren er beschuldigt wurde, tatsächlich begangen hatte. Und als Nächstes erklärte ihnen Janak, dass es in diesem Verfahren nicht einen einzigen stichhaltigen Beweis gebe, der dies rechtfertige. Außerdem rief er den Geschworenen den alten Rechtsgrundsatz in Erinnerung, dass jeder Angeklagte zunächst als unschuldig angesehen werden müsse und die Geschworenen, sollten sie begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten haben, verpflichtet seien, diesen freizusprechen; und weil seine Mandanten in dieser Phase des Prozesses nichts zu beweisen hätten, bestehe seitens der Verteidigung auch kein Grund, auf die von der Anklage vorgelegten Beweise einzugehen. Janaks Eröffnungsplädoyer, sein erstes in einem Strafprozess, dauerte nur zwanzig Minuten.
Der erste Zeuge, der von Deadeye aufgerufen wurde, war Phillip Macintosh vom forensischen Labor des Richmond Police Department, der als einer der Ersten am Tatort eingetroffen war. Macintosh war Ende dreißig, Brillenträger, über eins achtzig groß, mit dichtem schmutzig blondem Haar und dem Erscheinungsbild eines zerstreuten Professors. Um die fachliche Kompetenz des Zeugen zu unterstreichen, führte Deadeye an, dass er 1949 an der University of California in Berkeley einen Master in Biologie erworben hatte; seitdem war er für das Richmond Police Department tätig und hatte das Beweismaterial zu über fünfhundert Kriminalfällen analysiert. Seine Gutachten waren bisher in keinem einzigen Berufungsverfahren angefochten worden.
Macintosh schilderte zunächst, wie er Anfang Dezember des vergangenen Jahres Lieutenant Bruno Bernardi vom Morddezernat zur Mülldeponie in Point Molate begleitet hatte und was sie dort vorgefunden hatten.
»Können Sie uns sagen, Mr. Macintosh, wessen Fingerabdrücke Sie auf den Cola-Flaschen in den Taschen des Toten gefunden haben?«, eröffnete Deadeye die Befragung.
»Einspruch, Euer Ehren«, rief Janak. »Dürften die Anwälte kurz nach vorn kommen?« Daraufhin versammelten sich Janak, Asquith und Deadeye beim Richter und der Protokollführerin an der Richterbank.
»Mr. Graves weiß ganz genau, dass die Fingerabdrücke auf den Cola-Flaschen von Miguel Ramos und José Ramos stammen, gegen die hier nicht verhandelt wird«, führte Janak an. »Aus diesem Grund leistet es nur weiteren Vorurteilen gegen meine Mandanten Vorschub, wenn der Staatsanwalt versucht, Familienangehörige von Mr. Juan Ramos mit der Tat in Verbindung zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass sich der von ihm erhobene Schuldvorwurf gegen meine Mandanten einzig und allein auf den Umstand stützt, dass ein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Deshalb möchte ich das Gericht bei dieser Gelegenheit auch noch einmal mit Nachdruck daran erinnern, Mr. Graves daran zu hindern, Beweismittel vorzulegen, die Miguel Ramos mit dem Mord an Joseph Hagopian in Fresno in Verbindung bringen.«
»Da legt er Ihre Entscheidung aber sehr großzügig aus, Judge«, protestierte Deadeye. »Sie haben lediglich verfügt, dass ich Miguel Ramos' Fingerabdrücke auf der Mordwaffe in Fresno nicht zur Sprache bringen darf, wohingegen keine Rede davon war, dass ich auch die Fingerabdrücke auf den Cola-Flaschen in Point Molate nicht erwähnen darf.«
»Da hat Mr. Graves recht, Mr. Marachak. Sie legen meine Verfügung großzügiger aus, als sie von mir ausgesprochen wurde. Einspruch abgelehnt. Sie können die Frage stellen, Mr. Graves.«
Mit triumphierender Miene kehrte Deadeye an seinen Platz zurück und wiederholte: »Sagen Sie uns bitte, Mr. Macintosh, wessen Fingerabdrücke Sie auf den Cola-Flaschen gefunden haben.«
»Die Fingerabdrücke von Miguel und José Ramos, zwei ehemaligen Angestellten Mr. Hagopians.«
»Wessen Fingerabdrücke waren auf welchen Flaschen?«
»Die Fingerabdrücke auf den zwei Flaschen in den Innentaschen des Anzugs waren von Miguel Ramos, die auf den zwei Flaschen in den Außentaschen stammten von José Ramos.«
»Was befand sich in den Cola-Flaschen, Mr. Macintosh?«
»Die zwei, auf denen Mr. Miguel Ramos' Fingerabdrücke waren, enthielten die Chemikalien, die laut der von ihm erhobenen Zivilklage die Geburtsschäden seiner Kinder und seine Sterilität verursacht hätten. In den anderen zwei Flaschen mit Mr. José Ramos' Fingerabdrücken befanden sich diejenigen zwei Chemikalien, von denen Letzterer behauptete, dass sie die Geburtsfehler seiner Kinder und seine Sterilität verursacht hätten.«
»Erklären Sie den Geschworenen bitte, auf welche Zivilklage Sie sich hier beziehen, Mr. Macintosh.«
»Die Deponiearbeiter Miguel und José Ramos sowie Mr. Narcio Padia, der kleinere der beiden Herren, die dort drüben auf der Anklagebank sitzen, haben eine Zivilklage gegen die Mülldeponie, gegen Mr. Hagopian und gegen mehrere Chemiefirmen eingereicht, in der sie die Behauptung aufstellen, diese trügen die Schuld an den Geburtsfehlern ihrer Kinder und ihrer eigenen nach der Geburt ihrer Kinder eingetretenen Infertilität. In der Klageschrift führten sie mehrere Chemikalien auf, die ihrer Meinung nach für diese Schäden verantwortlich zu machen sind, und einige dieser Chemikalien wurden in den Flaschen gefunden, die in den Taschen des Ermordeten steckten.«
»Die gleichen Chemikalien?«, fragte Deadeye mit übertriebenem Erstaunen.
»Die gleichen.«
»Haben Sie auch Fingerabdrücke anderer Personen am Tatort gefunden?«
»Ja, Sir. An dem Rechen, mit dem der Boden unter dem Eingangstor der Deponie geharkt worden war, fanden wir die Fingerabdrücke von Narcio Padia.«
»Auf dem Rechen, der auf diesem Foto zu sehen ist?« Deadeye hob eine Fotografie hoch.
»Ja, Sir.«
»Wissen Sie übrigens, was mit den Angeklagten, die hier sitzen, sowie mit Miguel Ramos und José Ramos geschah, nachdem sie ihre Zivilklage eingereicht hatten?«, fragte Deadeye und schritt dabei vor den Geschworenen auf und ab.
»Einspruch, Euer Ehren, das kann der Zeuge nur vom Hörensagen wissen«, protestierte Janak.
»Ich lasse die Frage zu«, entschied der Richter.
Darauf antwortete der Zeuge: »Ja, Sir. Sie wurden alle entlassen.«
»Wie bitte?« Überraschung heuchelnd, sah Deadeye die Geschworenen an.
»Sie wurden entlassen.«
»Wann war das?«
»Ein paar Monate vor dem Mord.«
»Danke, Mr. Macintosh. Im Moment habe ich keine weiteren Fragen mehr an Sie.« Deadeye lächelte zufrieden und setzte sich. »Ihr Zeuge, Mr. Marachak.«
Janak Marachak stand auf. »Entschuldigung, Euer Ehren, dürfte ich ein Pult benutzen? So kann ich besser mit dem Zeugen sprechen.«
Der Richter gab seiner Bitte statt, und der Gerichtsdiener stellte ein Pult vor den Zeugenstand.
»Guten Morgen, Mr. Macintosh. Wie viele der von Ihnen bearbeiteten Fälle waren Mordfälle?«
»Ich würde sagen, um die fünfzig.«
»Bei allen diesen fünfzig Fällen gab es forensisches Beweismaterial, das Sie auszuwerten hatten, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Hatten Sie es jemals mit einem Fall wie diesem zu tun, Mr. Macintosh?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich recht verstehe, was Sie meinen, Counselor.«
»Hatten Sie jemals einen Fall, in dem das Beweismaterial gegen die Angeklagten so offensichtlich war?«
»Könnten Sie sich vielleicht etwas genauer ausdrücken, Counselor?«
»Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn jemand einen Fingerabdruck hinterlässt, geschieht das in der Regel nicht an einer Stelle, die so offensichtlich und auffällig ist wie etwa eine Cola-Flasche, die gezielt an der Leiche zurückgelassen wird.«
»Man kann nie sagen, wo man belastende Beweise findet. Aber es stimmt, einen Fingerabdruck an einer so offensichtlichen Stelle zu finden war etwas überraschend.«
»Die Fingerabdrücke an den Stellen zu finden, an denen Sie sie gefunden haben, war in diesem Sinn also etwas ungewöhnlich, ist das richtig?«
Deadeye sprang auf. »Einspruch, damit erklärt der Zeuge seine Aussage für falsch.«
»Abgelehnt, das ist ein Kreuzverhör.«
»Ja, wenn man es so sieht, war es tatsächlich etwas ungewöhnlich.«
»Ist es richtig, dass auf diesen Cola-Flaschen keine Fingerabdrücke der hier im Gerichtssaal anwesenden Angeklagten gefunden wurden?«
»Das ist richtig.«
»Wissen Sie, woher diese Cola-Flaschen kamen?«
»Nein, Sir, das weiß ich nicht.«
Janak zog ein paar Fotos aus dem Stapel auf seinem Pult. »Darf ich diese Fotos als Beweisstücke der Verteidigung aufnehmen lassen, Euer Ehren?« Damit reichte er die Abzüge der Protokollführerin, die sie auf Anweisung des Richters registrierte.
»Darf ich die Fotos dem Zeugen zeigen, Euer Ehren?«
»Selbstverständlich.«
Janak gab sie Macintosh.
»Sehen Sie diese Coca-Cola-Kisten neben dem Wohnwagen? Nein, zuerst einmal, kennen Sie den Wohnwagen?«
»Ja, Sir. Das ist das Büro der Deponie.«
»Und Ihnen ist bekannt, dass die Arbeiter ihre leeren Flaschen dort hineinstellten?«
»Ja, Sir.«
»Und vier Flaschen aus diesen Getränkekästen haben gefehlt, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Und auf den Flaschen, die auf diesen Fotos zu sehen sind, waren die Fingerabdrücke fast aller Personen, die auf der Deponie arbeiten, einschließlich der von Mr. Hagopian. Ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Die Fingerabdrücke von Miguel und José Ramos wurden jedoch auf keiner der Flaschen in den Kästen, die auf diesen Fotos zu sehen sind, gefunden. Ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Ihre Fingerabdrücke waren so auf den Flaschen platziert, wie es der Fall wäre, wenn man eine Flasche hält, um aus ihr zu trinken, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Das heißt also, sie waren nicht so platziert, wie es der Fall wäre, wenn man eine Flasche hielte, um sie mit einer Flüssigkeit zu füllen?«
»So weit würde ich nicht gehen wollen. Man könnte eine Flasche auch füllen, wenn man sie so hielte, wie es die Lage der Fingerabdrücke andeutet.«
»Aber dies wäre nicht die normale Art, eine Flasche zu halten, wenn man sie mit einer Flüssigkeit füllen wollte, ist das richtig?«
»Ich würde eine Flasche jedenfalls nicht so halten, wenn ich sie füllen wollte.«
»Euer Ehren, ich bitte darum, die Fotos von dem Getränkeautomaten und den Coca-Cola-Kisten als Beweismittel der Verteidigung aufzunehmen.«
»Sie werden als solche registriert werden.«
»Dann möchte ich jetzt auf das Seil zu sprechen kommen, mit dem Mr. Hagopian am Tor der Deponie aufgehängt wurde. Bei dem Knoten, mit dem die Schlinge um seinen Hals geknüpft war, handelt es sich nicht um einen Henkersknoten, ist das richtig?«
»Das ist richtig, Sir.«
»Haben Sie jemals gesehen, dass mit einer solchen Schlinge ein Mensch getötet wurde?«
»Nein, Sir. Abgesehen natürlich von diesem Fall.«
»Sagen Sie damit, dass dieses Seil verwendet wurde, um das Opfer zu töten?« Janak zeigte dem Zeugen ein Foto, auf dem zu sehen war, wie das Seil um den Hals des Toten angebracht war.
»Nein, Sir. Da muss ich mich korrigieren. Hierbei handelt es sich um das Seil, mit dem der Tote am Eingangstor der Deponie aufgehängt wurde. Ob er damit auch getötet wurde, kann ich nicht sagen.«
»Sie haben auf diesem Seil keine Fingerabdrücke gefunden, die von einem meiner Mandanten stammen, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Darf ich Ihnen ein anderes Foto zeigen, das die Protokollführerin zu den Unterlagen genommen hat?« Er reichte dem Zeugen ein Foto des Gipsfußabdrucks. »Dieser unvollständige Fußabdruck wurde am Rand der geharkten Fläche direkt unter dem Toten gefunden, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Er stammt von einem Schuh der Größe neun, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Keiner meiner Mandanten trägt Schuhe der Größe neun, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Dann wenden wir uns noch einmal den Cola-Flaschen zu. Wie haben Sie festgestellt, welche Chemikalien sie enthalten haben?«
»Wir haben im Labor eine Reihe aufwendiger Untersuchungen durchgeführt.«
»Mit anderen Worten: Ohne diese Untersuchungen hätten Sie nicht feststellen können, um welche Chemikalien es sich dabei handelte?«
»So ist es.«
»Wissen Sie, ob einer der Deponiearbeiter, darunter auch meine Mandanten, darin ausgebildet war, Chemikalien zu identifizieren?«
»Nein, Sir. Aber wahrscheinlich konnten einige sie nach einer Weile am Geruch erkennen.«
»Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Ja, Sir, eine Vermutung.«
»Ist Ihnen bekannt, ob einer meiner Mandanten Englisch lesen oder schreiben kann?«
»Nein, Sir.«
»Oder dass sie die Klageschrift zu ihrem Zivilprozess gelesen haben oder auch nur wissen, dass sie vor Gericht eingereicht wurde?«
»Nein, Sir.«
»Sie haben im Zug der Tatortuntersuchung zu Protokoll gegeben, dass der Boden unter der Leiche geharkt worden war und dass sich in unmittelbarer Nähe der geharkten Stelle ein Rechen befand. Ist das mit der Nummer drei versehene Foto ein Bild dieses Rechens?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie haben den Rechen genau so gefunden, wie er auf dem Foto abgebildet ist?«
»Ja, Sir.«
»Und auf dem Rechen befanden sich Fingerabdrücke?«
»Ja, Sir.«
»Wessen Fingerabdrucke?«
»Die von Mr. Narcio Padia.«
»Was war Mr. Padias Aufgabe auf der Mülldeponie?«
»Er war sozusagen der Hausmeister.«
»Anders ausgedrückt, seine Aufgabe bestand darin, auf der Deponie sauber zu machen, und dazu gehörte Harken, Fegen, Schaufeln. Ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie nachgeprüft, ob sich seine Fingerabdrücke auch auf den anderen Besen und Schaufeln der Deponie befanden?«
»Nein, Sir.«
»Da wäre noch ein weiteres Beweisstück, zu dem ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen würde, Mr. Macintosh. Sehen Sie das Foto des blauen Insekts auf Mr. Hagopians Hosenbein?«
»Ja, Sir.«
»Sind Sie der Frage nachgegangen, woher es stammt?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Mir wurde gesagt, ich solle mir die Mühe sparen.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Mr. Graves.«
»Demnach haben Sie nicht die leiseste Ahnung, woher dieses Insekt stammt, ist das richtig?«
»Ja, Sir, das ist richtig.«
»Können Sie mir sagen, ob Mr. Hagopian an der Stelle starb, an der seine Leiche gefunden wurde? Also am Eingangstor der Deponie?«
»Nein, Sir, das kann ich nicht. Das festzustellen übersteigt meine Kompetenzen.«
»Okay, aber Sie können mir bestätigen, dass die abgetrennten Geschlechtsteile des Ermordeten nicht auf dem Deponiegelände gefunden wurden?«
»Ja, Sir. Sie wurden nirgendwo auf der Deponie gefunden.«
»Aber Sie wissen, dass sie dem Opfer abgetrennt worden waren und fehlten?«
»Ja, Sir.«
»Noch eine Frage. An einem von Mr. Hagopians Schuhen befand sich etwas Erde, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Aber diese Erde stammte nicht von der Deponie?«
»Nein, sie war nicht von der Deponie.«
»Wissen Sie, woher sie kam?«
»Das festzustellen waren wir ohne eine Referenzprobe nicht in der Lage.«
»Was bedeutet das bitte genau?«
»Es bedeutet, wir hätten von einer Stelle wissen müssen, deren Boden wir hätten untersuchen können, um festzustellen, ob er mit der Erde an den Schuhen des Opfers identisch ist. Andernfalls hätte das Ganze keinen Sinn gehabt.«
»Ich habe vorerst keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen. Möglicherweise werde ich ihn allerdings noch einmal aufrufen müssen. Deshalb ersuche ich das Gericht, ihn noch nicht zu entlassen.«
»Nachdem die Verteidigung ihre Befragung des Zeugen beendet hat, hätte auch ich noch ein paar Fragen an den Zeugen, Euer Ehren«, meldete sich Deadeye zu Wort.
»Bitte, aber fassen Sie sich kurz.«
Mit einem selbstsicheren Lächeln schlenderte Deadeye auf den Zeugenstand zu und blieb direkt vor den Geschworenen stehen. »Mr. Macintosh, Sie haben doch sicher schon bei früheren Gelegenheiten Seile nach Fingerabdrücken abgesucht?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie in den zehn Jahren, die Sie Ihren Beruf bereits ausüben, jemals Fingerabdrücke auf einem Seil gefunden?«
»Hin und wieder, Sir.«
»Gibt es einen Grund, weshalb Sie nur hin und wieder welche gefunden haben?«
»Ja, Sir. Seile haben eine zu poröse Oberfläche, weshalb sich darauf nur in den seltensten Fällen Fingerabdrücke feststellen lassen, aber wir untersuchen sie trotzdem, weil manchmal jemand Fett oder Farbe an den Händen hat, und dann stehen unsere Chancen schon besser.«
»Jedenfalls haben Sie dieses Seil untersucht?« Er zeigte ihm ein Foto von der Schlinge um Hagopians Hals.
»Ja, Sir.«
»Dann wenden wir uns dem Insekt zu. Sie konnten das Insekt nicht identifizieren, ist das richtig?«
»Ja, Sir. Dafür wäre ein Entomologe nötig.«
»Ein Entomologe ist jemand, der sich mit Insekten befasst?«
»Ja, Sir. Aber ich bin keiner.«
»Danke, Mr. Macintosh.«
»Gut«, erklärte der Richter. »Mr. Macintosh, hinterlassen Sie beim Gerichtsdiener bitte eine Telefonnummer, unter der Sie zu erreichen sind, falls wir Sie noch einmal brauchen. Doch jetzt werden wir erst einmal in die Mittagspause gehen. Und wenn ich die Damen und Herren Geschworenen noch einmal daran erinnern dürfte, weder untereinander noch mit sonst jemandem über diesen Fall zu sprechen. Sind die Herren Anwälte damit einverstanden, wenn ich diese Ermahnung künftig nicht jedes Mal ausspreche, wenn die Geschworenen den Saal verlassen?«
»Einverstanden«, murmelten beide Anwälte.
»Wie ist die Zeugenbefragung deiner Meinung nach gelaufen, Samuel?«, fragte Janak auf dem Weg zum Mittagessen.
»Eindeutig zu deinen Gunsten. Deadeye ignoriert die Beweise einfach. Die Frage ist allerdings, ob die Geschworenen das auch so sehen.«
»Auf lange Sicht wirst du die Zeugen auf jeden Fall dazu bringen, die Wahrheit zu sagen«, schaltete sich Asquith ein, »und zwar egal welche krummen Touren Deadeye versucht. Und nur das zählt.«
»Was langfristig passiert, interessiert mich nicht die Bohne«, erwiderte Janak. »Ich will, dass meine Mandanten jetzt sofort freikommen und nicht erst in fünfundzwanzig Jahren. Und ich muss sagen, ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Jetzt warte doch erst mal ab«, versuchte Samuel den Anwalt zu beruhigen. »Mach einfach weiter wie bisher, Schritt für Schritt. Und ich werde dafür sorgen, dass in der Presse über den Fall berichtet wird.«
»Ich glaube, ihr liegt mit eurer Einschätzung der Lage beide falsch«, sagte Janak. »Der Ausgang dieses Prozesses hängt ausschließlich davon ab, ob Deadeye noch einmal ein Fehler unterläuft. Sollte das nicht der Fall sein, verlieren wir.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Asquith.
»Weil das 1962 in Contra Costa County so läuft«, antwortete Janak mit besorgter Miene.
Als das Gericht um vierzehn Uhr wieder zusammentrat, rief Deadeye Dr. Jerome Bancroft auf. Der Rechtsmediziner begab sich mit einem kleinen braunen Ordner und einem Umschlag mit dem Stempel ›Amtliches rechtsmedizinisches Bildmaterial‹ in den Zeugenstand. Der hagere, mittelgroße Brillenträger hatte nur noch einen schmalen grauen Haarkranz um seinen ansonsten kahlen Schädel und entsprach mit seiner schmallippig herablassenden Art genau den gängigen Vorstellungen von einem Arzt, der mehr mit Toten als mit Lebenden zu tun hatte.
Um Bancrofts fachliche Kompetenz unter Beweis zu stellen, schilderte Deadeye Graves kurz den Lebenslauf des Doktors, der nach Abschluss seines Medizinstudiums und seines praktischen Jahres zur Army gegangen war, bei der er in den vier Kriegsjahren als Arzt Dienst tat. Nach dem Krieg ließ er sich wie Millionen andere in Kalifornien nieder und eröffnete in Walnut Creek eine Praxis. Neben seiner Tätigkeit als Arzt hatte er begonnen, bei Bedarf für das Contra Costa County Obduktionen durchzuführen, und war unter anderem damit beauftragt worden, die Autopsie an Armand Hagopian vorzunehmen.
»Ich hätte einige recht spezifische Fragen an Sie, Dr. Bancroft«, begann Deadeye. »Aber wie ich sehe, haben Sie das Obduktionsprotokoll bei sich. Sie können es gern zu Rate ziehen, wenn Sie Ihr Erinnerungsvermögen auffrischen müssen. Sie haben die Autopsie vorgenommen, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Wann war das genau?«
»Am 7. Dezember 1961 um acht Uhr morgens im Leichenschauhaus des County.«
»Hatten Sie einen Assistenten?«
»Ja, Sir. Ein Mitarbeiter hat mir assistiert.«
»An wem haben Sie die Obduktion vorgenommen?«
»Den Angaben in den Unterlagen zufolge, die durch die Fingerabdrücke des Verstorbenen bestätigt wurden, war der Tote Armand Hagopian, ein einundfünfzigjähriger Weißer.«
»Konnten Sie die Todesursache feststellen?«
»Ja, Sir. Die Todesursache war Asphyxiation. Das heißt, dem Opfer wurde die Luftzufuhr abgeschnitten.«
»Wie sind Sie zu dieser Feststellung gelangt?«
»Dafür gab es verschiedene Indizien. Die Halsmuskulatur um den Larynx – das ist der Kehlkopf – war gequetscht, die Luftröhre hatte Risse, und die Blutgefäße im Weißen seiner Augen wiesen Anzeichen einer Blutung auf. Das sind die klassischen Symptome, wenn jemand auf diese Weise ums Leben kommt.«
»Sind Sie auf Hinweise gestoßen, dass sein Tod andere Ursachen gehabt haben könnte?«
»In seinem Mund befanden sich toxische Chemikalien, die in die oberen Luftwege eingedrungen waren, aber meiner Meinung nach wurden sie dem Opfer erst nach seinem Tod eingeflößt und haben diesen keinesfalls verursacht.«
»Wollen Sie damit sagen, jemand hat ihm die Chemikalien, die sich auch in den Cola-Flaschen befanden, in den Mund geschüttet?«
»Ja, alle vier dieser Chemikalien. Aber das Opfer war zu diesem Zeitpunkt bereits tot.«
»Sie haben als Todesursache Asphyxiation angegeben. Ist das dasselbe wie Erhängen?«
»In diesem Fall deutet alles darauf hin, dass dem Opfer durch Erhängen die Luftzufuhr abgeschnitten wurde. Als wir die Schlinge von seinem Hals entfernten, wies die Haut darunter Abschürfungen auf, wie man sie einzig und allein durch Erhängen bekommt. Außerdem hing er an diesem Seil vom Tor der Mülldeponie.«
»Das war aber noch nicht alles, was dem Opfer angetan wurde, richtig?«
»Ja, Sir. Das Opfer wurde entmannt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es noch lebte.«
»Woraus erschließen Sie das?«
»Sehen Sie die Fotos von den Blutflecken auf seinen Hosenbeinen? Der starke Blutverlust deutet daraufhin, dass das Herz des Opfers noch schlug, als ihm die Verletzungen beigebracht wurden.«
»Können Sie den ungefähren Todeszeitpunkt angeben, Herr Doktor?«
»Das ist mir leider nicht möglich. Dazu müsste ich wissen, wie weit der Rigor Mortis fortgeschritten war, als der Coroner das Opfer untersucht hat.«
»Sie wissen es also nicht. Ist das Ihre Aussage?«
»Ja, Sir.«
»Was ist der Rigor Mortis, Herr Doktor?«
»Damit bezeichnet man die Totenstarre, also den Prozess, bei dem nach dem Tod eines Menschen die Muskeln langsam zu erstarren beginnen. In der Regel setzt dieser Prozess drei bis vier Stunden nach dem Tod ein und ist zirka zwölf Stunden später abgeschlossen.«
»Danke, keine weiteren Fragen«, sagte Deadeye.
»Möchten Sie den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen, Mr. Marachak?«
»Ja, Euer Ehren, danke.« Und wieder kam Janak nach vorn an den Zeugenstand.
»Guten Tag, Herr Doktor. Sie haben den vollständigen Bericht des Coroner sowie den Ermittlungsbericht der Polizei vorliegen, des Weiteren den toxikologischen Befund, den Obduktionsbefund und sämtliche Fotos, die auf der Deponie gemacht wurden, ist das richtig?«
»Ich habe nicht alle diese Unterlagen hier im Zeugenstand bei mir, aber sie befinden sich in meiner Aktentasche.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie zu holen? Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, und möglicherweise müssen Sie sie zur Beantwortung zu Rate ziehen.«
Der Arzt sah hilfesuchend zu Deadeye hinüber, doch der Ankläger wollte unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, den Geschworenen würden Beweismittel vorenthalten, und wich seinem Blick aus. Darauf wandte sich Bancroft dem Richter zu, der ihm mit einem Nicken die Zustimmung erteilte, den Zeugenstand zu verlassen und seine Aktentasche zu holen.
Als der Pathologe wieder Platz genommen hatte, begann Janak: »Die Totenstarre setzt etwa drei bis vier Stunden nach dem Tod ein, sagten Sie.«
»Ja, Sir.«
»Und Sie sagen, Ihnen war nicht bekannt, in welchem Stadium der Erstarrung sich die Leiche befand, als sie vom Coroner untersucht wurde?«
»Richtig.«
»Würden Sie bitte Seite eins der Aufzeichnungen des Coroner aufschlagen? Sie sind Teil der Akte, die Sie vor sich liegen haben.«
Dr. Bancroft kam der Aufforderung nach. »Ja, hier ist sie. Was möchten Sie wissen?«
»Lesen Sie den Geschworenen vor, was dort steht.«
»In den Aufzeichnungen steht: ›Die Leiche befindet sich im Anfangsstadium der Totenstarre. Ich beugte die Extremitäten und die Finger der Hände, aber die Leiche wurde zusehends starrer.‹«
»Als der Coroner das schrieb, befand er sich am Leichenfundort, und der Tote wurde gerade vom Eingangstor der Deponie heruntergeholt, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Die Totenstarre setzt bekanntlich drei bis vier Stunden nach Eintritt des Todes ein. Der Coroner untersuchte den Toten – welchen Zeitpunkt hat er dafür in seinen Notizen angegeben?«
»Acht Uhr morgens.«
»Und es war ein kalter Dezembertag. Spielt das in diesem Zusammenhang eine Rolle?«
»Ja, Sir. Bei kalter Witterung verzögert sich der Erstarrungsprozess.«
»Im polizeilichen Ermittlungsbericht steht, dass der Tote gegen sechs Uhr von einem anonymen Lkw-Fahrer entdeckt wurde. Demnach muss das Opfer irgendwann zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens gestorben sein, ist das richtig?«
»Wenn die Aufzeichnungen des Coroner richtig sind, würde ich sagen, ja. Das dürfte in etwa hinkommen.«
»Liegen Ihnen Hinweise vor, dass sie eventuell nicht richtig sein könnten?«
»Nein, Sir.«
»Demnach dürfte diese Angabe nicht nur in etwa hinkommen. Vielmehr handelt es sich um eine absolut zuverlässige, wissenschaftlich untermauerte Einschätzung des Sachverhalts, ist das richtig?«
»Ja, Sir.« Die Lippen des Arztes schienen plötzlich auf seinen großen Zähnen festgeklebt und verliehen ihm das Aussehen einer Leiche, die der Ewigkeit entgegengrinst.
»Wenden wir uns nun der Todesursache zu. Sie sagten, es war Asphyxiation? Verursacht durch Erhängen?«
»Die Todesursache könnte Erhängen gewesen sein. Jedenfalls wurde etwas um den Hals des Opfers geschlungen und so fest zugezogen, dass es erstickte.«
»Vielleicht habe ich Ihre Aussage ja missverstanden«, sagte Janak angesichts der ausweichenden Antworten des Zeugen sarkastisch. »Aber haben Sie Mr. Graves nicht gesagt, dass Mr. Hagopian erhängt wurde?«
»Erhängt worden sein könnte.«
»Worden sein könnte ist aber doch etwas ganz anderes als wurde. Verstehe ich Sie da richtig?«
»Ja, Sir.«
»Aber Sie waren mit Mr. Graves der Meinung, dass er erhängt wurde, richtig?«
»Worden sein könnte.«
Janak reichte dem Mediziner das Foto. »Sehen Sie das Foto von Mr. Hagopian mit dem Seil um den Hals?«
»Ja, Sir. Ich kenne dieses Foto. Als ich mit der Obduktion begann, hatte er dieses Seil um den Hals. Ich schnitt es ab, und Mr. Graves fügte es den Beweisstücken hinzu.«
Janak ging zum Tisch der Protokollführerin, worauf diese ihm einen Umschlag mit dem Seil reichte. Er nahm das Seil heraus und hielt es vor Bancroft hoch. »Das ist das Seil, an dem das Opfer hing, als der Coroner es vom Tor der Deponie herunterholte. Aber jetzt sagen Sie uns plötzlich, dass Sie nicht mit Sicherheit sagen können, dass Mr. Hagopian mit diesem Seil getötet wurde.«
»Er könnte damit getötet worden sein, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen.«
»Sehen wir uns doch das Foto von Mr. Hagopians Hals an. Es sind ganz deutlich Abschürfungen daran zu sehen, die von einem Seil stammen. Sehen Sie die Hautabschürfungen?«
»Ja, Sir.«
»Diese Abschürfungen stammen jedoch nicht von dem Seil, mit dem Mr. Hagopian am Tor der Deponie aufgehängt wurde und das sich unter den Beweismitteln befindet, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Woher wissen Sie das?«
»Die Spuren auf der Haut des Opfers sind deutlich zu erkennen. Sie weisen ein vollkommen anderes Muster auf, als es das Seil hervorgerufen hätte, mit dem der Tote am Tor der Deponie aufgehängt war.«
»Demnach kann man also mit Fug und Recht behaupten, dass das Opfer bereits tot war, als es am Tor aufgehängt wurde.«
»Das weiß ich nicht.«
»Wäre Mr. Hagopian zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen, müssten sich doch an seinem Hals Abschürfungen befinden, die von dem Seil stammen, das Sie gerade in der Hand halten, ist das richtig?«
»Ja, Sir. Wahrscheinlich.«
»Außerdem wissen Sie wegen der Menge des Bluts an seinen Hosenbeinen, dass er noch am Leben war, als er entmannt wurde.«
»Ja, Sir.«
»Sie haben sich alle Beweisstücke in diesem Fall angesehen, Dr. Bancroft, ist das richtig?«
»Ja, Sir. Alle, die mit seinem Tod zu tun hatten.«
»Sein Geschlechtsteil oder auch Fotos davon haben Sie jedoch nie gesehen, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Darf ich Ihnen ein paar Fotografien von dem geharkten Bereich unter der Leiche zeigen? In diesem Bereich ist kein Blut zu sehen, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Und es hat Ihnen auch nie jemand gesagt, dass in diesem Bereich Blutspuren entdeckt wurden, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Das heißt also, dass das Opfer bereits tot war, als es am Tor der Deponie aufgehängt wurde, denn andernfalls wäre infolge der Amputation seines Geschlechtsteils Blut auf den geharkten Bereich getropft.«
»So könnte man argumentieren.«
»Ich hätte zu diesem Punkt gern eine eindeutige Aussage von Ihnen, und zwar basierend auf den vorliegenden Beweismitteln.«
Mit hochrotem Kopf sprang Deadeye von seinem Platz auf. Von seiner Cowboy-Lässigkeit war plötzlich nicht mehr das Geringste zu spüren. »Einspruch. Der Verteidiger debattiert mit dem Zeugen.«
»Einspruch abgelehnt. Der Zeuge kann antworten.«
»Das Blut könnte weggeharkt worden sein.«
»Ich wiederhole meine Frage. Ist in irgendeinem Bericht vermerkt, dass in dem geharkten Bereich unter dem Toten Blutspuren gefunden wurden?«
»Nein, Sir.«
»Sie waren einige Zeit mit Mr. Graves zusammen, bevor Sie heute in den Zeugenstand getreten sind, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Wie lange waren Sie genau mit ihm zusammen?«
»Drei Stunden.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Über die Obduktion und das, was wir dabei herausgefunden haben.«
»Und das war alles?«
»Ja, Sir.«
»Sie sagen also, Sie waren drei Stunden mit ihm zusammen und haben sich nicht mit dem Beweismaterial beschäftigt, über das Sie und ich gerade sprechen, und auch nicht mit dem Teil des Berichts des Coroner, auf den ich Sie vorhin aufmerksam gemacht habe, ist das richtig?« Janak wandte sich mit einem ironischen Grinsen den Geschworenen zu, als Bancroft antwortete.
»Ja, Sir.«
»Vielen Dank, Dr. Bancroft, es steht Ihnen frei, zu gehen. Sie können aus dem Zeugenstand schleichen.« Und an den Richter gewandt, fügte Janak hinzu: »Ich brauche diesen Zeugen nicht mehr, Euer Ehren.«
Auch diesmal war Deadeye prompt auf den Beinen. »Ich erhebe Einspruch gegen die Art, wie der Verteidiger meinen Zeugen behandelt, Euer Ehren.«
»Ich ziehe den Kommentar zurück, Euer Ehren«, sagte Janak und sah mit hochgezogenen Augenbrauen die Geschworenen an.
»Möchten Sie den Zeugen noch einmal vernehmen, Counselor?«, fragte der Richter den Ankläger.
»Nein, Euer Ehren.«
»Sie sind entlassen, Dr. Bancroft. Vielen Dank für Ihre Aussage. Meine Damen und Herren Geschworenen, es steht Ihnen frei, zu gehen. Wir sehen uns morgen um zehn Uhr. Und denken Sie an meine Ermahnung.«
Am nächsten Morgen schritt Deadeye aufgebracht in seinem Büro auf und ab. Er hielt die Morgenzeitung von San Francisco in seiner Hand und schlug damit immer wieder gegen die Armlehne des Ledersessels, in dem sein junger Assistent saß. »Dieser Dreckskerl Hamilton will uns fertigmachen!«, brüllte er außer sich vor Wut. »Haben Sie gelesen, was er über Bancrofts Aussage geschrieben hat?«
»Ich … ich«, stotterte der junge Mann.
»Halten Sie gefälligst die Klappe und hören Sie sich das mal an: ›Der Zeuge war offenkundig präpariert und hat die Wahrheit verzerrt dargestellt.‹ Glauben Sie etwa, die Geschworenen werden nicht lesen, was dieser windige Reporter schreibt?« Diesmal drosch er mit der Zeitung auf den Schreibtisch. »Der Kerl erfährt nichts mehr von uns. Ab sofort totale Informationssperre. Haben Sie verstanden? Und jetzt raus hier! Ich muss meinen heutigen Zeugen präparieren. Schicken Sie ihn herein und hängen Sie das Nicht-stören-Schild an die Tür.«
»Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Mr. Graves«, verkündete der Richter, als die Verhandlung begann.
»Das Volk ruft Mr. Nashwan Asad Aram in den Zeugenstand.«
Der Gerichtsdiener führte einen jugendlich aussehenden Mann in einem teuren italienischen Anzug und einem malvenfarbenen Seidenhemd in den Saal. Nachdem ihn die Protokollführerin vereidigt hatte, nahm der Mann im Zeugenstand Platz. Er sprach Englisch mit einem kaum hörbaren Akzent.
Deadeye stand von seinem Platz neben der Geschworenenbank auf und schlenderte mit gewohnter Lässigkeit auf Janaks Pult zu.
Nach den üblichen Präliminarien schob Deadeye die linke Hand in die Hosentasche und begann mit der Befragung des Zeugen. »Wo wohnen Sie gegenwärtig?«
»Ich lebe in Paris, wo ich am 19. November 1932 geboren wurde.«
»Wie lange leben Sie schon in Paris?«
»Fast mein ganzes Leben lang – mit Ausnahme der Zeit, als ich in Amerika studiert und danach für Mr. Hagopian gearbeitet habe.«
Seine braunen Augen, das dichte schwarze Haar und der leichte Bartschatten auf seiner durch Puder etwas aufgehellten braunen Haut verfehlten ihre Wirkung auf die Geschworenen nicht. Er war ein attraktiver Mann.
»Lassen Sie uns über das Jahr 1961 sprechen. Sie haben damals auf Mr. Armand Hagopians Mülldeponie in Point Molate gearbeitet?«
»Ja, Sir. Als stellvertretender Geschäftsführer.«
»Wie lange haben Sie dort gearbeitet?«
»Ein Jahr.«
»Sehen Sie Mr. Ramos und Mr. Padia, die dort drüben auf der Anklagebank sitzen?«
»Ja, Sir. Ich habe fast sechs Monate mit ihnen zusammengearbeitet – bis zu ihrer Entlassung.«
»Warum wurden sie entlassen?«
»Mr. Padia reichte eine Zivilklage gegen Mr. Hagopian ein, und Mr. Ramos' Neffen, Miguel und José Ramos, verklagten ihn ebenfalls. Sie wurden ebenso wie Juan Ramos entlassen.«
»Hatten Sie in den sechs Monaten, in denen Sie mit diesen Männern zusammengearbeitet haben, Gelegenheit, sie näher kennenzulernen?«
»Ja, Sir. Ich lernte den Job von der Pike auf, weshalb ich jeden Tag mit ihnen zusammenarbeitete. Ich verrichtete die gleichen Tätigkeiten wie sie.«
»Gab es Situationen, in denen sie irgendwelche Drohungen gegen Mr. Hagopian ausgesprochen haben?«
Janak sprang auf. »Einspruch. Zu vage, irrelevant und nicht sachdienlich.«
»Stattgegeben. Mr. Graves, formulieren Sie Ihre Frage neu.«
»Sie haben in den sechs Monaten, in denen Sie mit den Angeklagten zusammengearbeitet haben, zahlreiche Gespräche mit ihnen geführt, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»In welcher Sprache taten Sie das?«
»Beide sprachen genügend Englisch, sodass wir uns miteinander verständigen konnten.«
»Sprechen Sie Spanisch?«
»Nur sehr rudimentär. Aber genügend, um etwas zu essen zu bestellen oder guten Tag zu sagen. Sie haben mir regelmäßig ein paar Wörter beigebracht. Aber unterhalten haben wir uns hauptsächlich auf Englisch.«
»Können Sie uns sagen, wie sich die Angeklagten über Mr. Hagopian geäußert haben?«
»Mr. Padia war sehr aufgebracht, weil sein Kind mit Behinderungen auf die Welt gekommen und er selbst unfruchtbar geworden war. Er war wütend, weil er keine Söhne mehr bekommen konnte. Er sagte, es sei alles Mr. Hagopians Schuld und dafür müsse er bezahlen.«
»Hat er damit zum Ausdruck bringen wollen, dass ihn Mr. Hagopian finanziell entschädigen müsse?«
»Nein, Sir. Er meinte es im übertragenen Sinn. Er sagte, da, wo er herkomme, ließen sich bestimmte Dinge nicht mit Geld regeln. In diesem Fall handle es sich um eine Frage der Ehre, und Mr. Hagopian habe ihn und seine Familie entehrt. Deshalb müsse er den höchsten denkbaren Preis bezahlen.«
»Hat er gesagt, was er mit diesem höchsten Preis meinte?«
»Er sagte, er müsste mit seinem Leben bezahlen.«
»Haben Sie Mr. Hagopian darüber in Kenntnis gesetzt, was Mr. Padia gesagt hat?«
»Ja, Sir.«
»Hat sich Mr. Ramos in irgendeiner Weise abfällig über Mr. Hagopian geäußert?«
»Er war außer sich, weil die Kinder seiner Neffen mit Geburtsschäden auf die Welt gekommen und die Neffen selbst seinen Aussagen zufolge unfruchtbar geworden waren. Er sagte, die ganze Familie würde in dieser Sache zusammenstehen und Mr. Hagopian müsse für das, was er ihnen angetan habe, bezahlen.«
»Meinte er damit, dass er auf gerichtlichem Weg eine finanzielle Entschädigung von ihm einklagen wollte?«
»Nein, Sir. Einmal nahm er ein Seil und knüpfte damit eine Schlinge, und er sagte, damit würde Mr. Hagopian eines Tages aufgehängt werden, um für alles, was er ihnen angetan hatte, zu bezahlen.«
»Haben Sie Mr. Hagopian von diesen Äußerungen erzählt?«
»Ja, Sir.«
»Wie hat er sich dazu geäußert?«
»Er nahm das alles nicht weiter ernst und glaubte, sie müssten nur etwas Dampf ablassen. Aber er wollte sie trotzdem im Auge behalten.«
Deadeye kramte in den Beweisstücken, bis er fand, was er suchte. »Sehen Sie den Knoten am Ende dieser Schlinge?«
»Ja, Sir. Genau so einen Knoten hat Mr. Ramos gemacht, als er davon sprach, Mr. Hagopian aufzuhängen.«
»Warum sind Sie da so sicher?«
»Weil das eine Art Ritual für ihn geworden war. Er knüpfte jeden Tag eine solche Schlinge und sagte, das wäre es, was Hagopian blühte.«
»Danke, Mr. Aram, keine weiteren Fragen«, sagte Deadeye und nahm lächelnd Platz.
Janak stand langsam auf und ging zum Zeugenstand, wo er den Zeugen zunächst nur lange eindringlich ansah. Er ließ sich so viel Zeit, dass angesichts der Stille im Saal sogar der Richter erwartungsvoll über den Rand seiner Brille blickte.
Samuel fiel auf, dass Nashwan Asad Aram blitzblank geputzte schwarze Gucci-Slipper mit grün-roten Einsätzen trug. Er konnte sich an das Geschäft in Paris erinnern, in dem solche Schuhe verkauft wurden, und wie viel sie gekostet hatten. In ihm stieg eine heftige Abneigung gegen den Mann auf, und er hoffte, den Geschworenen würde es ähnlich gehen.
»Sind Sie Armenier, Mr. Asad?«
»Nein, Sir. Ich bin Kurde.«
»Warum wurden Sie in Paris geboren?«
»Meine Eltern waren Flüchtlinge. Sie flohen vor den Türken. Die Kurden wurden im Ersten Weltkrieg genauso verfolgt wie die Armenier und mussten aus ihrer Heimat fliehen. Meine Eltern ließen sich schließlich in Paris nieder.«
»Warum sind Sie in die Vereinigten Staaten gekommen?«
»Um zu studieren.«
»Aha. Und was?«
»Ich habe ein abgeschlossenes Chemiestudium.«
»Wo haben Sie studiert?«
»An der University of Pittsburgh.«
»Warum sind Sie nach Kalifornien gekommen?«
»Ich wollte nach dem Studium praktische Erfahrungen sammeln. Ich erfuhr, dass die Firma Hagopian Enterprises auf die Beseitigung von Chemieabfällen spezialisiert war, und habe mich deshalb dort um eine Stelle beworben.«
»Wer war in Kalifornien Ihre Kontaktperson?«
»Mr. Hagopian selbst. Er hat mir sehr geholfen. Wie gesagt, unsere Familien hatten auf ähnliche Weise unter den Türken zu leiden.«
»Was haben Sie für eine Schuhgröße, Mr. Aram?«
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt, welche Schuhgröße Sie haben.«
Der Zeuge machte ein verdutztes Gesicht. »Dreiundvierzig, glaube ich.«
»Was entspricht dem im amerikanischen Maßsystem?«
»Das weiß ich nicht«, sagte der Zeuge pikiert.
»Euer Ehren, darf ich den Zeugen bitten, seinen rechten Schuh auszuziehen?«
Deadeye war bereits an der Richterbank und stand neben Janak. »Einspruch. Der Zeuge steht nicht unter Anklage.«
»Würden Sie bitte zu mir kommen?« Der Richter winkte die Anwälte zu sich. Sobald sie vor ihm standen, sagte Janak: »Nachdem er uns seine Schuhgröße nicht nennen kann, Euer Ehren, bleibt mir keine andere Wahl, als seinen Schuh mit dem Fußabdruck von der Deponie zu vergleichen. Dass er dort gearbeitet hat, hat er bereits zugegeben.«
»Mr. Marachak versucht hier doch nur mit allen Mitteln, die Schuld auf andere abzuwälzen«, stieß Deadeye verärgert hervor.
»Einspruch abgelehnt«, erklärte der Richter.
Janak nahm den Gipsabguss des Fußabdrucks von dem Tisch mit den Beweisstücken. Dann forderte der Richter den Zeugen auf, seinen rechten Schuh auszuziehen. Janak nahm ihn an sich und stellte ihn in den Gipsmodel. Der Schuh passte exakt hinein. Janak achtete darauf, dass es alle Geschworenen sehen konnten.
»Wo waren Sie in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember des vergangenen Jahres, Mr. Aram?«
»Ich war in meiner Wohnung in Oakland.«
»Nicht auf der Deponie in Point Molate?«
»Nein, Sir.«
»Kann das jemand bestätigen?«
»Einspruch!«, schrie Deadeye, heftig mit den Armen fuchtelnd. »Der Zeuge steht nicht unter Anklage.«
»Abgelehnt«, verfügte der Richter.
»Ich war allein«, antwortete Aram. »Ich bin alleinstehend.«
Janak zeigte dem Zeugen ein Foto der Coca-Cola-Kisten. »Sie wissen doch, wo dieses Foto aufgenommen wurde?«
»Ja, Sir.«
»Sie haben mit den anderen Arbeitern Cola getrunken?«
»Ja, Sir.«
»Und wenn Sie eine Flasche ausgetrunken hatten, haben Sie sie in die Kiste neben dem Getränkeautomaten gestellt?«
»Ja, Sir.«
»Und das machten Sie jeden Tag so?«
»Vielleicht nicht jeden Tag, aber mehrere Male die Woche.«
»Sie haben zusammen mit José und Miguel Ramos Cola getrunken?«
»Ja, Sir. Wir haben alle die Flaschen in die Kisten zurückgestellt, wenn wir sie ausgetrunken hatten.«
»Haben Sie aufgepasst, wohin die Angeklagten ihre Flaschen gestellt haben, und haben Sie die Cola-Flaschen mit ihren Fingerabdrücken hinterher wieder aus der Kiste genommen?«
Der Zeuge rutschte nervös auf seinem Sitz herum. »Nein, warum sollte ich so etwas tun?«
»Nach der Entlassung der Angeklagten haben Sie nie mehr eine Cola getrunken, ist das richtig?«
»Ich sagte Ihnen doch bereits, dass wir mehrere Male die Woche gemeinsam eine Cola getrunken haben.«
Janak zog einen Beleg aus seinen Papieren und ließ ihn als Beweisstück eintragen. Dann zeigte er ihn Deadeye und dem Zeugen. »Welches Datum steht auf diesem Beleg, Mr. Aram?«
»Der 12. Juli 1961.«
»Ist Ihnen bewusst, dass an jenem Tag zum letzten Mal in diesem Jahr Cola-Flaschen von der Deponie abgeholt wurden, wohingegen dies in den vorangegangenen sechs Monaten jeden Monat der Fall war?«
»Das entzieht sich leider meiner Kenntnis.«
»Die Angeklagten wurden Anfang Juli entlassen, und das war auch der Zeitpunkt, an dem Sie alle Cola-Flaschen mit Ihren Fingerabdrücken darauf entfernt und den Zeitplan für Lieferung und Abholung geändert haben, ist das richtig?«
»Nein, Sir, das habe ich nicht veranlasst.« Der Zeuge begann wieder auf seinem Sitz herumzurutschen.
»Aber das sind doch Ihre Initialen, N.A. und es ist auch Ihre Handschrift, mit der hier vermerkt ist: ›Abholung einstellen‹.«
»Einspruch!«, brüllte Deadeye. »Die Verteidigung stellt hier nur Vermutungen an.«
»Abgelehnt«, erklärte der Richter streng. »Das ist ein Kreuzverhör, Mr. Graves.«
»Ich weiß nicht, wessen Handschrift das ist«, antwortete Aram.
»Waren Sie es, der Juan Ramos dazu brachte, den Knoten zu knüpfen?«
»Nein, Sir, es war andersherum. Er hat gesagt, er würde Hagopian damit aufhängen.«
»Sie haben geholfen, Hagopian am Tor aufzuhängen.«
»Nein, Sir.«
»Euer Ehren«, meldete sich Deadeye zu Wort.
»Möchten Sie Einspruch erheben, Mr. Graves?«
»Zurückgezogen.«
»Das ist doch Ihr Fußabdruck in dem Gipsabguss?«, fragte Janak.
»Nein, Sir.«
»Wir wissen, dass es zu Mr. Padias Aufgaben auf der Deponie gehörte, zu harken. Haben Sie den Rechen an sich genommen, als Sie sahen, dass er ihn benutzt hatte?«
»Nein, Sir.«
»Befassen wir uns mit Ihrer Berufsausbildung. Sie sind Chemietechniker und also in Chemie bestens bewandert.«
»Ja, Sir.«
»Sie waren einer der wenigen in Hagopians Belegschaft, die über die Wirkung der Chemikalien Bescheid wussten, derentwegen die Angeklagten Mr. Hagopian verklagt haben, ist das richtig?«
»Ja, Sir. Ich wusste, auf welche Chemikalien sie die Schädigungen zurückführten, weil ich Mr. Hagopian bei der Auswertung der im Prozess gegen ihn erhobenen Vorwürfe half.«
»Es war nicht nur das. Sie wussten, um welche Chemikalien es sich handelte, und Sie wussten auch, wo man sie bekommen konnte und wie man damit umging, ist das richtig?«
»Ich wusste, um welche Chemikalien es sich handelte.«
»Und wo man sie bekommen konnte.«
»Ja, Sir.«
»Stimmt es, dass Sie es waren, der diese Chemikalien in die Cola-Flaschen gefüllt und diese dann in Mr. Hagopians Taschen gesteckt hat?«, fragte Janak streng.
»Einspruch, Euer Ehren«, protestierte Deadeye.
Doch bevor er mehr sagen konnte, fiel ihm der Richter ins Wort. »Abgelehnt. Der Zeuge kann antworten.«
»Sagen Sie es uns! Sie waren es, der die Flaschen in die Taschen des Toten gesteckt hat«, behauptete Janak mit solcher Leidenschaft, dass sich die Narbe an seiner Wange violett verfärbte.
»Nein, Sir.« Inzwischen war Aram ins Schwitzen geraten. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben, Euer Ehren?«
»Bevor Sie Ihr Wasser kriegen, noch eine Frage, Mr. Aram. Sie waren dabei, als Mr. Hagopian irgendwo im Central Valley getötet wurde, ist das richtig?«
»Natürlich nicht!«, zischte der Zeuge, der zusehends nervöser wurde.
»Keine weiteren Fragen«, sagte Janak erschöpft.
Deadeye brachte Aram einen Becher Wasser und sagte: »Ich hätte noch ein paar Fragen an den Zeugen, Euer Ehren.«
»Ihr Zeuge, Counselor«, erklärte der Richter.
»Wann haben Sie die Mülldeponie verlassen, Mr. Aram?«, fragte Deadeye.
»Ich kam am frühen Morgen zur Arbeit, aber als ich die vielen Menschen sah und mitbekam, dass jemand den Boss umgebracht hat, bekam ich Panik und fuhr wieder nach Hause.«
»Danke, Mr. Aram.«
Janak hieb sofort in die Kerbe. »Sie haben sich an besagtem Morgen nicht der Polizei zu erkennen gegeben, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Und der Grund dafür war, dass Sie nicht vernommen werden wollten, oder lag es vielleicht daran, dass Ihre Kleider voll Blut waren?«
»Nein, das stimmt nicht.«
»Natürlich nicht. Sie wären nie so dumm gewesen, mit Blut an Ihren Kleidern oder Schmutz an den Schuhen am Tatort zu erscheinen.«
Deadeye war wieder aufgesprungen, um Einspruch zu erheben, doch der Zeuge wandte sich bereits an den Richter. »Euer Ehren, muss ich mir derartige Unterstellungen seitens des Verteidigers wirklich bieten lassen?«
Der Richter nahm seine Brille ab und sah den Zeugen an. »Das ist eine Gerichtsverhandlung, Mr. Aram, und Ihre Aufgabe ist es, die Fragen zu beantworten, die man Ihnen stellt. Die Entscheidung, wann und ob die Anwälte zu weit gehen, treffe ich.« Dann setzte er die Brille wieder auf und wandte sich dem Verteidiger zu.
»Noch weitere Fragen, Mr. Marachak?«
»Ja, Euer Ehren. Noch eine.«
»Mit welcher Fluggesellschaft sind Sie geflogen, Mr. Aram?«
»Mit Air France.«
»Wann haben Sie den Flug gebucht?«
»Das war an dem Morgen, als ich erfuhr, dass Mr. Hagopian tot war.«
»Ich habe vorerst keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen«, sagte Janak, »aber vielleicht brauche ich ihn später noch einmal. Könnten wir seine Adresse und Telefonnummer haben?«
»Mein Rückflug geht schon morgen, Euer Ehren«, sagte Aram nervös.
»Den werden Sie leider stornieren müssen, bis wir Sie endgültig entlassen.«
Darauf wandte sich der Richter den Geschworenen zu. »Wir machen jetzt eine Pause, meine Damen und Herren. Wenn Sie bitte in zwanzig Minuten in den Saal zurückkommen würden.«
Eine Gelassenheit vortäuschend, die er keineswegs empfand, verließ Deadeye den Saal. Er selbst benötigte den Zeugen Aram nicht mehr, aber er fürchtete, Marachak könnte ihn noch einmal in den Zeugenstand rufen. Wie viel Schaden hatte die Befragung angerichtet? Sein Gegenspieler hatte zwar keine seiner Unterstellungen beweisen können, aber er hatte doch einige Zweifel aufkommen lassen. Andererseits hatte Aram mit dem ersten Teil seiner Aussage die Angeklagten schwer belastet. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung vor Gericht wusste Deadeye nur zu gut, dass ein junger, attraktiver, gebildeter und gutgekleideter Mann wie Aram bei den Geschworenen auf jeden Fall gut ankäme und dass Marachaks unbegründete Anschuldigungen deshalb bei ihnen auf keinen fruchtbaren Boden fallen würden. Vollkommen sicher konnte er sich dessen allerdings nicht sein.
Als das Gericht nach der Pause wieder zusammentrat, rief Earl Graves keine weiteren Zeugen mehr auf. Das überraschte Janak, weil weder die Witwe oder die Schwester des Ermordeten noch sonst irgendwelche Angehörigen vor Gericht ausgesagt hatten, obwohl sie alle in der Liste der Zeugen aufgeführt waren, die Deadeye hatte aufrufen wollen. Weil Janak deshalb für den Rest der Vormittagssitzung keine Zeugen einbestellt hatte, musste er das Gericht um einen Aufschub ersuchen, bevor er mit der Verteidigung seiner Mandanten fortfahren konnte.
Als das Gericht am Nachmittag wieder zusammentrat, rief Janak den Entomologen Dr. Jonathan Higginbotham in den Zeugenstand. Der Mann war ähnlich gekleidet wie an dem Tag, als Janak ihn in seinem Büro in Berkeley aufgesucht hatte. Nur sah sein Tweedsakko mit den Lederflicken an den Ellbogen noch etwas abgetragener aus.
Janak bombardierte den Gelehrten mit Fragen über seinen beruflichen Werdegang und ließ ihn die zahlreichen Bücher aufzählen, die er in seiner vierzigjährigen akademischen Laufbahn über Insekten verfasst hatte. Erst dann begann er mit seiner Befragung.
»Welche Stellung bekleiden Sie gegenwärtig, Professor Higginbotham?«
»Ich bin an der University of California in Berkeley Professor für Entomologie. Ich habe an dieser Universität vor fast vierzig Jahren als wissenschaftlicher Assistent begonnen, stieg dann zum Dozenten auf und habe inzwischen schon fünfzehn Jahre einen Lehrstuhl inne.«
»Würden Sie den Geschworenen bitte kurz erklären, was ein Entomologe macht?«
»Ein Entomologe ist im Grunde genommen nichts anderes als ein Insektenforscher«, erwiderte der Professor trocken, was die Geschworenen, denen sein unprätentiöses Auftreten gefiel, zum Lachen brachte.
»Anders ausgedrückt, Herr Professor, Sie werden dafür bezahlt, ein Insekt von einem anderen zu unterscheiden, trifft das den Sachverhalt in etwa?«
»Das ist eine unserer Aufgaben. Aber zunächst versuchen wir herauszufinden, woher ein bestimmtes Insekt kommt. Das ermöglicht uns, festzustellen, ob es eine Krankheit übertragen kann oder ob es irgendeine andere schädliche Eigenschaft hat.«
»Herr Professor, ich habe Ihnen die Überreste des blauen Insekts gezeigt, das am Hosenbein des Ermordeten klebte, und ich habe Ihnen mehrere Fotos davon gezeigt, ist das richtig?«
»Ja, Sir, das haben Sie.«
»War es Ihnen möglich, dieses Insekt zu identifizieren, Herr Professor?«
»Ja, Sir.« Der Zeuge setzte an, dies näher auszuführen, doch Deadeye sprang auf und rief:
»Einspruch, dafür besteht kein Anlass!«
»Euer Ehren, wir haben die wissenschaftliche Qualifikation dieses Herrn doch wohl zur Genüge unter Beweis gestellt«, entgegnete Janak.
»Abgelehnt. Sie können antworten«, entschied der Richter.
»Das Insekt auf diesem Foto ist ein Chitosi-Käfer. Sein Herkunftsland ist Japan.«
»Heißt das, er ist nicht in Nordkalifornien heimisch?«
»Genau so ist es, Sir. Er ist wahrscheinlich auf einem der Segelschiffe aus Fernost, die im letzten Jahrhundert in Stockton und Sacramento anlegten, hierher gelangt.«
»Weil Sie gerade Stockton und Sacramento erwähnen – gibt es Hinweise darauf, dass diese Chitosi-Käfer auch in Richmond an Land gelangt sind?«
»Selbst wenn eines dieser Tiere in Richmond an Land gekommen wäre, wäre es bestimmt nicht dort geblieben, weil das Klima dort für diese Spezies zu gemäßigt ist.«
Deadeye wurde zusehends nervöser. Für seinen Geschmack gefiel dieser Zeuge den Geschworenen viel zu gut.
»Könnte dieser Käfer denn in Point Molate überlebt haben, auch wenn das Klima in Richmond ihm nicht behagte?«
»Einspruch!« Deadeye war wieder aufgesprungen. »Diese Frage ist unbegründet.«
»Ich werde die Frage gleich begründen, Euer Ehren«, erklärte Janak.
»Nur zu«, verfügte der Richter.
»Herr Professor, Sie sind auf meine Veranlassung nach Point Molate gefahren, ist das richtig?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie irgendwelche Spuren von Insektenleben auf der Mülldeponie Mr. Hagopians oder in deren Umgebung gefunden?«
»Einspruch«, protestierte Deadeye erneut. »Die Frage ist unbegründet.«
»Abgelehnt«, entschied der Richter. »Sie können jetzt antworten.«
»Nein, Sir. Absolut keine.«
»Der Käfer hätte dort also nicht überleben können, richtig?«
»Ja, Sir, das ist richtig.«
»Euer Ehren, ich beantrage, die Aussage des Zeugen, dass der Käfer dort nicht überlebensfähig ist, zu streichen«, sagte Deadeye. »Er ist kein Toxikologe.«
»Der Herr Staatsanwalt kann dem Zeugen gern beim Kreuzverhör Fragen stellen, Euer Ehren«, konterte Janak. »Im Augenblick ist er mein Zeuge.«
»Antrag abgelehnt, Mr. Graves«, erklärte der Richter. »Sie können dem im Kreuzverhör nachgehen.«
»Wo im nördlichen Kalifornien hat sich der Chitosi-Käfer niedergelassen?«
»Bis zu dem Zeitpunkt, als Sie mich gebeten haben, über seine Verbreitung Nachforschungen anzustellen, war er in der Bay Area in den letzten Jahren nur in Stockton anzutreffen. Aufgrund Ihrer Nachfrage vor einigen Wochen bin ich diesem Punkt noch einmal genauer nachgegangen und dabei zu der Überzeugung gelangt, dass das nach wie vor die einzige Region zu sein scheint, in der dieser Käfer überlebensfähig wäre.«
»Warum nur dort und nirgendwo sonst, Herr Professor?«
»Insekten suchen sich Gebiete aus, in denen sie sich wohlfühlen und in denen ähnliche klimatische Bedingungen herrschen wie in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet, und das ganz besonders dann, wenn sie wie diese Spezies versehentlich von einem Ort an einen anderen verschlagen werden.«
»Haben Sie eine Meinung dazu, Herr Professor, in welcher geographischen Region das fragliche Insekt an Mr. Hagopians Hosenbein gelangt sein könnte?«
»Einspruch, Frage unbegründet. Außerdem gibt diese Frage nur Anlass zu Spekulationen, Euer Ehren.« Diesmal machte sich Deadeye nicht einmal mehr die Mühe, aufzustehen.
»Abgelehnt«, entschied der Richter. »Kommen Sie beim Kreuzverhör darauf zu sprechen.«
»Zunächst einmal halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass der Käfer in Point Molate an das Hosenbein des Toten gelangt ist, weil das Insekt dort gar nicht vorkommt.«
»Ich bin sicher, Sie haben zu diesem Thema noch mehr zu sagen, Herr Professor, Fahren Sie bitte fort.«
»Folglich gelangte der Käfer entweder in Stockton, wo er häufig anzutreffen ist, an Mr. Hagopians Hosenbein, oder seine Leiche wurde in etwas eingeschlagen, das von dort kam.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein, Herr Professor?«
»Wenn Sie sich den Käfer genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass sich kein Blut des Opfers an ihm befindet, obwohl doch das Hosenbein des Opfers mit Blut vollgesogen war. Außerdem ist der Käfer zerquetscht. Man kann Reste von ihm an Mr. Hagopians Hosenbein sehen. Das heißt, er gelangte erst auf das Hosenbein, als Mr. Hagopian bereits tot und das Blut getrocknet war. Aller Wahrscheinlichkeit nach verfing er sich dort, als die Leiche zum Transport in etwas eingewickelt wurde.«
»Danke, Herr Professor«, sagte Janak und nahm lächelnd wieder Platz.
Deadeye merkte, dass er vorsichtig sein musste, denn die Geschworenen fanden den schrulligen Wissenschaftler nur zu offensichtlich sympathisch. Er musste ihm ein paar belanglose Fragen stellen, um bei den Geschworenen den Eindruck zu erwecken, der Professor sei einer Meinung mit ihm. Er ging mit einem Packen Notizen zum Zeugenstand. »Herr Professor, Sie haben in Entomologie promoviert, richtig?«
»Richtig.«
»Und Sie haben nie Toxikologie studiert, richtig?«
»Richtig.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo der Käfer auf Mr. Hagopians Hosenbein gelangt ist, richtig?«
»Richtig. Außer dass es nicht in Point Molate gewesen sein kann.«
»Danke. Keine weiteren Fragen.«
Der Zeuge packte seine Unterlagen zusammen und steckte sie in seine Aktentasche, dann gab er die Fotos zurück, die er im Zeugenstand begutachtet hatte, und verließ den Saal.
Darauf rief Janak einen Rechtsmediziner in den Zeugenstand, der den Geschworenen erklärte, dass die Hautabschürfungen an Hagopians Hals nicht von dem Seil mit dem mexikanischen Knoten stammen konnten, sondern von einem anderen, dickeren Seil herrühren mussten, mit dem Hagopian erhängt worden war, bevor er mit ersterem Seil am Tor der Deponie aufgehängt wurde. Des Weiteren führte er an, dass aus der großen Menge Blut an den Hosenbeinen des Opfers hervorging, dass es noch gelebt hatte, als es entmannt wurde. Im Anschluss daran legte er den Geschworenen Fotos vor, anhand deren er demonstrierte, dass dies nicht am Fundort habe geschehen können, weil auf dem Boden keinerlei Blutspuren gefunden worden waren.
Als Nächstes rief Janak den armenischen Geistlichen in den Zeugenstand. Der Priester verweigerte unter Berufung auf das Beichtgeheimnis die Aussage. Deadeye erhob keine Einwände, aber es war klar, dass er wusste, was Sache war. Nach einem kurzen Wortgefecht gab das Gericht dem Antrag des Geistlichen mit der Begründung statt, das Beichtgeheimnis gelte auch über den Tod des Beichtenden hinaus. Janak war die Aussageverweigerung des Zeugen insofern wichtig, als dadurch der Eindruck entstand, dass er etwas zu verbergen hatte. Er hoffte, dass dies auch die Geschworenen so sähen.
Auf Arams Aussage hin hatte Janak bei der Air France die Herausgabe der Buchungsunterlagen des Kurden beantragt, musste sich jedoch sagen lassen, dass dies infolge des üblichen bürokratischen Aufwands einige Zeit benötige. Daraufhin stellte er beim Richter einen Antrag, die Verhandlung zu vertagen. Dem Antrag wurde aber nicht stattgegeben.
Damit ging ein weiterer Verhandlungstag zu Ende. Doch für Janak und sein Team gab es bis zum nächsten Morgen noch einiges zu tun. Da Samuel wusste, wo Candice Hagopian und die Witwe wohnten, erbot er sich, ihnen eine gerichtliche Vorladung zu überbringen, die sie verpflichtete, zur Verhandlung zu erscheinen.
Marcel fuhr Samuel nach San Francisco zu einem Kostümverleih in der Nähe der Oper, wo sie einen schönen dreiteiligen Anzug und eine sehr natürlich aussehende schwarze Perücke ausliehen. Samuel wollte nämlich von Thaddeus Carlton, dem strengen Doorman, nicht erkannt werden. Er hoffte, wenn er nur seriös genug aussähe, würde ihn Carlton unbehelligt nach oben lassen. Dann kaufte er in seinem neuen Outfit einen Strauß Rosen.
»Richtig elegant siehst du aus, Samuel«, bemerkte Marcel anerkennend, als er Krawatte und Perücke seines Kollegen zurechtrückte. »So solltest du dich öfter in Schale werfen.«
Als Samuel klingelte, kam Thaddeus Carlton an die Tür und spähte durch das Gitter nach draußen, »Guten Tag, Mr. Hamilton. Schön, Sie wiederzusehen.« Er öffnete die Tür.
Samuel errötete, und seine Kopfhaut begann unter der Perücke zu jucken. »Ich wollte Mrs. Hagopian nur ein paar Blumen vorbeibringen. Könnte ich bitte kurz nach oben zu ihr?«
»Bedaure, Mr. Hamilton. Ich werde dafür sorgen, dass Mrs. Hagopian die Blumen erhält, aber ohne eine ausdrückliche Genehmigung Mrs. Hagopians darf ich Sie nicht nach oben lassen.« Carlton lächelte zwar, aber er hatte sich sehr aufrecht vor Samuel aufgepflanzt.
»Ich möchte sie doch nur ganz kurz sprechen«, sagte Samuel.
»Tut mir leid, Sir, kommt nicht in Frage. Ich kann ihr die Blumen gern nach oben bringen, wenn Sie das möchten, aber ansonsten muss ich Sie bitten, wiederzukommen, wenn Sie erwartet werden.« Samuel blieb keine andere Wahl, als wieder zu gehen.
Er kehrte zum Auto zurück, in dem der Fotograf wartete. »Marcel, du musst mir helfen. Kannst du mit der Vorladung hierbleiben und warten, bis Mrs. Hagopian das Haus verlässt? Dann überreichst du ihr die Vorladung. In der Zwischenzeit fahre ich in die Redaktion und schreibe meinen Artikel, und sobald ich fertig bin, komme ich wieder zurück.«
»Okay, aber bring mir ein Sandwich mit, wenn du wiederkommst.«
»Klar. Was möchtest du drauf haben?«
»Salami. Und ein Grace Brothers.«
»Ein Bier? Während der Arbeit?«
»Bist du meine Mutter?«
»Okay, bis später.« Samuel lief zur nächsten Bushaltestelle.
Als Samuel gegen neun Uhr abends wieder zurückkam, musste ihm Marcel berichten, dass er niemanden aus dem Haus hatte kommen sehen. Samuel reichte dem Fotografen ein Sandwich und ein Bier. Der Kaffee, den er für sich gekauft hatte, war inzwischen kalt. Sie warteten bis nach Mitternacht im Auto. Schließlich gaben sie auf und fuhren nach Hause, um sich schlafen zu legen. Morgen wartete ein anstrengender Tag auf sie.
Am nächsten Morgen erstattete Samuel zunächst Janak Bericht über seine erfolglosen Bemühungen. Janak dankte ihm und gab zu, sich von Anfang an keine großen Hoffnungen gemacht zu haben, an die Witwe oder die Schwester des Opfers heranzukommen. Er hatte sich bereits damit abgefunden, ohne ihre Unterstützung auskommen zu müssen.
Als die Verhandlung begann, rief Janak zwei amerikanische Deponiearbeiter in den Zeugenstand, die beobachtet hatten, wie Juan Ramos hinter den Wohnwagen ein Lasso nach El Turco, wie sie Nashwan Aram nannten, warf, als wollte er ihm zeigen, wie man damit ein Kalb einfing. Des Weiteren sagten sie aus, bei mehreren Gelegenheiten gesehen zu haben, wie Juan Ramos dem Kurden beibrachte, eine Schlinge zu knüpfen.
Daraufhin beantragte Janak, Aram noch einmal in den Zeugenstand zu rufen, aber der Kurde war spurlos verschwunden. Janak wusste, dass niemand anders als Deadeye selbst hinter Arams Verschwinden steckte, aber das nützte ihm nicht viel. Deshalb ersuchte er den Richter, die Geschworenen darauf hinzuweisen, dass Aram aufgefordert worden war, sich weiter für eine Befragung verfügbar zu halten, und dass seine Aussage, weil er sich der Anweisung des Gerichts widersetzt hatte, als ungültig zu betrachten sei. Der Richter rügte zwar den abwesenden Zeugen für sein Nichterscheinen, ging aber nicht so weit, auch seine Aussage aus dem Protokoll streichen zu lassen. Weil Janak keine weiteren Zeugen mehr hatte, die er hätte aufrufen können, übergab er an die Anklage.
Jetzt war Deadeye an der Reihe. Er rief einen Detective des Morddezernats Fresno in den Zeugenstand, einen dicken, rotgesichtigen Mann, der so stark schwitzte, als bekäme er jeden Moment einen Herzinfarkt. Der Stuhl im Zeugenstand ächzte unter seinem Gewicht, als er sich wie ein Mehlsack darauffallen ließ. Deadeye ließ sich volle zehn Minuten Zeit, um seinen Zeugen vorzustellen, bevor er endlich anfing, ihn auf seine aalglatte Tour einer Befragung zu unterziehen. »Sie haben in dem Mordfall Joseph Hagopian ermittelt, ist das richtig?«
Janak stürmte zum Zeugenstand und schob Deadeye beiseite. »Euer Ehren, diese Befragung steht in keinerlei Zusammenhang mit dem hier zu verhandelnden Fall. Ich möchte das Gericht an seine Verfügung erinnern, dass nichts von dem, was in Fresno geschehen ist, hier zur Sprache gebracht werden darf.«
»Zu welchem Zweck haben Sie den Zeugen aufgerufen, Mr. Graves?«, wandte sich der Richter fast genauso erbost wie Janak an den Ankläger.
»Um die Geschworenen darauf hinzuweisen, dass an beiden Straftaten dieselben Personen beteiligt waren, Euer Ehren«, entgegnete Deadeye herausfordernd.
»Ich habe genug gehört, Mr. Graves. Die Geschworenen sind entschuldigt. Und die Herren Anwälte kommen bitte mit der Protokollführerin ins Richterzimmer.«
Während die Geschworenen den Saal verließen, beschimpfte Janak den Ankläger als einen wortbrüchigen Dreckskerl, was einige Geschworene mitbekamen. Um sich bei ihnen lieb Kind zu machen, lächelte Deadeye und nahm ein paar Papiere von seinem Tisch, bevor er rasch zu der Tür im hinteren Teil des Saals ging, die ins Richterzimmer führte.
»Es muss einen Grund geben, warum er das getan hat. Das war mit Sicherheit kein Versehen. Er weiß etwas, was wir nicht wissen«, sagte Janak zu Asquith.
»Das hat bestimmt mit Aram zu tun«, meinte Samuel, der zu den beiden Verteidigern an die Anklagebank kam.
In diesem Moment öffnete der Gerichtsdiener die Tür neben der Richterbank und winkte Janak heran. Im Richterzimmer las der aufgebrachte Judge Pluplot Deadeye die Leviten und drohte ihm, das Verfahren für fehlerhaft geführt zu erklären. »Die Entscheidung bleibt Ihnen überlassen, Mr. Marachak. Mr. Graves hat gegen die Verfügungen des Gerichts verstoßen, indem er die Angelegenheit in Fresno zur Sprache gebracht hat. Wenn Sie den Prozess wegen fehlerhafter Führung eingestellt sehen wollen, können Sie das haben«, knurrte der Richter.
»Ich habe mir die Sache gut überlegt, Judge. Ich will keine Einstellung des Verfahrens, aber ich möchte in Anwesenheit der Geschworenen eine nachdrückliche Verurteilung von Mr. Graves' Vorgehen. Unter dieser Bedingung bin ich bereit, weiterzumachen.«
»Gut, ich werde den Geschworenen begreiflich machen, dass sie dieses Beweismaterial nicht berücksichtigen sollen. Mr. Graves, Sie melden sich nächsten Freitag bei mir und liefern mir eine Begründung, weshalb ich Sie nicht wegen Missachtung des Gerichts belangen sollte.«
Als das Gericht wieder zusammentrat, wies der Richter die Geschworenen mit Nachdruck darauf hin, dass sie jegliche Äußerungen über Fresno unberücksichtigt lassen sollten. Außerdem setzte er sie darüber in Kenntnis, dass dem Ankläger Graves eine strenge Rüge erteilt worden war, weil er versucht hatte, das Thema Fresno zur Sprache zu bringen, obwohl es nicht Teil des Verfahrens war. Im Anschluss daran entließ er die Geschworenen mit dem Hinweis, dass die Verhandlung am nächsten Tag fortgesetzt würde. Die Anwälte dagegen ersuchte er, noch zu bleiben, weil es Verschiedenes mit ihnen zu besprechen gebe.
Zufrieden, dass er den Geschworenen letztlich doch etwas von den nicht zugelassenen Beweisen zur Kenntnis gebracht hatte, nahm Deadeye Platz. Egal was der Richter auch sagen mochte, es ließ sich nicht mehr aus ihrer Erinnerung tilgen. Eines musste er diesem Marachak allerdings lassen. Der Kerl war gerissener, als er gedacht hatte.
Zu Beginn des nächsten Verhandlungstages ging Deadeye wortgewandt auf die zahlreichen Beweise ein, die die Angeklagten mit der Tat in Verbindung brachten. Er sprach eineinhalb Stunden, und zum Schluss erklärte er den Geschworenen, dass Narcio Padia und Juan Ramos eine ernsthafte Bedrohung für die Allgemeinheit darstellten, wenn ihnen gestattet würde, sich in Contra Costa County weiterhin frei zu bewegen.
Obwohl nach Deadeyes Plädoyer noch Zeit gewesen wäre, entließ der Richter die Geschworenen frühzeitig in die Mittagspause. Er wollte der Verteidigung ermöglichen, ihre Position ohne Unterbrechung vorzutragen. Als Janak schließlich am Nachmittag mit seinem Plädoyer begann, haftete seinem Auftreten etwas Unsicheres und Bedrücktes an. Das bereitete Samuel und Asquith Sorgen, weil dadurch der Eindruck entstand, als wäre Janak nicht restlos von der Unschuld seiner Mandanten überzeugt. Je länger er jedoch sprach, desto mehr kam er in Fahrt. Er zeigte schonungslos auf, auf welch tönernen Füßen die Beweisführung der Anklage stand, und prangerte unnachsichtig die Übertreibungen und Unstimmigkeiten der Zeugenaussagen an.
Deadeyes Erwiderung auf die Argumente der Verteidigung erwies sich als recht lustlos. In dem festen Glauben, die Geschworenen mit seinem Plädoyer bereits auf seine Seite gezogen zu haben, hielt es der Ankläger nicht für nötig, noch einmal gezielt auf konkrete Beweise wie die Fingerabdrücke und die Schlinge hinzuweisen, die Janaks Mandanten mit der Tat in Verbindung brachten.
Als die Anwälte ihre Plädoyers beendet hatten, ergriff der Richter das Wort: »Meine Damen und Herren Geschworenen, es ist nun meine Pflicht, Sie auf die Regeln des Verfahrens hinzuweisen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie alle zwölf einstimmig zu einer Entscheidung gelangen müssen, um ein Urteil fällen zu können. Sicher sind Sie sich auch des Umstands bewusst, dass in diesem Verfahren im Fall eines Schuldspruchs ein Todesurteil möglich ist. Deshalb müssen Sie, sollten Sie die Angeklagten für schuldig befinden, ohne jeden Zweifel davon überzeugt sein, dass die Angeklagten die Tat, deren sie beschuldigt werden, begangen haben. Darüber hinaus mache ich Sie auf Ersuchen beider Anwälte darauf aufmerksam, unter welchen Umständen der Tatbestand eines Totschlags gegeben ist, bei dem es sich um eine sogenannte geringfügigere Straftat handelt.«
Dies ließe auch dann noch eine Verurteilung zu, wenn die Geschworenen aus irgendeinem Grund zu der Ansicht gelangten, die Beweislage sei nicht zwingend genug. Und den Angeklagten würde die Todesstrafe erspart bleiben, auch wenn sie im Fall eines Schuldspruchs weiterhin mit langen Haftstrafen zu rechnen hatten.
Danach verlas Judge Pluplot die ausführlichen richterlichen Anweisungen. Als er damit fertig war, war es sechzehn Uhr. Er fragte die Geschworenen, ob sie, um das Verfahren zu beschleunigen, sofort mit ihren Beratungen beginnen wollten. Als sie zustimmend nickten, schickte sie der Richter mit dem gesamten Beweismaterial ins Geschworenenzimmer, von wo er sie bei Bedarf kurzfristig in den Gerichtssaal zurückbeordern konnte.
Janak und Asquith gingen mit Samuel in die Cafeteria. Deadeye zog sich in sein Büro zurück.
»Das ist immer die schlimmste Zeit für mich«, sagte Janak. »Das Warten, bis die Geschworenen zu einer Entscheidung kommen.« Er schritt nervös auf und ab und fasste immer wieder an die Narbe an seiner Wange. »Diese schreckliche Ungewissheit. Zu allem Überfluss fallen mir dann auch noch all die Dinge ein, auf die ich die Geschworenen hinzuweisen vergessen habe. Aber dafür ist es jetzt zu spät.«
»Mach dir da mal keine Sorgen, Janak«, tröstete Samuel den Anwalt. »Du hast getan, was du konntest.«
»Das ist in diesem Fall aber nicht genug. Das Einzige, was zählt, ist ein Freispruch.«
Eine Stunde, die eine Ewigkeit zu dauern schien, verging, bis endlich der Gerichtsdiener an die Tür kam und sagte: »Die Geschworenen sind zu einer Entscheidung gekommen.«
Janak wurde es gleichzeitig heiß und kalt, und er bekam feuchte Hände. Er sah Asquith und Samuel an. »So schnell sind die Geschworenen noch nie zu einer Entscheidung gekommen«, stieß er aufgeregt hervor.
Kurz darauf hatten die Anwälte ihre Plätze eingenommen. Der Richter bedeutete dem Gerichtsdiener, die Geschworenen zu holen. Als sie in den Saal kamen, sah Janak, dass der Geschworene, der bei der Auswahl der Kandidaten den konservativsten Eindruck gemacht hatte, die Urteilsformulare trug. Unter anderen Umständen hätte Janak den Mann abgelehnt, doch aus Angst, Deadeye würde die von ihm ausgewählten gemäßigten Geschworenen kippen, hatte er keinen Gebrauch von seiner letzten Ablehnungsmöglichkeit gemacht. Er sah Asquith besorgt an.
Als die Geschworenen Platz genommen hatten, fragte der Richter: »Sind die Geschworenen zu einer Entscheidung gekommen?«
»Ja, das sind wir, Euer Ehren«, antwortete ihr Sprecher.
»Würden Sie Ihren Schiedsspruch bitte der Protokollführerin überreichen?«
Der Sprecher der Geschworenen übergab das Dokument der Protokollführerin, die an die Richterbank trat und es Judge Pluplot reichte. Dieser las es durch und gab es wortlos an die Protokollführerin zurück, die sich daraufhin den Angeklagten zuwandte.
»Die Angeklagten mögen sich bitte erheben«, ordnete der Richter an.
Janak bedeutete seinen Mandanten, aufzustehen. Beide waren auffallend blass, als die Protokollführerin mit lauter und deutlicher Stimme den Spruch der Geschworenen verlas. »Wir, die Geschworenen in dem Verfahren das Volk des Staates Kalifornien gegen Narcio Padia, befinden den Angeklagten Narcio Padia in allen Anklagepunkten für nicht schuldig.«
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Wir, die Geschworenen in dem Verfahren das Volk des Staates Kalifornien gegen Juan Ramos, befinden den Angeklagten Juan Ramos in allen Anklagepunkten für nicht schuldig.«
In ungläubigem Staunen wandte sich Janak seinen beiden Mandanten zu und umarmte sie, und dazu stammelte er in holprigem Spanisch immer wieder: »Non culpable, non culpable.« Beide Angeklagten brachen in Tränen aus, als ihnen Janak erklärte, es stehe ihnen frei zu gehen, sie könnten von nun an nie mehr wegen dieser Anschuldigungen rechtlich belangt werden.
Deadeye vergrub das Gesicht in den Händen, dann schlich er sich wortlos aus dem Saal, bevor ihn die Reporter aufspüren konnten.
Gefolgt von der Meute der anderen Reporter, eilte Samuel nach der Bekanntgabe des Spruchs der Geschworenen aus dem Saal und gab die Meldung von einem Münztelefon aus an seine Redaktion durch.
Judge Lawrence Pluplot rief den Saal mit ein paar lauten Hammerschlägen zur Ordnung. Als endlich Ruhe eingekehrt war, dankte er den Geschworenen und entließ sie. Außerdem wies er sie darauf hin, dass er sich im kommenden Jahr erneut zur Wahl stellen werde und dass es ihnen von nun an freistehe, nach Belieben über den Fall und die Gerichtsverhandlung zu sprechen.
Der Sprecher der Geschworenen kam auf Janak zu. »Was den Kurden, diesen Aram, angeht, hatten Sie vollkommen recht. Dieser Mann schreckt offenbar vor nichts zurück. Mehrere Geschworene waren in der Cafeteria und haben mitbekommen, wie er dem Blinden Geld aus der Registrierkasse gestohlen hat. Danach war für uns klar: Jemandem, der zu so etwas fähig ist, ist auch zuzutrauen, dass er zwei Unschuldige in die Gaskammer schickt. Dieser Mann ist ein infamer Lügner und ein Dieb.«
»Ja, das war wirklich unglaublich«, bestätigte Janak und dankte den Geschworenen noch einmal für den gerechten Spruch der Jury.
Dann ging Janak zu Samuel und Asquith hinüber, um ihnen zu berichten, dass seine Mandanten den Freispruch nicht seinen Qualitäten als Anwalt zu verdanken hatten, sondern purem Glück – einige Geschworene hatten zufällig mitbekommen, wie Aram dem Blinden Geld gestohlen hatte, und dadurch hatte der Kurde als Zeuge jede Glaubwürdigkeit verloren.
»Dass er den Prozess verloren hat, hat Deadeye einzig und allein sich selbst zuzuschreiben«, flocht Asquith ein. »Er hätte sich in seiner Beweisführung auf keinen Fall auf einen solch unglaubwürdigen Zeugen stützen dürfen.«
»Ich glaube, sein Zeuge war mehr als nur ein bisschen unglaubwürdig«, sagte Samuel. Für ihn war der Fall noch keineswegs erledigt. Es gab noch zu viele offene Fragen. Deshalb ging er, nachdem die anderen das Gerichtsgebäude verlassen hatten, in das Sheriff's Bureau und sprach mit dem für die Ermittlungen zuständigen Deputy. Statt Samuel den Tathergang in allen Einzelheiten zu schildern, ließ er ihn, nur inoffiziell versteht sich, den Ermittlungsbericht lesen. Daraus ging hervor, dass sich vier Geschworene in der Cafeteria aufgehalten hatten, als Aram dort auftauchte. Sie saßen an einem der Tische und unterhielten sich. Normalerweise hätten die Geschworenen nicht weiter auf den Kurden geachtet, aber weil er in ihrem Prozess gerade als Zeuge ausgesagt hatte, schenkten sie ihm eine gewisse Aufmerksamkeit.
Vor allem der Sprecher der Geschworenen, dem Arams teure Kleidung aufgefallen war, behielt ihn scharf im Auge, als er sich in der Schlange an der Kasse anstellte, um zu bezahlen.
Als der Blinde alle Gäste abgefertigt hatte, wandte er sich, ohne sie zu schließen, von der Kasse ab, um die Regale aufzufüllen. Auf diesen Moment hatte Aram gewartet. Mit ein paar raschen Schritten war er an der offenen Kasse und begann, sich ihren Inhalt in die Hosentaschen zu stopfen. Als der Sprecher der Geschworenen das sah, sprang er laut schreiend auf und versuchte, Aram aufzuhalten. Doch der Kurde stürmte aus der Cafeteria und schaffte es, aus dem Gerichtsgebäude zu fliehen. Der Sprecher der Geschworenen hatte zwar zunächst seine Verfolgung aufgenommen, doch als es ihm nicht gelang, ihn einzuholen, kehrte er zurück und zeigte den Diebstahl im Sheriff's Bureau an. Dabei gab er auch die Namen der anderen Geschworenen an, die den Zwischenfall beobachtet hatten.
Nachdem Samuel den Ermittlungsbericht gelesen hatte, verfasste er unter Berufung auf zuverlässige Quellen einen vernichtenden Artikel.
Als er Janak Marachak erzählte, was er in Erfahrung gebracht hatte, schüttelte der Anwalt ungläubig den Kopf.
»So viel Glück hat man sonst eigentlich nie.«
»Und auch noch ausgerechnet dann, wenn man es am dringendsten braucht«, bestätigte Samuel.